Die Betrachtung der wirtschafts- u. sozialpolitischen Entwicklung in der DDR der 60er Jahre bis zum Wechsel an der Staatsspitze und die sich aus der verfehlten Wirtschaftspolitik von Günter Mittag entwickelnde Neuorientierung bis hin zur Formulierung der Idee der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" auf dem IX. Parteitag der SED im Mai 1976 stehen im Mittelpunkt der Arbeit.
Hätte die DDR bei einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik und einem Westdeutschland entsprechenden Lebensstandard heute noch existent sein können?
Wie konnte sich Anfang der 1970er Jahre die bemerkenswert marktwirtschaftliche Erkenntnis der "Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" in der politischen Führung der DDR durchsetzen und warum konnte die danach einsetzende erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung im "zweiten deutschen Staat" nicht fortgeführt werden?
Eine eindeutige Beantwortung dieser Fragen ist aufgrund des z. T. hypothetischen Charakters natürlich nicht möglich, jedoch erscheint eine intensive Auseinandersetzung mit der sozial- und wirtschaftspolitischen Vergangenheit der DDR lohnende Rückschlüsse auf die Gründe für den späteren Zusammenbruch des Staates zu ermöglichen.
Ausgehend von unterschiedlichen Definitionen der Aufgabe einer staatlichen Sozialpolitik vom deutschen Kaiserreich über die frühe Bundesrepublik bis in die DDR der Honecker-Ära befasst sich die Arbeit mit der theoretischen und praktischen Rolle der Sozialpolitik in der DDR und mit der wirtschaftlichen Entwicklung der 50er und 60er Jahre. Dabei stellt der Verfasser die theoretische Bedeutung und die Problematik einer "Sozialpolitik im Sozialismus" heraus und geht ausführlich auf die von Wolf-Rainer Leenen in einer Arbeit von 1977 geäußerten These ein, es habe in der DDR der 50er und 60er Jahre praktisch keine Sozialpolitik gegeben, welche diese Bezeichnung verdient gehabt hätte.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Zum methodischen Vorgehen und zur Terminologie
2. Die Sozialpolitik im Kapitalismus
3. Sozialpol iti k im Sozial i s mu s - Theorie und Praxis in der DDR
II Haugttei I
1. Die Sozialpolitik während der "antifaschistisch- demokratischen Umwälzung" (1945-1949) und der "Phase der Schaffung der Grundlagen des Sozialis- /-S mus" ( 1 949- 1960)
2. Die Sozialpolitik in der Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" (1961-1970) und die ideologische Wende ab Mitte der sechziger Jahre
3. ökonomische Probleme gegen Ende der sechziger Jahre
4. Die 14. Tagung des ZK und der VIII. Parteitag der SED
5. Die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der DDR nach dem VIII. Parteitag
III.Schluß
Zusammenfassende und ergänzende Betrachtungen
Anmerkungen
Literatur
Anlagen
I. Einleitung
1. Zum methodischen Vorgehen und zur Terminologie
Die sozialistische bzw. marxistisch-leninistische Ideologie, auf deren Grundlage die Existenz des Staates der DDR aufgebaut war, stellt für den n i c ht-marxi s t i s ch - 1 en i n istisehen Betrachter zunächst ein nicht zu unterschätzendes Hindernis auf dem Weg zu einer realistischen Analyse der DDR-Gesel1schaft dar. Laut Wolf-Rainer Leenen steht die marxistisch-leninistische Ideologie nicht nur der externen Analyse, sondern auch einer realistischen Selbsterfassung eines sozialistischen Systems durch dessen eigene Wissenschaftler im Wege 1
Aufgrund des aus heutiger Sicht bekannten Zusammenbruches der DDR als eigener Staatsorganisation ist diese letztere These Leenens zweifelsfrei empirisch belegt. Für die externe und jetzt im Bezug auf die DDR auch historische Analyse 1st es zunächst erforderlich, sich durch ein begrenztes Einlassen auf bzw. durch eine Beschäftigung mit dieser speziellen Ideologie eine annähernde Vorstellung von den besonderen Problemen zu verschaffen, mit denen ein externer und nicht der strengen Systemimmanenz folgenkönnender Betrachter konfrontiert ist. So beansprucht die sozialistische Ideologie beispielsweise, über die einzige Weltanschauung zu verfügen, die "die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung erfasst und ein praktisches Handeln ermöglicht, das sich in Übereinstimmung mit den ökonomischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten befindet"2 Aus diesem exklusiven Erkenntnisanspruch resultiert konsequenterweise nicht nur die angeblich wissenschaftlich fundierte Vorgabe von Ziel und Weg der Gesellschaft durch die die Arbeiterklasse führende Partei, sondern auch die Fähigkeit, den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand auf dem Weg zu diesem Ziel, der klassenlosen Gesellschaft mit der 3 Bezeichnung "Kommunismus" , bestimmen zu können 4.
Weitere methodische Probleme im Umgang mit Quellen und Sekundärliteratur aus der DDR ergeben sich durch die stark hervorgehobene Rolle der sog. "Arbeiterklasse", zu welcher in amtlichen Statistiken der DDR immer die Angestellten und z.T. auch Angehörige der "Intelligenz", z.B. Parteifunktionäre gezählt werden 5. Dadurch wird das Bild einer extrem homogenen Gesellschaft vorgegeben, die zu nahezu 90 Prozent aus Angehörigen der "Arbeiter- und Angestelltenklasse" be- steht6. Die hier stattgefundene Anpassung empirischer Befunde an die der Gese11 s ch aftsordung zugrundeliegende marxistischleninistische Ideologie 1st charakteristisch für alle systemimmanente Analysen. Gesellschaftliche Fakten sind "ideologisch verfremdet" 7, Konflikte und neuralgische Punkte werden in der Darstellung bewußt ausgespart bzw. derartig beschönigt, daß sie für den Leser nur noch andeutungsweise oder "zwischen den Zeilen" erkennbar sind 8.
Trotzdem soll im Folgenden versucht werden, das Prinzip der Systemimmanenz soweit wie möglich, d.h. unter Berücksichtigung der dem System zugrundeliegenden Ideologie, zu realisieren.
Dazu gehört ebenso die Verwendung der systemtypischen Terminologie, soweit diese nicht als absolut unzeitgemäß und damit unpassend zur Beschreibung einer heutigen industrialisierten Gesellschaft abgelehnt werden muß9 Spezielle sozialistische Terminologie im wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich wird unter Hinweis auf die in der westlichen Industriegesellschaft üblichen Synonyme verwendet.
2. Die Sozialpolitik im Kapitalismus
In der westlichen Industrie- und Wertegesellschaft wird unter der Bezeichnung "Sozialpolitik" die "Gesamtheit an Handlungen zur Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens nach Maßgabe bestimmter Wer tvor s te 11 ungen 10 verstanden. Diese neuere Definition des Begriffes im weiteren Sinn beinhaltet die Möglichkeit, je nach politischer und wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit zu entscheiden, welche Gebiete in die Sozialpolitik einbezogen bzw. welche herausgelassen werden sollen.
Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung staatlicher Sozialpolitik, die in Deutschland durch das "Preußische Regulativ" von 1839 11 ihren Anfang nahm, erfolgte eine Verlagerung weg von einem Verständnis des Begriffes im engeren Sinn bis hin zu der o.g. weiten Definition. Diese Entwicklung hin auf ein Verständnis von Sozialpolitik als "Gesellschaftspolitik", d.h. einer Politik, die über unmittelbare wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen hinaus - z.B. durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Berufswarnungen, -beratung und -Umschulungen - Einfluß auf die Gesellschaftsstrukturen nimmt, findet laut Geigant u.a.12 auch in der heutigen Zeit noch ihren Fortgang.
Die klassische Definition des Begriffes im engeren Sinn beschränkt sich dagegen auf die sogenannte "fremdbestimmte Arbeit". "Nicht das Verhältnis aller Gruppen zueinander und zum Staate wurde als Gegenstand der Sozialpolitik angesehen, sondern ein Bereich von Fragen, der sich aus der besonderen Lage der Arbeitnehmergruppen ergab, d.h. solcher Gruppen, deren Angehörige nach Maßgabe von Weisungen ihrer Vertragspartner Arbeit zu leisten aufgrund freien Vertrages verpflichtet und aufgrund relativer wirtschaftlicher Schwäche gezwungen sind.13 Dieses in der Bundesrepublik bis in die fünfziger Jahre weitverbreitete Verständnis von Sozialpolitik bedeutet neben einer außerordentlichen Einengung des Begriffes auch eine weitgehende Übereinstimmung mit dem sozialistischen Verständnis. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Kerngedanke der sozialistischen Utopie, stellt zweifellos den Ursprung jeder Art von Sozialpolitik dar 14. Diese "Gerechtigkeit", verstanden als annähernde Gleichheit der Lebensverhältnisse, stellt eine der zentralen Forderungen der Französischen Revolution dar 15 und ist damit zunächst eine bürgerlich-liberale und keine sozialistische Idee .
Eine andere Errungenschaft derselben Revolution, die allgemein umgehend anerkannte formale Freiheit, geriet zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet im Laufe der Zeit in einen immer stärkeren Gegensatz zu dieser Gleichheit im Sinne von Gerechtigkeit: die Ausbeutung und Ausnutzung derjenigen, die in der sich schnellentwickelnden industrialisierten Gesellschaft ausser ihrer physischen Arbeitskraft nichts zu verkaufen hatten, stieg in der völlig unregulierten "freien" Wirtschaftsordnung rapide an. Diese sich entwickelnde Zwei-Klassen-Gesel1schaft, die sich schnell vergrößernde wirtschaftliche und gesundheitliche Differenz zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern bi1 - deteim Laufe des 19. Jaihrhunderts eine ständige Gefährdung für den Frieden innerhalb der Gesellschaft. Es entstand eine soziale Sprengkraft im Zuge der nach der Französischen Revolution einsetzenden Industrialisierung, die in ihrem Umfang von den meisten Regierungen der Periode eklatant unterschätzt worden ist.
Trotzdem ist fe stzuh a 1 ten, daß in diesem Zeitabschnitt 16 die drohenden Gefahren, z.B. für die Wehrfähigkeit des Staates, die Schulbildung oder die Unternehmer und deren Kapital ganz ^ allgemein, durchaus erkannt wurden und auch Aktivitäten der Regierungen auslösten. Doch zumeist blieb es bei einzelnen Maßnahmen, die nur Stückwerk bilden konnten. Erste systematische Gesetzgebungsmaßnahmen erfolgten in England in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter B. Disraeli und im Deutschen Reich in den achtziger Jahren unter 0. v. Bismarck 16 a.
Die Tatsache, daß die Sozialpolitik im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang von konservativen Politikern vorangetrieben worden ist, bestätigt die These von Huyele, wonach die Träger von Sozialpolitik 17 durch ihre Bestrebungen und Maßnahmen das Gesellschaftsgefüge dahingehend beeinflussen wollen, daß eine Gefährdung der Beständigkeit dieses Gefüges durch eine existenzielle Gefährdung wirtschaftlich schwacher Schichten so weit wie möglich ausgeschlossen wirď 18 Auch die heutige enge Begriffsdefinition orientiert sich an dieser traditionellen Zielsetzung. Danach ist Sozialpolitik zu verstehen als "Planung und Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenslage gesellschaftlich schwacher und schutzbedürftiger Personengruppen .19 Der Sinn und Zweck einer solchen sich auf Einzelmaßnahmen konzentrierenden Politik dürfte auch heute noch treffend mit den Worten G. Schmollers aus seiner Eröffnungsrede zur Gründung des "Vereins für Sozialpolitik" von 1872 zu umschreiben sein: "Unser Anliegen besteht darin, im Interesse der politischen und ökonomischen Stabilisierung der herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse und angesichts der unübersehbaren sozialen Mißstände der deutlich genug drohenden sozialen Revolution ein Programm...entgegenzusetzen.20 Es ist also nicht falsch zu behaupten, daß es bei einem derartig eingegrenzten Sozialpolitikbegriff um die Bewahrung bestimmter Gesellschaftsstrukturen in einem gewissen Rahmen geht. Dabei muß allerdings festgestellt werden, daß im Unterschied zu Schmollers Feststellung von 1872 heute die unmittelbare Gefahr einer drohenden sozialen Revolution in der Bundesrepublik nicht besteht.
Im Hinblick auf diese bewahrende Zielsetzung, die Sozialpolitik beinhalten kann, ist die Definition von G. Winkler aus sozialistischem Blickwinkel nicht abwegig. Er definiert die Sozialpolitik im Kapitalismus als "Mittel, die sozialen Bindungen und Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, ..., zu regulieren und ... die Klassenauseinandersetzungen zu dämpfen sowie die Arbeiterklasse an das kapitalistische System zu binden." Im Weiteren behauptet er, Sozialpolitik im Kapitalismus sei "ein Konglomerat aus widerstreitenden Interessen , und objektiven Zwängen." In einer kapitalistischen Gesellschaft könne es keine einheitliche Sozialpolitik geben, und ebenso- weniq verzichte der Staat darauf, im Interesse der herrschen- den Klasse" Sozialpolitik zu betreiben 21
Abgesehen von der zweifelhaften Behauptung, in einer kapitalistischen Gesellschaft könne es keine einheitliche Sozialpolitik geben, ist diese Sichtweise durchaus akzeptabel, soweit hierbei an die traditionelle Bedeutung von Sozialpolitik gedacht wird. Im Blick auf die ständige Ausweitung des sozialpolitischen Aufgabenbereichs, die bereits in der Anfangsphase der Existenz der Bundesrepublik beginnt, muß eine derartige Beschreibung jedoch nicht nur als veraltet, sondern auch als unzutreffend angesehen werden. Sozialpolitik wird in der heutigen Bundesrepublik nicht mehr primär 1 ip Interesse und zwecks Erhaltung einer "herrschenden Kl asse" 22 betrieben, sondern mit dem Ziel der Gewinnung einer wirtschaftlich relativ homogenen Gesellschaft, in der jedem Mitglied die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins und möglichst weiträumiger individueller Entfaltung geboten werden soll. Dies schließt einzelne ( soi-ia 1 T-JpoJ i ti sehe Maßnahmen, die im Hinblick auf anstehende Wahlen und damit zwecks Machterhalt zum Vorteil einzelner Gruppen erlassen werden, nicht aus.
3. Sozialpol iti k im Sozial i s mu s - Theorie und Praxis in der DDR
Das Verständnis von Sinn und Zweck einer Sozialpolitik in der sozialistischen Gesellschaft ist gekennzeichnet von starken Differenzen zwischen Theorie und Praxis als auch zwischen einzelnen Zeitabschnitten innerhalb der Entwicklung der DDR.
Nach der Theorie von Marx und Engels ergibt sich die Ansicht, daß in der kommunistischen Gesellschaft, in der das Verteilungsprinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen23 Anwendung finden soll, sich Sozialpolitik erübrigt. Aus dieser Vorstellung heraus ergibt sich natürlich die Frage, inwieweit eine Sozialpolitik in der dem Kommunismus unmittelbar vorangehenden Epoche des Sozialismus erforderlich ist, und inwiefern sich diese "Sozialpolitik im Sozialismus" - falls sie denn erforderlich wäre - von derjenigen der dem Sozialismus vorhergehenden Gesellschaftsformation unterscheiden würde. Die durch diese Fragen dargestellte Problematik soll im Folgenden am Beispiel der Entwicklung des Sozialpolitikbegriffes in der DDR behandelt werden. Der Gegensatz zwischen dem klassischen Verständnis von "sozialer Politik" im Sinne von Marx und Engels und den praktischen Problemen, die sich während der realen Existenz eines "sozialistischen Systems" in der DDR ergaben, ist charakteristisch für das Verständnis von Sozialpolitik in der gesamten Existenzzeit der DDR. Er ergibt sich aus dem Verständnis des Sozialismus als Übergangsphase zwischen dem (überwundenen) Kapitalismus und dem (utopischen) Kommunismus. Je mehr man sich dem Kommunismus annähert, desto weniger müßte sich in der Theorie, die Notwendigkeit einer Sozialpolitik ergeben. Diese Überlegung wird auch von Winkler bestätigt, indem er feststellt, daß für die Klassiker des Marxismus-Leninismus die Lösung der sozialen Frage im Sinne der Mission der Arbeiterklasse eine langfristige Aufgabe sei, welche über mehrere Reifestufen führe, und die letztlich erst im Kommunismus erreicht sein werde 24.
Für Engels dagegen ergab sich diese "Lösung der sozialen Frage" bereits durch die Abschaffung der kapitalistischen (izfzlfz ) Produktionsweise, wie sich aus se i ner)/Arbe i t "Zur Wohnungsfrage 25 ergibt. Der Sieg der sozialistischen Produktionsweise war in der DDR aber nach eigenen Definitionen 26 bereits zu Beginn der sechziger Jahre mit dem Eintritt in die Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" 27 erreicht. Trotzdem ergab sich in der DDR keine Reduktion der Bedeutung der Sozialpolitik, sondern ab Mitte der sechziger Jahre das genaue Gegenteil: sie fand zunehmend Anerkennung auch von offizieller Seite und damit auch entsprechende Beachtung im wissenschaftlichen Be re i c h·28 Diese zunehmende Bedeutung der Sozialpolitik fand ihren Höhepunkt in der Gleichsetzung mit der Wirtschaftspolitik, die seit dem IX . Parteitag der SED (197£) in Form der Idee von der "Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" verfolgt würde.
Nach der Definition von Winkler ist Sozialpolitik "die Politik zur Gestaltung sozialer Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Klassen, Schichten, sozialen und sozi a 1demogг a- phischen Gruppen"29. Sie soll soziale Sicherheit für die Angehörigen aller Klassen, Schichten und sozialen Gruppen gewährleisten und ausbauen sowie eine stetige Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Einzelnen und seiner Familie sichern 30. Übereinstimmungen mit der neueren Definition in der westlichen Gesellschaft, mit dem Verständnis von Sozialpolitik als "Gesellschaftspolitik", sind hierbei offensichtlich vorhanden. Der umfassende Anspruch, der auch von der sozialistischen Sozialpolitik erhoben wird, wird deutlich in Winklers Ablehnung einer engen Begrenzung auf eine Politik zum Schutz vor den Not- und Wechse1 fä11 en des Lebens. Dieses wäre keine Sozialpolitik, sondern lediglich Sozialfür-, sorge. Aus seiner Sicht "orientierte sich die Sozialpolitik (in der DDR) 31 stets an den Interessen der Bürger, sei es zur Überwindung von Armut, Obdachlosigkeit und Hunger nach 1945, sei es durch die Schaffung grundlegender Bedingungen sozialer Sicherheit in den fünfziger und sechziger Jahren oder in einer mit dem Wirtschaftswachstum unmittelbar verbundenen Politik der Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus seit Beginn der siebziger Jahre."32 Die hier implizierte Kontinuität einer offiziellen staatlichen Sozialpolitik hat es, wie im Folgenden noch ausgeführt werden soll, aber nicht gegeben.
Das bereits angedeutete Dilemma sozialistischer Sozialpolitik in der DDR ist gekennzeichnet durch die Notwendigkeit einer Abgrenzung von der vor 1945 in Deutschland betriebenen kapitalistischen Sozialpolitik einerseits und der praktischen Einsicht in die Tatsache, daß sich soziale Probleme auch in einem sozialistischen System ergeben und diese nicht bis zum nicht festlegbaren Zeitpunkt des Erreichens der kommunistischen Gesellschaft aufgeschoben werden können. H. Ulbricht spricht in diesem Zusammenhang von Vorbehalten und Ablehnung des Begriffes "Sozialpolitik" in der frühen Phase der DDR. Diese Ablehnung resultiere aus der Rolle der Sozialpolitik im Kapitalismus-33 Das aus dieser Ablehnung heraus entstandene Legitimationsdefizit für das Betreiben einer offiziellen Sozialpolitik verhinderte bis zum Ende der sechziger Jahre erfolgreich das Entstehen einer solchen Politik. Diese Tatsache bedeutet allerdings nicht, daß in der vorherigen Zeit keinerlei sozialpolitische Maßnahmen ergriffen worden wären. Diese beschränkten sich aber auf solche Probleme, die als systemunabhängig angesehen wurden34
Die ideologischen Barrieren, die der Sozialpolitik insbesondere in der DDR der fünfziger Jahre entgegenstanden, waren derart übermächtig, daß eine praktische Politik unter[1]- Beachtung politischer und ökonomischer Zwänge sich nur in Ansätzen entwickeln konnte. Für die zumeist in Moskau marxistisch-leninistisch geschulten Machthaber der frühen DDR war eine Sozialpolitik überflüssig, weil ihr Hauptobjekt - die Arbeiterklasse bzw. das Proletariat - im Sozialismus nicht mehr ihre Arbeitskraft zu fremdbestimmten Leistungen verkaufen muß. Daher 1st der Arbeiter auch nicht mehr einer Fülle von Risiken schutzlos ausgeliefert. Im Sozialismus erringt die Arbeiterklasse selbst die Herrschaft; Eigentümer und Produzent einer Ware sind identisch 35. Des Weiteren kann mach marxistisch-leninistischem Verständnis Sozialpolitik nicht zur Lösung von Klassen- und Schichtproblemen dienen. Sie kann nur Stückwerk sein und daher soziale Gegensätze nicht besei- tigen36. Aus dieser Sichtweise wird die besondere Problematik, mit welcher der Begriff der "sozialistischen Sozialpolitik" verbunden ist, deutlich erkennbar: wenn nämlich die Sozialpolitik in der Lage wäre, eine Nivellierung unterschiedlicher Klassen und Schichten zu erreichen und soziale Gegensätze zu beseitigen bzw. zu verringern, dann wäre im Umkehrschluß die marxistische Ideologie bzw. der Sozialismus überflüssig. Die sich aus dieser Erkenntnis unmittelbar ableitende Gefährdung der Existenz der sozialistischen Ideologie muß letztendlich zur Ablehnung einer Sozialpolitik im Sozialismus führen. Da insbesondere in der Anfangsphase der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren Existenz als unabhängiger Staat neben demjenigen der Bundesrepublik keineswegs gesichert war, 1st eine starke Verdrängung des Begriffes der Sozialpolitik für diesen Zeitabschnitt sehr verständlich.
Nach Leenen kann dieser Zeitabschnitt in drei Phasen unterteilt werder 37 · Von 1949 bis ca. 1957/58 gab es eine "Phase der Verdrängung'". Sozialpolitik wurde in diesem Zeitraum zumeist als "unsozialistisch", also als unvereinbar mit einem offiziell im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie regierten Staatswesen angesehen. Die Existenz einer praktischen Sozialpolitik wurde verschwiegen und der Begriff im offiziellen Sprachgebrauch gemieden. Nach den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus muß-fe Sozialpolitik als Pleonasmus aufgefasst werden, weil das Prinzip der Sorge um den Menschen im Sozialismus in jedem Fall eine zu bewältigende Hauptaufgabe darstellt. Wie H. Ulbricht schreibt, wurde "die Notwendigkeit oder auch die Existenz einer sozialistischen Sozialpolitik verneint, obwohl ihre praktische Handhabung seit Kriegsende . das Gegenteil bewies." 38 Trotz des Betreibens eigener Sozialpolitik in der Praxis wurde die Sozialpolitik im Kapitalismus, d.h. insbesondere in der benachbarten BRD, von offizieller Seite weiterhin als "Herumf11ckerei" und "Almosenvergäbe" d i skreditiert.
In der nachfolgenden "Phase der Anpassung'^, die von 1957/ 58 bis ca. 1964/67 dauerte, setzte sich allmählich die Einsicht in die Möglichkeit systemunabhängig entstehender sozialer Pro- blemfälle durch. Einzelne Schicksalsschläge wie Tod des Ernährers einer Familie, Unfall oder auch die biologisch vorgegebene Konstitution von Frauen und Jugendlichen, die bei körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten zu Benachteiligungen führen, konnten nicht länger unberücksichtigt bleiben, selbst wenn sich diese Problemfälle eines Tages in der kommunistischen Idea 1gese11schaft "automatisch" lösen würden. Oie Existenz einer "Sozialpolitik im Sozialismus" wurde off 1 ziel 1 wahrgenommen und als erforderlich anerkannt, sofern sich diese Politik auf die Bekämpfung systemunabhängiger Schwächen bezog
Weiterhin wurdeein der Sozialpolitik im Kapitalismus ähnliches Verständnis jedoch strikt abgelehnt. Die Sozialpolitik der BRD wwrdeals "Instrument zur Ablenkung der Werktätigen von ihren Klasseninteressen" bzw. als "Tarnmittel bei der Unterdrückung der Werktätigen 39 verunglimpft. Der deutliche wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundenen stark verbessertet! Lebensbedingungen, die die westdeutsche Gesell- sPllaft seit spätestens den sechziger Jahren kenn ze i chne+/ sowie die damit einhergehenden Abschwächungen traditioneller Klassengegensätze wurden im Osten Deutschlands offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen.
Die erstmalige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem einer "sozialistischen Sozialpolitik" erfolgte durch Helga Ulbrichts Habilitationsschrift von 1965 40 Der in den Jahren 1964 bis 1967 einsetzende Umschwung hin zu einem "Aufbau theoretischer und Institutioneller Grundlagen einer sozialistischen Sozi al pol 1 tik 41 welcher eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Veränderung im Selbstverständnis des sozialistischen Staates voraussetzt, wurde ermöglicht durch die erfolgreiche Stabilisierung des Staates, welche nach 1961 durch den Bau der Mauer in Berlin einsetzte. Diese Stabilisierung war nicht nur eine wichtige Voraussetzung für alle seit Beginn der siebziger Jahre folgenden Verträge mit der BRD, sondern auch ftfr innere Wandlungen des sozialistischen Staates. Die Phase der ständigen Ungewissheit über die dauerhafte Existenz der DDR, Kennzeichen der fünfziger Jahre, schien mit der Bewältigung der innen- und außenpolitischen Krisen von 1953, 1956 und 1961 endgültig überwunden zu sein.
Da die Existenz einer staatlichen Sozialpolitik eine gestörte gesellschaftliche Ordnung voraussetzt, ist mit dem Betreiben einer solchen Politik zunächst die Anerkennung dieser Störung verbunden. Diese Anerkennung erfolgte in dem genannten Zeitraum der Vorbereitung des VII. Parteitages (1967).
In einem 1969 veröffentlichten Artikel der Forschungsgruppe Sozialpolitik an der Gewerkschaftshochschule des FDGB, die von Gerhard Tietze geleitet wurde, wird diese Möglichkeit der Störung der gesellschaftlichen Ordnung folgendermaßen auch dem sozialistischen System zugestanden: falls der Sozialismus (noch) nicht das durch den marxistischen Entwurf vorgegebene Idealmodell erreicht haben sollte, könnten u. U. gesellschaftliche Z i e 1konf1 i к te auftreten - so beispielsweise zwischen sozialer und ökonomischer Zielsetzung einer Gesellschaft -, die einer bewußten politischen Steuerung bedürften 42.
Neben der genannten Forschungsgruppe unter G. Tietze, die der Sektion Wirtschafts- und Sozialpolitik zugeordnet war , entstandenin dieser Zeit vor dem VII. Parteitag weitere wissenschaftliche Institutionen, die sich mit der Sozialpolitik in der sozialistischen Gesellschaft beschäftigfen 43.
Der VII. Parteitag brachtediese Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluß. W. Ulbricht ging in seinem Hauptreferat am 17.04.67 direkt auf die Aufgabe der Sozialpolitik im Sozialismus ein: "Unsere Sozialpolitik ist Ausdruck der gesellschaftlichen Sorge um den Menschen. Sie hat die Aufgabe, solche Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen, die der Entwicklung aller Bürger und der Erhaltung und Förderung der Arbeitskraft dienen. In der Sozialpolitik unserer Gesellschaft spiegelt sich die Entwicklung echter Solidarität aller ihrer Mitglieder wider. Sie kann deshalb nicht nur Sache des Staates sein, sondern muß immer mehr auch zu einem Anliegen der Ar- beitskol lekti ve und jedes. Bürgers werden."44 Der hier angeführte Zweck der Erhaltung und Förderung der Arbeitskraft weist auf eine der traditionellen Aufgaben der Sozialpolitik hin, die bis zum Kapitalismus im 19. Jahrhundert zurück reicht. Neben dem Ziel der Auf rechterha1tung der physischen und psy- chischen Gesundheit der Bevölkerung aus militärischen Überlegungen heraus spielte die Erhaltung und der Ausbau der staatlichen Wirtschaftskraft immer eine gleichrangige Rolle für die Begründung einer Sozialpolitik im Kapitalismus 45
In einer Rede vom 12.09.67 entwi ekel te. W. Ulbricht These, daß "der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbstständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab." 46 Diese neue Interpretation der Theorie von Marx beinhalteteeine neuartige Bewertung von Dauer und Bedeutung г-n der "Übergangsphase des Sozialismus", welche auch Auswirkungen auf die Bedeutung der Sozialpolitik in dieser Gesellschaft haben mußte. Je länger die "Übergangsphase" nämlich andauern würde, desto weniger könnte ein Hinausschieben einer "Politik des Ausgleichs bestehender Ungerechtigkeiten" geduldet werden. Die Sozialpolitik wurde damit zu einem "grundlegenden Bedürfnis" auch in der sozialistischen Gesellschaftsformation.
Ulbrichts neue Interpretation von 1967 wurde zwar auf dem folgenden Parteitag von 1971, der bereits unter E. Honeckers Vorherrschaft stand, zu-rückgewi e sen 47 die Legitimation der Sozialpolitik in der DDR konnte hierdurch aber nicht mehr gefährdet werden! 48
II Haugttei I
1. Die Sozialpolitik während der "antifaschistisch- demokratischen Umwälzung" (1945-1949) und der "Phase der Schaffung der Grundlagen des Sozialis- /-S mus" ( 1 949- 1960)
Trotz der dargestellten ideologischen Problematik einer "Sozialpolitik im Sozialismus" und trotz der insbesondere in den fünfziger Jahren in der DDR stattgefundenen Verdrängung der Problematik lassen sich für die frühe Phase der Existenz des ostdeutschen Staates und besonders für die Jahre unmittelbar vor der Staatsgründung einzelne Veranstaltungen oder Beschlüsse nachweisen, worin Sozialpolitik betrieben und auch benannt worden ist. H. Ulbricht stützt sich in ihrer genannten Arbeit 49 auf zwei Belege, welche sie als Nachweis dafür anführt, daß der Begriff "Sozialpolitik" auch in der frühen Phase der DDR bereits offizielle Verwendung fand. Es sind dies die "Sozialpolitischen Richtlinien", beschlossen vom ZK der SED als "grundlegendes Programm für die Sozialpolitik" änr 30.12 . 1946 50 sowie eine Randbemerkung 0. Grotewohls auf der Leipziger Konferenz der Sozialversicherung von 1951. Diese sehr dürftige Belegung bezeichnet Leenen als "mißglückten Versuch" und als "treffende Kennzeichnung de sAy,.sirias ses der Verdrängung des Begriffes der Sozialpolitik" 51
Aus der heutigen Sicht erscheint in diesem Zusammenhang eine Differenzierung zwischen der Frühphase der Existenz der DDR und den unmittelbar davor liegenden Jahren 1945 bis 1949, die hier als die "Phase der sowjetischen Besatzung" (SBZ) bezeichnet werden sollen, als sinnvoll. In dieser "Vor-DDR-Zeit" hat es im unmittelbaren Vergleich mit der nachfolgenden Phase der frühen DDR der fünfziger Jahre zweifellos nicht nur wesentlich mehr sozialpolitische Einzelmaßnahmen, sondern auch eine verstärkte theoretische Beschäftigung mit dem Thema "Sozialpolitik" gegeben. Die Gründe hierfür dürften einerseits in der in den Jahren unmittelbar nach dem Kriegsende vorherrschenden allgemeinen Notlage der Bevölkerungsmehrheit sowie andererseits in der relativen Pluralität der damaligen SBZ 51 a zu finden sein. Die späteren Blockparteien CDU und LDPD erließen in dieser Zeit eigene Grundsätze und Stellungnahmen zur Sozialpolitik und ihrer Aufgaben. So nennt die LDPD bereits am 05.07.1945 in ihrem Gründungsprogramm die "Schaffung wahrer sozialer Gesinnung" als ein wichtiges Ziel der künftigen Gesellschaftsordnung 52. In ihrem dara*f folgenden Programm vom 28.02.1949 widmet sie bereits ein ganzes Kapitel der "Sozial- und Wirtschaftsordnung" des in absehbarer Zeit entstehnden neuen deutschen Staates. Unter III. schreibt sie: "Aufgabe des demokratischen Liberalismus auf dem Gebiete der Wirtschaft ist die Verwirklichung des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit. Mittelpunkt jedes sinnvollen Zusammenwirkens von Kapital und Arbeit ist der Mensch. Die Ausbeutung seiner Arbeitskraft verletzt die Grundrechte des Menschen. Sie begegnet dem gleichen Widerstand der Libera 1 demokratischen Partei wie der Klassenkampf.“ 53
Die CDU weist in ihrer Entschließung vom 17.06.1946 der öffentlichen Wirtschaftslenkung folgende Aufgaben zu: "...dauerhafte, billige und gleichmäßige Versorgung des ganzen Volkes mit den vordringlichen Massengütern der Ernährung und Bekleidung und des Hausrats, die Beschaffung gesunder Wohnungen und die Vollbeschäftigung aller Arbeitsfähigen sowie vor allem auch die pflegliche Nutzung des Landes, der Bodenschätze und anderer Rohstoffe."54 In den Grundsätzen der CDU zur Sozialpolitik wird im Juni 1948 unter Punkt 7 folgende Forderung erhoben: "Bei der Lösung der sozialen Aufgaben sollen vier Kräfte sinnvoll Zusammenarbeiten: der Rechtsstaat durch Gestaltung einer fortschrittlichen sozialen Gesetzgebung, die Sozialversicherung durch planmäßige allgemeine Vorsorge, die Gewerkschaften durch Entfaltung der Initiative der Arbeiterschaft und die soziale Fürsorge einschließlich der freien Liebestätigkeit durch Ergänzung der Lücken in der allgemeinen Vorsorge."55
Auch in den während dieser-Zeit entstandenen Landesverfassungen war der im Vergleich zu den "sozialistischen" Parteien 56 ungefähr ebenbürtige Einfluß "bürgerlicher" Parteien 57 erkennbar; so konnte beispielsweise in der sächsischen Verfassung vom 28.02.1947 das sozialistische Urziel sozialer Gerechtigkeit ohne Rücksicht auf eventuelle ideologische Probleme im Rahmen des Se 1bst verständnisses der SED verankert werden: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdi gen Daseins für alle entsprechen.58
über die von Helga Ulbricht genannten "Sozialpolitischen Richtl i ni en"59 hinaus fand in diesem Zeitabschnitt aber auch in der SED eine weitere Beschäftigung mit dem Thema "Sozialpolitik" statt. Die ideologische Problematik, die im folgenden Jahrzehnt dann zu einer fast vollständigen Vernachlässigung des Themas im offiziellen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch der DDR führte, wird bereits im "Entwurf zu einem sozialpolitischen Programm der SED" vom 26.08.1946 deutlich: "Für die SED ist die Sozialpolitik im Rahmen ihrer Gesamtpolitik der Kampf gegen die Schädigungen, die die kapitalistische Produktionsweise dem Volkskörper zufügt, und einer der Hebel, mit denen die wirtschaftliche und politische Entwicklung gefördert wird. Die Sozialpolitik kann aber an dem Charakter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nichts Entscheidendes ändern, denn sie kann deren besondere Kennzeichen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen vermittels der ihr eigentümlichen Produktionsweise, nicht aus der Welt sc ha ffen.60
Wie aus diesem Zitat ersichtlich 1st, wird die Sozialpolitik zwar einerseits als Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung einer Gesellschaft anerkannt, gleichzeitig wird ihre Aufgabe aber eng eingegrenzt: sie wird als Mittel im Kampf gegen "Schädigungen " éingesetzt, welche nach Ansicht der SED nur im Rahmen einer kapitalistischen Produktionsweise entstehen können. Nach diesem Selbstverständnis ist eine Sozialpolitik in einem sozialistischen Staat lediglich als ein "Ausgleichsinstrument" während der Übergangsphase von der kapitalistischen zur kommunistischen Produktionsweise erforderlich. Wenn mit dem "Sieg der sozialistischen - Produktionsverhältnisse", d.h. der Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel, die Grundlagen des Sozialismus errichtet sind, ist das weitere Betreiben einer eigenständigen Sozialpolitik - ebenso wie eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema - nicht mehr erforderlich. Diese Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus wurde laut verschiedener DDR-interner Beurteilungen 61 zu Beginn der sechziger Jahre in der DDR zum Abschluß gebracht. Bezeichnend für dieses Se 1bstverständnis vom Eintritt in einen neuen Entwick- lungs abschnitt ist die Einleitung des auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 beschlossenen Parteiprogramms, worin festgestellt wird: "Die Deutsche Demokratische Republik ist in dieses neue, das sozialistische Zeitalter in Deutschland bereits eingetre tenDie großen Reichtümer, alle wichtigen Produktionsmittel, die Fabriken, Werke und Eisenbahnen, die Bodenschätze, die Felder, Gewässer und Wälder gehören dem Volk, das sie erschließt und mit ihnen arbeitet 62
Die Ansicht, eine Sozialpolitik im Sozialismus sei nicht nur entbehrlich, sondern sogar unvereinbar mit diesem, hatte.sich also bereits in den ersten Monaten nach der Grün- ^ dung der SED in der Partei durchgesetzt. Helga Ulbricht begründet dies mit Vorbehalten, die in der damaligen SBZ und in der unmittelbar anschließenden ersten Phase der DDR-Exi- stenz aufgrund der historischen Rolle der'Sozi a 1 po 1 i ti k im Kapitalismus vorherrschend waren 63 Sie spricht offen von der Ablehnung des Begriffes "Sozialpolitik" in der DDR 64
Tatsächlich kann dann für die Phase der "Schaffung der Grundlagen des Sozialismus", für die Frühphase der DDR während der fünfziger Jahre also, in offiziellen Quellen praktisch keine Beschäftigung mit Sozialpolitik auf ideologischem bzw. wissenschaftlichem Gebiet nachgewiesen werden, obwohl gerade in diesem Zeitraum, als sich die sozialistische Produktionsweise in der DDR noch nicht durchgesetzt hatte, dem eigenen Selbstverständnis zufolge eine Sozialpolitik möglich und sinnvoll gewesen wäre. Neben einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen - hier ist insbesondere das i'm April 1950 beschlossene "Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskraft 65 zu nennen - fand eine weitergehende Befassung mit den Inhalten· und Zielen dieser Politik nicht statt. Der Hauptgrund hierfür dürfte in der Hoffnung auf das bevorstehende Erreichen des "Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse" und dem damit verbundenen Eintritt in eine neue Entwicklungsperiode auf dem Weg zum Kommunismus zu finden sein.
Die dargestellte Sichtweise, daß das Betreiben einer Sozialpolitik nicht nur im ökonomischen System des Kommunismus, sondern bereits nach dem Übergang in eine sozialistische Produktionsgesellschaft entbehrlich sei, wurdeauch von Walter Ulbricht persönlich geteilt. In seinen am 10.07.1958 verkündeten "10 Geboten der sozialistischen Moral 66 fordert er mittels der Begründung, der Sozialismus führe zu einem besseren Leben für alle Werktätigen, die Bevölkerung zu "guten Taten für den Sozialismus" auf. Nach den staatsgefährdenden Krisen von 1961 und 1970/71, die eher das Gegenteil bewiesen hatten, sahenaber auch der Staatsratsvorsitzende und Erste Sekretär der SED und sein Nachfolger in beiden Ämtern, Erich Honecker, das Betreiben einer Sozialpolitik und die Schaffung einer theoretischen Grundlage dieser Politik als Immer dringlicher für die notwendige Stabilisierung des Staates an. Die Methode der "Neutralisierung" der unpolitischen Bevölkerungsteile mittels wachsendem Wohlstand konnte nur mit Hilfe einer umfangreichen Sozialpolitik erreicht werden 67.
2. Die Sozialpolitik in der Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" (1961-1970) und die ideologische Wende ab Mitte der sechziger Jahre
Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 wurde mit dem Beschluß zur weiteren Kollektivierung der Landwirtschaft die 2Weife umfassende Staatskrise der DDR ausgelöst. Die Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum kam im Bereich der Landwirtschaft - im Gegensatz zum industriellen Sektor - nur schleppend voran. Sie galt im Selbstverständnis der marxistisch-leninistischen Theoretiker aber - wie bereits darge1 egt 68 - als Voraussetzung sowohl für den Eintritt in einen neuen Entwicklungsabschnitt auf dem Weg zum Kommunismus als auch für die Möglichkeit des weiteren Abbaus und der weiteren Vernachlässigung einer Sozialpolitik.
Die von W. Ulbricht noch 1958 proklamierte Behauptung, der Sozialismus führe quasi "automatisch" zu einem besseren Leben für alle Werktätigen 69, würde sich also nach dem bevorstehenden Übertritt in die neue sozialistische Entwicklungsphase als richtig oder falsch erweisen müssen.
Dèe Übergang in das neue Jahrzehnt wurde also von der Partei- und Staatsführung der DDR bereits auf dem V. Parteitag auch als Wendepunkt in der Entwicklung der DDR insgesamt festgelegt. Daß dieser Wendepunkt sich dann tatsächlich zu einer Art "Achse der DDR-Ges ch ichte" 70 entwicke1te, lag allerdings mit Sicherheit nicht in der Absicht der damaligen SED-Führung. Die von Juli 1958 bis zur Vol 1kol1ekti vierung im Frühjahr 1960 in Form einer Zwangskampagne nach sowjetischem Muster durch- · gesetzte Vergesellschaftung landwirtschaftlicher Produktionsmittel führte zu Widerstand in der Bevölkerung und damit verbundenen wirtschaftlichen Problemen. Der auf dem V. Parteitag beschlossene Fünfjahrplan wurde aufgrund der von W. Ulbricht vorgegebenen Zielrichtung einer Ein- und Überholung der BRD in der Pro-Kopf-Produktion auf völlig überhöhte wirtschaftliche Ziele hin ausgelegt. Laut Ei nschä'tzung von E. Richert betrug der damalige Produktionsvorsprung der Bundesrepublik ca. 30 Prozent; ein Ausgleich dieses Vorsprunges hätte selbst bei reibungslosem Funktionieren der DDR-Wirtschaft nicht innerhalb eines Planjahrfünf tes gelingen können71. Aufgrund dieser Fehlkalkulation mußte der Plan bereits im folgenden Jahr (1959) abgebrochen uad.-durc'h einen neuen ersetzt werden.
Die verstärkt einsetzenden Sozialisierungsmaßnahmen, die neben der Landwirtschaft auch private Industrie-, Handels- u. Handwerksbetriebe betrafen, führten im Jahr 1960 wieder zu einem Anstieg der F1üch11 ingsza h 1 en. Die Personen, die die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen, waren zu etwa der Hälfte unter 25 Jahren alt und zum überwiegenden Teil erwerbstätig, d.h. die DDR verlor zumeist die im Land dringend benötigten Arbeitskräfte. Eine Destabilisierung des Staates und die Gefährdung der ohnehin stets unsicheren Legitimationsgrundlage für die eigenstaatliche Existen 72 waren die zwangsläufigen Folgen ansteigender F 1üch11 ingszah1 en. Um dieser Gefährdung Einhalt zu gebieten, verschärfte die Staatsführung die bereits seit Mitte der fünfziger Jahre erfolgreich eingeleiteten Maßnahmen zur Einschränkung der Reise- und Bewegungsfreiheit der Bevölkerung. Am 13.08.1961 wurde mit der Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin durch den Bau einer Mauer be gonnen .
Die durch den Mauerbau eingetretene Stabilisierung des Staates brachte auch eine gewisse ökonomische Stabilisierung mit sich. Auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 wurde neben dem neuen Parteiprogramm .—Anlago 2) auch die Einleitung einer Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik diskutiert 73. Konkretisiert wurde diese Neuorientierung dann im Juli 1963 mit der Bekanntgabe einer Richtlinie des Präsidiums des Ministerrates. Danach wurde ein "Neues ökonomisches System der - Planung und Leitung" (NÖS) für die Volkswirtschaft beschlossen und vom Staatsrat einige Tage später bestätigt . 74 Dieses neue System zielte auf die Ausnutzung der "materiellen Interessiertheit" des einzelnen Arbeiters und des einzelnen Betriebes. Die Auseinandersetzung mit aus marxistisch-leninistischer Sicht typisch kapitalistischen Wirtschaftsbegriffen wie "Gewinn", "Preis" und "Prämie" ließ die Möglichkeit einer relativ selbstständigen, von der Sowjetunion sich absetzenden Wirtschaftsentwicklung in der ODR erkennen. Folgende Passagen aus der Richtlinie für das "NöS" vom 15.07.1963 sind charakteristisch für die neue Richtung, welche maßgeblich von Walter Ulbricht und dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission 75, dem Kandidaten für das Politbüro Erich Apel, ausgearbeitet worden 1st. "Ohne richtige Lösung des Problems der Preisbildung und der Festsetzung wissenschaftlich begründeter Preise ist es unmöglich, viele ernste Mängel in der Planung der Produktion zu beseitigen, die wirtschaftliche Rechnungsführung umfassend zu verwirklichen und die Bedingungen für eine rentable Arbeit der Betriebe zu sichern. ... Er (der Arbeitslohn) 76 muß insbesondere durch die Anwendung zweckmäßiger Lohnformen und Prämienregelungen ... auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität, auf hohe Qualität der Erzeugnisse und auf die Senkung der Selbstkosten orientieren.77
Den nicht unbedeutenden pol itisehen Aspekt, welcher sich mit der wirtschaftspolitischen Neuorientierung des NÖS verband, machte W. Ulbricht auf der 5. Tagung des ZK der SED im Februar 1964 deutlich: "Wir sind uns bewußt, daß wir in der Deutschen Demokratischen Republik den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechend unserer nationalen Bedingungen durchgeführt haben und durchführen. Diese Bedingungen unterscheiden sich von denen, die die Sowjetmacht hatte, als sie den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzog."78 Eine derartige Distanzierung von der Sowjetunion konnte, wenn auch nur auf das Gebiet der Wirtschaftspolitik beschränkt, auf Dauer nicht ohne Folgen für die Politik der DDR bleiben. Nach der Ablösung von N. Chruschtschow als Erstem Sekretär der KPdSU im Oktober 1964 kam es auch in der SED-Führung zu Mei- · nungsverschiedenheiten über die Fortsetzung des relativ marktwirtschaftlich orientierten NÖS. Es gab starke Tendenzen, die Reformen, die die DDR innerhalb kurzer Zeit zum "Schrittmacher 79 s) wirtschaftlicher Reformen im gesamten sozialistischen Lager" 79 hatten werden lassen, zurückzunehmen und den Außenhandel der DDR wieder einseitig nach Osten auszurichten.
Die Konfrontation über die Frage der Weiterführung des NÖS dauerte unterschwellig an und wurde erst über ein Jahr nach dem Führungswechsel in der Sowjetunion zugunsten der reform- feidlichen Kräfte um E. Honecker und G. Mittag entschieden.
Die politische Brisanz dieser Entscheidung, die offensichtlich mit dem Abschluß eines neuen langfristigen Handelsabkommens mit der Sowjetunion am 03.12.1965 durchgesetzt wurde, offenbarte sich durch den am gleichen Tag begangenen Selbstmord von E. Apel, eines der Mitinitiatoren des NÖS. Apel stand ebenso wie Mittag unmittelbar vor der Ernennung zum Mitglied des Politbüros; beide hatten in der Wirtschaftskommission des Politbüros gearbeitet. Die Bedeutung, welche die Absetzung Chruschtschows für die weitere Entwicklung des NÖS in der DDR gehabt hat, schätzt J. Hacker wie folgt ein: "Schließlich war es N. Chruschtschow, der es der DDR erlaubte, mit dem 1963 eingeführten NÖS eine Reformkonzeption zu vertreten, um das Wirtschaftssystem zu modernisieren und rationalisieren.80
Auf der 11. Tagung des ZK der SED vom 15. bis 18.12.1965 wurde die sogenannte "zweite Phase" des NÖS beschlossen. Diese war aber - wie sich in den folgenden Jahren bis zur erneuten Krise im Jahr 1970 zeigte - mehr von zentralistischen Tendenzen und Rückschritten als von einer Fortführung des neuen Kurses gekennzeichnet. Die Grundidee des NÖS, nämlich das Ausnutzen der "materiellen Interessiertheit" des Arbeiters zum Zwecke der Verbesserung der Wirtschafts1 e istung, hatte sich aber als richtig erwiesen. Die wirtschaftliche Lage hatte sich seit dem Beginn der sechziger Jahre ständig verbessert,-nund der Lebensstandard der Bevölkerung war entsprechend gestiegen. Die DDR war nicht nur zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht nach der UdSSR im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) aufgestiegen, sondern ihr NÖS erlangte Mode 11 char ak ter für andere Staaten in und außerhalb des RGW. So fand zum Beispiel im Juni. 1965 eine Konferenz zum Studium des NÖS in der DDR statt, an welcher sich Delegationen aus fast allen sozialistischen Staaten der Welt beteiligten. Die DDR entwickelte sich in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zu einer "sozialistischen Lei- stungs- und Konsumgesellschaft 81 deren ökonomisches System sich zunehmend an den Wünschen und Forderungen der Bevölke- ung orientierte. Die im Programm der SED 1963 festgeschriebe- e ideologische Neuorientierung in Richtung auf eine "ständige^ nd planmäßige Verbesserung der Lebensbedingungen des Volkes"82
wies den alleinigen möglichen Weg für eine dauerhafte Stabilisierung des zweiten deutschen Staates: nicht durch Zwangsmaßnahmen wie Mauerbau o.ä., sondern nur mittels einer Angleichung der Lebensverhältnisse in der DDR an diejenigen in der BRD hätte eine solche Stabilisierung erreicht werden können. Der Freitod von Apel und die nach dem 11. Plenum des ZK einsetzenden verschärften Repressalien gegen bestimmte Kulturschaffende und Oppositionelle (Havemann, Heym, Biermann u.a.) deuteten aber auf eine andere Entwicklung hin: die kurze Phase kultureller Toleranz und wirtschaftlicher Experimente war Mitte der sechziger Jahre bereits wieder gestoppt.
Trotz dieses praktischen Abbruchs der mittels des NOS eingeleiteten Reformpolitik im wirtschaftlichen Bereich erfolgte keine Abwendung vom NOS durch die offizielle Politik. Man beschränkte sich auf organisa torisch«|finderungen wie zum Beispiel die Abschaffung des 1961 als zentrales Organ des Mi ni sterra tes gegründeten Volkswirtschaftsrates 83 er konnte sich nicht als wirtschaftliche Le itungsi nstitu tion bewähren und wurde 1965/66 in acht eigenständige Industrieministerien aufgeteilt und wieder der SPK unterstellt.
Die mit dem NOS verbundene wirtschaftliche Reformpolitik wurde im Kern auch auf dem VII. Parteitag fortgeführt (April 1967). Zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Hauptaufgabe der kommenden Jahre wurde die Gestaltung des "Entwik- kel tenjgesel lschaftl ichen Systems des Sozialismus" und in Zusammenhang hiermit die Fortführung des "ökonomischen Systems des Sozialismus" bestimmt.Di ese formale Aufgabe des NOS bedeutete nicht gleichzeitig die Aufgabe ihrer ideologische Grundkonzeption, wie fogendes Zitat aus Artikel 9 der DDR-Verfass- ' ung von 1968 belegt: "Das ökonomische System des Sozialismus verbindet die zentrale staatliche Planung und Leitung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der sozialistischen Warenproduzenten und der örtlichen Staatsorgane."84 Der relativ eigenständige Weg der DDR-Wirtschaftspolitik wurde theoretisch weitergeführt, und auch in der Praxis gelangten die in der Anfangsphase des NOS eingeführten monetären Steuerungsinstrumente erst in den Jah ren nach dem VII. Parteitag zur vollen Geltung. Im Zusammenhang damit durchgeführte dringend notwendige Änderungen in der Strukturpolitik führten zu einer weiteren wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Wenn auch das auf dem V. Parteitag 1958 verkündete Ziel der über- bzw. Einholung der Wirtschaftskraft der BRD nicht erreicht werden konnte, so konnte man doch zumindest seit der Einführung des NÜS 1963 auf eine kontinuierlich positive wirtschaftliche Entwicklung bis zum Ende des Jahrzehnts verweisen. Das Hauptproblem dieses relativen Aufwärtstrends, nämlich das Finden eines Systems für eine langfristige Wirtschaftsplanung, blieb jedoch ungelöst. Die in der Verfassung angebotene Lösung der "Verbindung von Grundfragen der ge- sel 1schaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung und -initiative der Warenproduzenten", also die Verbindung von zentraler staatlicher Planung mit Elementen aus der Marktwirtschaft, erwies sich in der Praxis als undurchführbar. Insbesondere gestaltete s i ch|jKombi na ti on neuer marktwirtschaftlicher Steuerungsgrößen und die Verteilung der Entscheidungskompetenzen auf den verschiedenen wirtschaftspolitischen Ebenen des Staates als problematisch. Die Berücksichtigung von volkswirtschaftlichen, gesamtstaatlichen, betrieblichen und individuellen Interessen unter gleichzeitig aufrechterhaltenem Vorrang staatlicher Z i e 1 vor s te 11 ungen erwies sich als unrealisierbar. So war die Entstehung einer neuen wirtschaftlichen Krise und die damit zwangsläufig verbundene endgültige Einstellung des NÖS nur eine Frage der Zeit.
Festzuhalten bleibt a 11erdingsdie Tatsache, daß die Auswirkungen des NÖS weit über den Wirtschaftsbereich und den Zeitabschnitt der sechziger Jahre hinausre i chten. Im Rahmen der * stärkeren Berücksichtigung sozi a 1wissenschaf11 icher und mathematisch-statistischer Disziplinen und Methoden konnten sich . neue Wissenschaftszweige entfalten, die ihrerseits dann wieder Einfluß auf einen ideologischen Wandel im Gesamtsystem ausübten. Die Wissenschaft von der Sozialpolitik, welche nach Einschätzung von W.-R. Leenen noch 1977 als relativ unterentwik- kelt angesehen werden mußt 85, konnte auf den in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der DDR veröffentlichten Arbeiten von H. Ulbricht 86 · Tietze und G. Winkler als den theo- retischen Grundlagen aufgebaut werden.
Die institutionellen Grundlagen für die Beschäftigung mit der neuen Diszilplin wurden zumeist im Rahmen neuer Einrichtungen beim "Freien Deutschen Gewerkschaftsbund" (FDGB) geschaffen. So entstanden in den Jahren zwischen 1964 und 1967 an der FDGB-Hochschule "Fritz Heckert" in Bernau bei Berlin ein "Institut für Sozialpolitik" (Leitung G. Tietze) und eine "Sektion Wirtschafts- und Sozialpolitik" (Leitung G. Winkler).
In gleichen Zeitraum wurde direkt beim FDGB eine "Abteilung Sozialpolitik" (Leitung I. Lorek) eingerichtet, und 1974 entstand auf Beschluß des Politbüros der SED, wiederum an der Ge- ^ werkschaftshochschule, ein "Wissenschaftlicher Rat für Sozialpolitik und Demographie" (Leitung G. Winkler). Ein Institut für eine vom FDGB unabhängige Beschäftigung mit Sozialpolitik wurde 1978 gegründet; das "Institut für Soziologie und Sozialpolitik" (Leitung G. Winkler) war der "Akademie der Wissenschaften der DDR" angegliedert und unterstand damit direkt dem Ministerrat. Natürlich erfolgte spätestens seit der Akzentuierung der Sozialpolitik auf dem VIII. Parteitag (Juni 1971) auch von Seiten der SED eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema; diese lief über das 1951 gegründete "Institut für Gesellschaftswissenschaften"87 beim ZK der SED (Leitung seit 1963 Otto Reinhold). Trotz der beiden zuletzt genannten Institute ist die vorwiegende Konzentration sozialpolitischer Einrichtungen beim FDGB offensichtlich. Der VIII. Parteitag legte die Bedeutung der Sozialpolitik als zentralen Teil der SED-Gesel1schafts- politik für die kommenden Jahre fest, und durch den damit erfolgten Aufgabenzuwachs für den FDGB wurde dieser in seiner Bedeutung für die zukünftige Entwicklung von Staat und Partei . aus seiner bisherigen Rolle als einer unter anderen Massenorganisationen in der DDR herausgehoben. Bei zukünftigen die Wirtschafts- oder die Sozialpolitik betreffenden Beschlüssen wurde eine Beteiligung des Bundesvorstandes des FDGB neben Politbüro und Ministerrat unumgänglich.
Die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erfolgte Hinwendung zum offiziellen Betreiben einer wissenschaftlich begründeten Sozialpolitik blieb nicht ohne Auswirkungen auf die prak- tischen sozialpolitischen Maßnahmen. W. Ulbricht hatte bereits im Dezember 1965 die Einführung der Fünf-Tage-Arbeitswoche in jeder zweiten Woche angekündigt; sie wurde noch im selben Monat vom Ministerrat beschlossen. Die wöchentliche Arbeitszeit sank damit ab April 1966 von bisher 48 auf 45 Stunden.
Auf dem VII. Parteitag der SED (April 1967) wurden weitere Vorschläge zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung unterbreitet. Umgesetzt wurden diese dann in den folgenden Monaten durch die entsprechenden Mini s terra tsbe sch 1üsse ; erwähnt werden soll an dieser Stelle davon lediglich die verabschiedete Einführung der durchgängigen Fünf-Tage-Arbeitswoche und die damit verbundene Verringerung der wöchentlichen Normalarbeitszeit auf den Wert von 43,75 Stunden sowie die Erhöhung des vorgeschriebenen Mindestbruttolohnes.
Auffällig ist bereits auf dem VII. Parteitag, auf wel chem E. Honecker hinter W. Stoph und W. Ulbricht erst an dritter Stelle referierte, die stärkere Orientierung der Partei auf die "Beachtung des Gesamtzusammenhangs und der Wechselbeziehungen der politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ideologischen Prozesse“88 Der bereits im SED-Programm von 1963 genannte Zusammenhang||verbesserter Arbeitsproduktivität und (21¿ischenl verbesserten Lebensbedingungen fand offensichtlich eine zunehmende Berücksichtigung nicht erst seit dem mit dem VIII. Parteitag eingeleiteten ideologischen Wandel.
II.3. ökononn sehe_Probleme_gegen Ende_der_sechziger_Jahre
Der wirtschaftlichen Entwicklung eines sozialistischen Staatswesens im Vergleich mit anderen, ni cht-sozi a 1 i s ti sehen Staaten wurde in der kommunistischen Ideologie seit Beginn des "realexistierenden Sozialismus", also seit Lenin, die bedeutendste Rolle in der weltweiten Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System eingeräumt. Ein Zitat Lenins aus dem Jahre /-32/ belegt eindrucksvoll diese Sichtweise. "Der Kampf ist im Weltmaßstab auf dieses Gebiet (der Wirtschaft)89 übertragen. Lösen wir diese Aufgabe, dann haben wir im internationalen Maßstab bestimmt und endgültig gewonnen. Deshalb erlangen die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus für uns eine ganz. außerordentliche Bedeutung."90
Das "Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium" konkretisiert die Bedeutung der Ökonomie in seiner 1989 erschienenen 15. Auflage wie folgt. "..., daß die Ökonomie für die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus eine große und wachsende Bedeutung hat: in den sozialistischen Ländern ist die Entwicklung der Wirtschaft und die Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit die zentrale Frage der Gesellschaftspolitik, um die wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung immer besser zu befriedigen und die Anziehungskraft des Sozialismus zu erhöhen.91
Das Lehrbuch "Staatsbürgerkunde", konzipiert als "Einführung in die marx i s 11 sch-т 1 en 1 n i st i sehe Philosophie" für Schüler der Klassen 10 und der Abiturstufe, behauptet in seiner 3. Auflage von 1985 ganz im Sinne der idealtypisehen klassischen Theorie von Marx und Engels, daß der Sozialismus die - Sorge um das materielle und geistige Wohl des Menschen in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stelle. Der dargestellte ideologische Konflikt zwischen Sozialpolitik und Sozialismus wird also auch zu Zeiten einer längst offiziell anerkannten sozialpolitischen Gesetzgebung noch teilweise bestärkt. Im Weiteren wird der Sozialismus - offensichtlich in Anwendung der von Honecker entwickelten These von der "Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik" - als "realer Humanismus" bezeichnet, und dieser wiederum wird unmittelbar mit der Ökonomie in Verbindung gebracht: "Sein Humanismus (der des Sozia- lisnuis)· 92 ist real, weil er durch die Einbeziehung der Menschen in die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben immer bessere Bedingungen für ihre Persönlichkeitsentwicklung schafft. Realer Humanismus erfordert folglich auch ständiges ökonomisches Wachstum zum Wohle des Menschen. Da das im Sozialismus gewährleistet wird, insbesondere durch die Einheit von Wirtschafts· und Sozialpolitik, stimmen Ökonomie und Humanismus hier überein.93
Durch diese auch offiziell seit dem VIII. und insbesondere seit dem IX. Parteitag (Mai 1976) verkündete Ideologie von der "Einheit von Wirtschafts- und Soziapolitik" wurde praktisch eine direkte Verbindung zwischen Sozialismus und Ökonomie geschaffen. Mögliche Gefahren dieser Sichtweise, nämlich insbesondere die zwangsläufig damit verbundene Möglichkeit einer "Rückentwicklung" des Sozialismus in Phasen wirtschaftlicher Stagnation, wurden in die Überlegungen offensichtlich nicht einbezogen. Eine wirtschaftliche Rezessionsphase und damit zusammenhängende soziale Probleme, die auch in einer Planwirtschaft nicht auszuschließen sind, mußten somit immer auch als eine Gefahr für den Sozialismus in der DDR gesehen werden. Die sozialistische Ideologie und ihre positive Entwicklung in der DDR waren aber - wie bereits dargestellt - als Grundlage für die Legitimation einer eigenstaatlichen Existenz des Zweiten deutschen Staates unentbehrlich. Eine wirtschaftlich negative Entwicklung bedeutete also immer auch eine gleichzeitige Existenzbedrohung des Staates, insbesondere aufgrund der direkten Vergleichsmöglichkeiten mit dem westdeutschen Staat. Sie mußte aus Sicht der Machthaber in der DDR also unter allen Umständen vermieden werden. '
Die nach dem Tode won E. Apel eingestellten wirtschaftlichen Reformen im Rahmen des NöS machten eine spätestens auf dem VII. Parteitag festzuleg deologische Neuorientierung auf wirtschaftlichem Gebiet erforderlich. Diese beschränkte sich dann aber auf eine vage Abkehr vom NöS, die praktisch auf eine neue Bezeichnung hinaus lief, sowie auf die "komplexe sozialistische Rationalisierung einschließlich^ihrer höchsten Stufe, der Automatisierung ganzer Prozesse" 94
Dieser angstrebte Weg des Wirtschaftswachstums über die "kom- plexe Rationalisierung" wurde im Februar 1968 in einem Beschluß des Politbüros zu Durchführung von 88 zum Teil sehr anspruchsvollen Automati sierungsVorhaben in ausgewählten Betrieben konkretisiert. G. Mittag, ehemaliger Sekretär der Wirtschaftskommission beim Politbüro und Sekretär des Volkswirtschaftsrates und seit 1966 Mitglied im Politbüro, hatte an diesem Beschluß, welcher laut Gerhard Naumann und Eckhard Trümpler _ "ohne umfassende Prüfung ... der notwendigen Voraussetzungen"95 ergangen war, maßgeblichen Anteil. Allerdings darf bei dieser Feststellung nicht verschwiegen werden, daß W. Stoph und auch W. Ulbricht in ihren Referaten auf dem VII. Parteitag 96 die ideologischen Grundlagen für diese sich später als verhängnisvoll erweisende Entscheidung zur Hervorhebung der Automatisierung bereits gelegt hatten. So hatte Stoph feststellen müssen, daß hochproduktive Maschinen und Anlagen in Betrieben der Elektrotechnik nur zu 54 % ausgelastet waren 97 Die verbesserte Ausnutzung vorhandener Kapazitäten sowie die Suche nach weiteren Rationalisierungs- und Automatisierungsmöglichkeiten waren die offensichtlichen Folgen der Diskussionen des VII. Partei tag s.
Neben der Vernachlässigung anderer Formen und Methoden der Rationalisierung führte der ehrgeizige Automatisierungsbeschluß vom Februar 1968, der im übrigen zusätzlich zu dem bestehenden Perspektivplan durchgeführt werden mußte und im Hinblick auf ^ eine möglichst positive Wirtschaftsbilanz zum 20.Jahrestag der DDR (Oktober 1969) erlassen worden war, zu weiteren Disproportionen in der Volkswirtschaft. Der auf dem VII. Parteitag noch von W. Ulbricht selbst betonte Zusammenhang zwischen der Förderung sogenannter "strukturentscheidender Haupterzeugnis-' se"98 einerseits und Gewährleistung der Proportionen der Volks Wirtschaft andererseits fand bereits im darauffolgenden Jahr offensichtlich keine Berücksichtigung mehr. Auf der 9. Tagung des ZK im Oktober 1968 begründete Ulbricht den Beschluß des Politbüros vom Februar mit dem Ziel "eine starke Basis der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion schaffen zu wollen, auf deren Grundlage ... alle Triebkräfte der neuen Ordnung wirksam werden und die Überlegenheit unseres sozialistischen Gesellschaftssystems gegenüber West- deutsch land weithin sichtbar wird 99 Wie bereits 10 Jahre zuvor100
ließ sich der Erste Sekretär der SED wiederum durch sein Wunschziel der Überholung des westdeutschen Nachbarn auf wirtschaftlichem Gebiet zu falschen Handlungen verleiten. Die nach dem Urteil von Naumann/Trümp1 er als "zweifellos richtig" be- zeichnete wirtschaftliche Orientierung101 des VII. Parteitags wurde ungeprüft nach oben korrigiert ohne zu merken, daß dies einem Wunschdenken anstatt den realen Möglichkeiten der DDR entsprach. Trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung in den Jahren 1963 bis 1967 lag der Rückstand der DDR zur durchschnittlichen Arbeitsproduktivität in der BRD genauso wie gegen Ende der fünfziger Jahre immer noch bei rund 30 Prozent102
Der Anfang 1968 eingeleitete Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik fand seine Konkretisierung in den Volkswirtschaftsplänen für die Jahre 1968 und 1969. Hierin wurde als Hauptweg für die Entwicklung der Volkswirtschaft die "komplexe Rational isierung durch Automatisierung und Mechanisierung103 festgeschrieben. Die damit zwangsläufig verbundenen Kosten für den Import von Maschinen und Ausrüstungen sowie die daraus folgende Verschlechterung der Außenhandelsbilanz wurden vom Politbüro bewußt in Kauf genommen.
Im Rahmen der optimistischen Stimmung des 20. Jahrestages der Existenz der DDR berichteten die Medien der Republik ausführlich von den Automatisierungen, von denen 87 erfolgreich gelöst worden seien104 · Der Preis, welcher für diese vermeintlichen Erfolge gezahlt werden mußte, nämlich unter anderem die Verdoppelung der Verschuldung gegenüber der BRD im Jahr 1969 im Vergleich zum Vorjahr, blieb unerwähnt. Unmittelbar vor der 12. Tagung des ZK der SED im Dezember 1969 fasste das Sekretariat des Zentralkomitees trotz offensichtlich bestehender Versorgungsengpässe in bestimmten Wirtschaftsbereichenl105 den Beschluß, weitere 183 Automatisierungsvorhaben zu realisieren bzw. vorzubereiten. 90 davon sollten bis zum VIII. Parteitag, der für April 1971 geplant war, zum Abschluß gebracht werden. Das Tempo der Einführung der Automatisierungen sollte im Vergleich zum Automatisierungsbeschluß vom Februar 1968, der fast zwei Jahre zuvor erfolgt war, also noch gesteigert werden .
Auf der darauffolgenden 12. Tagung des ZK der SED wurde dieser von Naumann/Trümpler als "schwerwiegend" bezeichnete Beschluß des Sekretariats bestätigt. Der destabilisierende Kurs in der Wirtschaftspolitik wurde also fortgesetzt, obwohl Honecker sich laut einer Schrift von 1970 über mögliche Folgen einer solchen Politik offensichtlich im Klaren war: die 1969 verwirklichten Automati sierungsVorhaben konnten "natürlich im Wesentlichen nur auf Kosten anderer Aufgaben zusätzlich in den Plan aufgenommen werden""106.
Im Bericht des Politbüros an die 12. Tagung des ZK wurde zwar von "beträchtlichen Rückständen" und "erheblichen Beeinträchtigungen" gesprochen; diese Disproportionen in der volkswirtschaftlichen Gesamtentwi ck 1 ungjfaber nicht als entschei dend /|уи/г/рл/ angesehen. Das Politbüro sprach sich in diesem Bericht dafür aus, "künftig einen noch größeren Teil des Nationaleinkommens für die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution zu verwenden"107. Der Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1970 sah dementsprechend etwa 60 Prozent der gesamten Industrieinvestitionen für die geplanten Automatisierungen vor. Die Mehrheit der Betriebe, für die keine Automatisierungen vorgesehen waren, mußte mit dem Rest der Mittel auskommen; hier notwendige Rationalisierungsmaßnahmen mußten aufgrund der geringen Finanzmittel zumeist unterbleiben.
G. Mittag forderte in seinem Referat zu den Fragen des Volkswirtschaftsplans der DDR 1970 dazu auf, "durch höhere Leistungen die Belastungen zu überwinden, die ... der Volkswirtschaft entstanden sind"108. Als Gründe für die "Belastungen" gab er in diesem Zusammenhang den letzten Winter und eine Dürreperiode an; tatsächlich sollte der anstehende Winter noch größere Prö- bleme mi t s ichbringen. Der Dezember 1969 , der Zeitraum in welchem der damalige Sekretär des ZK G. Mittag sein Referat hielt, wurde später von den Meteorologen als der kälteste Dezember auf dem Territorium der DDR seit 1893 beurteilt.
[...]
1. Vgl. W.-R. Leenen (1977), S. 13.
2. Zit. G. Winkler ( 1989 ), S. 11.
3. Vgl. Programm der SED von 1976 , Kap. Ί./ιη: QÜ 7/W, S. ¥7% f-.
4. Vgl. dazu Ani. 1 bzw. die Per i od i s i e rиng im Parteiprogramm der SED von 1963. '
5. Vgl. Def. "Intelligenz" in "DDR-H andbuch " (Kö1n 1979 ), S. 539.
6. Vgl. dazu tab. Darstellung im "Statistischen Jahrbuch der DDR 1978", S. 84 (Anteil der Arbeiter- und Angestelltengruppe an der Gesamtzahl der Berufstätigen am 30.09.77: 89,1 %); "Stat. Jahrbuch der DDR 1983", S. 108 (Anteil der Arbeiter und Ange¬stellten 89,4 %); M. Kos sok u.a. ( 1984), S. 296 zum VIII. Parteitag der SED: "Ihrer sozialen Herkunft nach kamen 76,8 % der (teilnehmenden) Mitglieder aus der Arbeiterklasse."
7. E. Richert, Zur Funktion der Ideologie in der DDR nach 1971, in: "Deutschland Archiv" (DA) 7/74, S. 713.
8. Vgl. beispielsweise die Darstellung der Auseinandersetzungen auf der 14. ZK-Tagung vom Dez. 1970 bei M. Kossok (1984), S. 294.
9. Hier ist insbesondere der Begriff "Imperialismus" gemeint! Weitere Ausdrücke wie z.B. "Klassenkampf", "Arbeiterklasse", "Bourgeoisie" etc. sind zwar ebenso unzeitgemäß, sollen aber nach entsprechender Kenntlichmachung Verwendung finden.
10. Def. n. Geigant, Sobotka, Westphal; Lexikon der Volkswirt-schaften; München 3. Aufl. 1979.
11. Festlegung von M inde sta 1 te r, Arbeitszeitbeschränkung, Verbot der Sonntagsarbeit für Fabrik- und Bergarbeiter.
12. Vgl. Anm. 10.
13. E. v. Beckerath u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozi alwissen- schaft (HDSW), Bd. 9, Göttingen 1956, S. 543.
14. Diese Aussage bedeutet nicht, daß staatliche Sozialpolitik erst nach der Entstehung der marxistischen Ideologie einsetzte; das "Kommunistische Manifest", eine der ersten wichtigen Veröffent-lichungen von K. Marx, entstand 1848, d.h. nach Erlaß der er¬sten Sozialgesetzgebung in Preußen.
15. "Egalité, Liberté, Fraternité".
16. 19. Jahrhundert.
16. a) Dabei ist zu beachten, daß es sich um sehr unterschiedliche Maßnahmen handelte. Während in Deutschland ein Sozialver-sicherung ssystem entstand, wurde in Großbritannien neben Ei nze1gesetzen zur Verbesserung von Gesundheit, Arbeitszeit und Unterbringung der Arbeiter insbesondere die Anerkennung und das Streikrecht der Gewerkschaften durchgesetzt. Nach Einschätzung von R. Blake in seinem Buch Uber B. Disraeli (London 1969) bildeten diese Maßnahmen des 2. Disrae1i-Kabi- netts die "größte soziale Reform, die eine (brit.) Regierung im 19. Jhd. jemals erlassen hat". Ein echtes Sozi a 1 ver s iche- rungssystem wurde in England erst 1911 unter Schatzkanzler D. Lloyd George etabliert.
17. Dies sind neben dem Staat vorwiegend Verbände und Betriebe.
18. Vgl . HDSW, Bd. 9, S. 542.
19. Vg1. Anm. 10.
20. in: "Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872-1932", Berlin 1939, zit. n. Winkler (1989), S. 13.
21. Winkler (1989), S. 18.
22. unzeitgemäßer Terminus, vgl. Anm. 9.
23. Vgl. Winkler (1989), S. 12.
24. ebd.
25. in: "Marx-Engel s-Werke" (MEW), Bd. 18, Berlin 1962 , S. 209f f., v^I.ehJ..
26. Vgl. Winkler (1989), Inhaltsverzeichnis sowie Ani. 1 dieser Arbeit.
27. ebd.
28. Als Auslöser hierfür kann die Habilitationsschrift von Helga Ulbricht von 1965 angesehen werden ("Aufgaben der sozialist¬ischen Sozialpolitik bei der Gestaltung der sozialen Sicher¬heit in der DDR", Leipzig 1965).
29. Winkler (1989), S. 9.
30. ebd., S. 10.
31. Erg. d. Verf..
32. Winkler (1989), S. 16/17.
33. Vgl. H. Ulbricht (1965), S. 62, in: Leenen (1977), S. 20.
34. Linderung von Kriegsfolgen, Neuordnung der Sozialversicherung u . a . .
35. Vgl. G. Mittag u.a., Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin 1969, S. 188ff., in: Lee¬nen (1977), S. 49.
36. Vgl. Leenen (1977), S. 18.
37. ebd., S. 20ff. .
38. H. Ulbricht (1965), S. 62, zit. n. Leenen (1977), S. 22.
39. febd ;, S. 38 u. 52, zit. n. Leenen ( 1 97 7 ), S. 23.
40. Vgl. Anm. 28.
41. Benennungen und Zeiteinteilung n. Leenen (1977), S. 20ff..
42. Vgl. G. Tietze u.a., Die Entwicklung der betrieblichen Sozial¬politik und die Aufgaben der Gewerkschaften, S. 361ff. in:· "Arbeitswissenschaft" 5/1969, in: Leenen (1977), S. 28.
43. Vgl. S. 25.
44. in: Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der SED, Bd. 1, Berlin 1967, S. 239/240, zit. n. Winkler (1989), S. 107.
45. So wurde die Kranken- und Rentenversicherung in England unter Premierminister Asquith und Schatzkanzler Lloyd George u.a. aufgrund der Forderungen der Birminghamer Handelskammer nach einer gesunden Arbeiterschaft eingeführt. Als Begründung wurde genannt, eine gesunde Arbeiterschaft sei effizienter und pro¬fitabler (...für den Unternehmerl).
46 W Ulbricht, Zum ökonomischen System des Sozialismus in der DDR, Bd. 2, Berlin 1969, S. 530f., zit. n. Weber (1987), S. 297.
47. Vgl. z. B. M. Kossok (1984), S. 296: "...zwischen Sozialismus und Kommunismus ... gibt es keine starren Grenzen".
48. Bezeichnung und Per iodi sierung der Entwicklungsphasen n. Winkler.
49. Vgl. Anm. 28.
50. Vgl. Winkler (1989), S. 253.
51. Vgl. Leenen ( 1 97 7 ) , S. 20.
51. a Nachdem am 10.06.1 945 die Sowjetische Mi 1 itäradmin i s t r a tion in Deutschland (SMAD) in ihrem "Befehl Nr. 2" die Bildung und Tätigkeit "an t i fa sc h i s tisch-demokr a tischer " Parteien, "freier" Gewerkschaften u. anderer "Massenorganisationen der Werk¬tätigen" gestattet hatte, bildeten sich innerhalb von vier Wochen die ersten vier Nachkriegsparte i en Deutschlands: die KPD unter Ulbricht und Pieck, die SPD unter 0. Grotewohl, die CDU unter 0. Nuschke u. A. Hermes und die LDPD unter W. Külz. Vgl. dazu J. Hacker ( 1983), S. 261 u. H. Weber (1991), S. 21 ff. .
52. Vgl. "Vorwärts und Aufwärts - Wege und Ziele der LDPD", Berlin 1 945 , S. 54ff., in: Weber ( 1987 ), S. 40.
53. "Der Morgen", Tageszeitung der LDPD vom 01.03.1949, zit. n. Weber (1987), S. 137.
54. "Berliner Tagung der Union 15. bis 17.06.1946 - Die Entschließ-ungen", Berlin o. J. (1946), S. 2f., zit. n. Weber (1987), S.82.
55. "Dokumente und Materialien zur Sozialpolitik in der antifa-schistisch-demokratischen Umwälzung 1945-1949", Berlin (Ost) 1984, S. 2 28f., zit. n. Weber ( 1987), S. 117.
56. Hier sind SPD und KPD gemeint; beide vereinigten sich im April 1946 zur SED.
57. Hier sind CDU und LDPD gemeint. Die SED erreichte bei den Land-tagswahlen vom 20.10.1946 lediglich 47,5 % der Stimmen und da-mit keine absolute Mehrheit! Vgl. dazu J. Hacker (1983), S. 270.
58. Abschnitt H., Art. 71,1; zit. n. Weber (1987), S. 93.
59. Vgl. S. 14.
60. O.V. (1946), Entwurf zu einem sozialpolitischen Programm der SED", S. 1, in: "Grundsatzmaterl al zur Sozialpolitik 1 946-1 949", zit. n. Unterlagen der Stiftung Archiv der Parteien und Massen-organisationen der DDR Im Bundesarchiv, Berlin.
61. Vgl. z. B. das Parteiprogramm der SED von 1963; die Entwick-lungsstufeneinteilung nach Winkler ( 1989), Inhal tsverzeiclvni s ; 0. Reinhold, Probleme der übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: "Einheit" 4/1970 , S. 428ff..
62. aus dem Parteiprogramm der SED von 1963, zit. n: Weber (1987), S. 266/267.
63. Vgl. H. Ulbricht (1965), S. 62, in: Leenen (1977), S. 20.
64. ebd.
65. G. Winkler bezeichnet dies als "wichtigstes Gesetz nach der Verfassung"; es garantiert ein "Recht auf Arbeit" u. erstmals auch einen mehrwöchigen Schwangerschaftsurlaub; vgl. Winkler (1989), S. 269.
66. Vgl. Weber (1987), S. 237.
67. ebd., S. 156.
68. Vgl. S. 16.
69. Vgl. S. 18.
70. Zit. Peter C. Ludz, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 205, S. 7, Bonn 1984.
71. Vgl. E. Richert, Die Sowjetzone in der Phase der Koexistenz, Hannover 1961, S. 18, in: Weber (1991), S. 90.
72. Der Staat war in erster Linie durch den Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus legitimiert; nach dem in der Sowjetunion unter Generalsekretär M. Gorbatschow begonnenen Versuch einer "Demokratisierung" des sozialistischen Systems und dem damit eingeleiteten Zusammenbruch des "real existie¬renden Sozialismus" war der DDR die Existenzgrundlage entzogen.
73. Vgl. Weber (1987), S. 257.
74. Vgl. ND, Sonder be i 1 age vom 16.07.1963.
75. Die "Staatliche Plankommission" (SPK) ist das zentrale Organ des Ministerrates für die Planung der Volkswirtschaft und die Kontrolle der Plandurchführung.
76. Erg. d. Verf . .
77. ND, Sonderbeilage v. 16.07.63 , zit. n. Weber ( 1987 ), S. 2 75f..
78. W. Ulbricht, zit. n. "DDR-Handbuch" (Köln 1979), S. 802.
79. Hacker (1983), S. 730.
80. ebd.; J. Hacker überschreibt das Kapitel, aus welchem hier zitiert wurde, mit dem bezeichnenden Titel:"DDR - Wachsende Diskrepanz zwischen ökonomischer Stärke und Anlehnungsbedürf¬nis an den Kreml".
81. Vgl . Weber ( 1987 ), S. 2 57.
82. Vgl . Weber ( 1987 ), S. 267.
83. Der Volkswirtschaftsrat war seit 1963 das zentrale Organ für die Ausarbeitung u. Durchführung des Volkswirtschaftsplans der Industrie der DDR. Er entstand 1961 durch Ausgliederung aus der SPK. G. Mittag war als Mitglied des ZK 1961/62 im Volkswirt¬schaftsrat tätig; E. Apel in gleicher Stellung bei der SPK.
84. Zit. n. "DDR-Handbuch" (Köln 1979), S. 804.
85. Vgl. Leenen (1977), S. 26. ·
86. Vgl. S. 11, Anm. 40.
87. seit 1976 "Akademie für Gesellschaftswissenschaften" (AfG).
88. Winkler (1989), S. 313.
89. Erg. d. Verf..
90 W I. Lenin auf der X. Gesamtrussischen Konferenz der KPR (B) im Mai 1921, in: Werke, Bd. 32, S. 458, zit. n. H. Richter u.a. (1989), S. 893.
91. H. Richter u.a. (1989), S. 893.
92. Erg. d. Verf . .
93. AfG (1985), S. 436.
94. W. Ulbricht auf dem VII. Parteitag der SED, zit. n. Naumann/ Trümp1er ( 1990), S . 12 .
95. Naumann/Trümp1 er ( 1990), S. 12.
96. W. Ulbricht, Die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR bis zur Vollendung des Sozialismus; W. Stoph, Die Durchfüh¬rung der volkswirtschaftlichen Aufgaben.
97. Vgl. Weber (1991), S. 120.
98. W. Ulbricht auf dem VII. Parteitag, zit. n. Naumann/Trümpler (1990), S. 10.
99. W. Ulbricht, Die weitere Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus, Refereat auf der 9. Tagung des ZK der SED, Berlin 1968, S. 3, zit. n. Naumann/Trümp1 er ( 1990), S. 10/11, im Folg, kurz N./Tr..
100. Vgl. S. 19.
101. Vgl . N./Tr. ( 1 990), S. 10.
102. ebd., S. 11.
103. Vgl. Gesetze über den Vo 1 k swirtscha ftsp 1 an 1968 u. 1969, in; N./Tr. (1990), S. 13.
104. Vgl. N./Tr. (1990), S.13.
105. So z. B. im landwirtschaftlichen Bereich (es mußten Getrei¬de, Kartoffeln u.a. importiert werden!) und im Wohnungsbau.
106. E. Honecker, Mit dem Blick auf das Jahr 2000 die Aufgaben von heute lösen, Berlin 1970, S. 26, zit. n. N./Tr. (1990), S. 15.
107. Bericht des Politbüros an die 12, Tagung des ZK der SED, 12 ./ 13.12.1969, Berlin 1969, S. 8, zit. n. N./Tr. ( 1990), S. 14.
108. Vgl. G. Mittag, Fragen des Vo 1 kswirtschaftsplans der DDR 1 970 , Referat auf der 12. Tagung des ZK der SED, Berlin 1969, S. 6, zit. n. N./Tr. (1990), S. 14.
- Quote paper
- M.A. Frank Oelmüller (Author), 1993, Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zum historischen Zusammenhang eines Leitbegriffs der DDR in der Ära Honecker, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232441