Ansatzpunkt der Beschäftigung mit Aby Warburg im Rahmen des Seminars „Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert“ waren Verbindungen und Parallelen zwischen Warburg und Jacob Burckhardt.
Warburg äußert sich in seinen Schriften nur ein einziges Mal explizit zu seinem Verhältnis zu Jakob Burckhardt, nämlich im Vorwort zur Studie Bildniskunst und florentinisches Bürgertum:
„Als vorbildlicher Pfadfinder hat Jakob Burckhardt der Wissenschaft das Gebiet der italienischen Kultur der Renaissance erschlossen und genial beherrscht; aber es lag ihm fern, das neuentdeckte Land selbstherrlich auszunutzen; im Gegenteil erfüllte ihn wissenschaftliche Selbstverleugnung so sehr, dass er das kulturgeschichtliche Problem, anstatt es in seiner ganzen künstlerisch lockenden Einheitlichkeit anzupacken, in mehrere äusserlich unzusammenhängende Teile zerlegte, um jeden für sich mit souveräner Gelassenheit zu erforschen und darzustellen.“ 1
Daß in der Kultur der Renaissance die Kunst keine direkte Behandlung erfuhr, führt Warburg hier vor allem auf ökonomisch-pragmatische Gründe zurück, auch wenn es in seinen Augen einen Mangel darstellt, den er in den eigenen Arbeiten - auch wenn er dies sehr vorsichtig formuliert - auszugleichen gedenkt: „Dass wir uns der überlegenen Persönlichkeit Jakob Burckhardts bewusst sind, darf uns nicht hindern, auf der von ihm gewiesenen Bahn weiterzuschreiten.“ 2 Im folgenden bezeichnet Warburg seinen Aufsatz zur florentinischen Bildniskunst auch ausdrücklich als „Ergänzung“ zu einem posthum veröffentlichten Aufsatz Burckhardts über das Porträt (aus den Beiträgen zur Kunstgeschichte von Italien, 1898); ein Um-stand, der zeigt, in welch hohem Maße er sich Burckhardts Arbeiten verpflichtet sah. Vor allem aber war das, was Burckhardt für eine kunstgeschichtliche Kulturgeschichte geleistet hatte, für Warburg, wie die oben zitierten Äußerungen belegen, ein Punkt, an den er in seinen eigenen Arbeiten anknüpfen konnte, über den er aber auch hinausgehen wollte.
Inhalt
1. Aby M. Warburg: Heranführung an einen ungewöhnlichen Kulturwissenschaftler
Warburg und Burckhardt: die Peripherie als geistiges Zentrum
Aby Warburg – Person und Werk
2. Von der Privatbank über die Privatklinik zur Privatbibliothek: Stationen einer Kunsthistoriker-Laufbahn
Biographie und Bibliophilie
3. ‘Zauberhauch der Bücherreihen’: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (K.B.W.)
4. Wider „grenzpolzeiliche Befangenheit“: Warburgs Theorie und Methode
Pathosformeln
Reise zu den Archetypen
Mnemosyne und soziales Gedächtnis
‘Denkraum der Besonnenheit’
5. Abschließender Exkurs: Warburgs Seminar über Jacob Burckhardt im Jahre 1927
Biographisches in chronologischer Abfolge
Literaturverzeichnis
1. Aby M. Warburg: Heranführung an einen ungewöhnlichen Kulturwissenschaftler
Warburg und Burckhardt: die Peripherie als geistiges Zentrum
Ansatzpunkt der Beschäftigung mit Aby Warburg im Rahmen des Seminars „Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert“ waren Verbindungen und Parallelen zwischen Warburg und Jacob Burckhardt.
Warburg äußert sich in seinen Schriften nur ein einziges Mal explizit zu seinem Verhältnis zu Jakob Burckhardt, nämlich im Vorwort zur Studie Bildniskunst und florentinisches Bürgertum:
„Als vorbildlicher Pfadfinder hat Jakob Burckhardt der Wissenschaft das Gebiet der italienischen Kultur der Renaissance erschlossen und genial beherrscht; aber es lag ihm fern, das neuentdeckte Land selbstherrlich auszunutzen; im Gegenteil erfüllte ihn wissenschaftliche Selbstverleugnung so sehr, dass er das kulturgeschichtliche Problem, anstatt es in seiner ganzen künstlerisch lockenden Einheitlichkeit anzupacken, in mehrere äusserlich unzusammenhängende Teile zerlegte, um jeden für sich mit souveräner Gelassenheit zu erforschen und darzustellen.“[1]
Daß in der Kultur der Renaissance die Kunst keine direkte Behandlung erfuhr, führt Warburg hier vor allem auf ökonomisch-pragmatische Gründe zurück, auch wenn es in seinen Augen einen Mangel darstellt, den er in den eigenen Arbeiten – auch wenn er dies sehr vorsichtig formuliert – auszugleichen gedenkt: „Dass wir uns der überlegenen Persönlichkeit Jakob Burckhardts bewusst sind, darf uns nicht hindern, auf der von ihm gewiesenen Bahn weiterzuschreiten.“[2] Im folgenden bezeichnet Warburg seinen Aufsatz zur florentinischen Bildniskunst auch ausdrücklich als „Ergänzung“ zu einem posthum veröffentlichten Aufsatz Burckhardts über das Porträt (aus den Beiträgen zur Kunstgeschichte von Italien, 1898); ein Umstand, der zeigt, in welch hohem Maße er sich Burckhardts Arbeiten verpflichtet sah.
Vor allem aber war das, was Burckhardt für eine kunstgeschichtliche Kulturgeschichte geleistet hatte, für Warburg, wie die oben zitierten Äußerungen belegen, ein Punkt, an den er in seinen eigenen Arbeiten anknüpfen konnte, über den er aber auch hinausgehen wollte. Sein Ziel war es eben, „das kulturgeschichtliche Problem ... in seiner ganzen künstlerisch lockenden Einheitlichkeit anzupacken“ und „auf der von ihm [Burckhardt] gewiesenen Bahn weiterzuschreiten.“ So sieht auch Edgar Wind in seiner Darstellung von Warburgs Begriff der Kulturwissenschaften die methodischen Anregungen, die Warburg durch Burckhardt erfahren hat, gerade darin, daß Warburg „die Arbeit Burckhardts gerade in der Richtung weitergeführt [hat], von der Wölfflin [...] mit vollem Bewußtsein abgebogen war.“[3]
Eine der wesentlichen methodischen Übereinstimmungen beider Wissenschaftler bildet die Beschäftigung mit der Gesamtkultur einer Epoche. Während der Burckhardt-Schüler Heinrich Wölfflin sich nurmehr für das reine künstlerische Sehen interessierte,[4] standen bei Warburg genau wie schon bei Burckhardt die Zeugnisse der Gebrauchs- und Alltagskunst neben den Meisterwerken der Hochkultur gleichberechtigt im Mittelpunkt des Interesses. Warburg zog zum Verständnis der Renaissance u.a. Testamente[5] und Handelskorrespondenz[6] hinzu, und er verfolgte die Wanderung von kulturprägenden Ausdrucksmotiven bis hinein in Werbung und Briefmarken[7] seiner eigenen Zeit.
Sowohl Warburg als Burckhardt beschäftigen sich, ungefähr im Abstand von 30 bis 40 Jahren,[8] ausführlich mit der florentinischen Frührenaissance und entwickeln an ihr die jeweils eigene Methodik sozusagen exemplarisch. Warburg kommt aber trotz der großen Vorbildwirkung Burckhardts[9] zu recht unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Geisteshaltung der Menschen dieser Zeit im Spiegel ihrer Kunstwerke.
In Jacob Burckhardts berühmtem Werk Kultur der Renaissance ist der gesamte zweite Abschnitt Entwicklung des Individuums überschrieben. In dessen ersten Kapitel faßt Burckhardt bereits im zweiten Absatz seine These von der Entwicklung des Individuums in einer vielzitierten Passage zusammen:
„Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Inneren des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn: durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form der Allgemeinheit. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“[10]
Ist für Burckhardt in der zitierten Passage die Renaissance diejenige Epoche, in der der Mensch den „Schleier“ des Mittelalters von den Augen nimmt und als Individuum im Sinne der Neuzeit in Erscheinung tritt, so kann Warburg, in seiner detailreichen Analyse der florentinischen Bildniskunst, nur ein komplexes Nebeneinander von aufkeimendem Selbstbewußtsein florentinischer Patrizier und mittelalterlich-christlicher Frömmigkeit feststellen. Es gibt für ihn keine klare Abfolge, keinen zeitlich eindeutig datierbaren plötzlichen Wandel des Selbstbewußtseins von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe zum modernen Selbstbewußtsein. So sagt Warburg über die Renaissance-Portraits der Sassetti- und der Lorenzo-Familie:
„Die ganz heterogenen Eigenschaften des mittelalterlich christlichen, ritterlich romantischen oder klassisch platonisierenden Idealisten und des weltzugewandten etruskisch heidnisch praktischen Kaufmanns durchdringen und vereinigen sich im Mediceischen Florentiner zu einem rätselhaften Organismus von elementarer und doch harmonischer Lebensenergie, [...]. Er verneint die hemmende Pedanterie des „entweder-oder“ auf allen Gebieten, nicht etwa, weil er die Gegensätze nicht in ihrer Schärfe spürt, sondern weil er sie für vereinbar hält; [...]“[11].
In einem Seminar „Zur kulturwissenschaftlichen Methode“ faßt er 1928 die Frage nach der genauen Abgrenzung zwischen Mittelalter und Renaissance noch einmal prägnant zusammen:
„Gibt es [...] eine durch stilpsychologische Interpretation gewonnene exakte Abgrenzung zwischen Mittelalter und Renaissance? Ein solcher Abgrenzungsversuch, rein auf die Zeit bezogen, kann keine zuverlässigen evidenten Einteilungsprinzipien zu Tage fördern, weil das, was wir mit Mittelalter und Neuzeit bezeichnen, ein Versuch ist, den geistigen Habitus einer bestimmten innerlich zusammenhängenden Gruppe von Menschen einheitlich zu benennen, deren Denkweise wohl nach aussen hin mehr oder weniger vorherrschend nachgewiesen werden kann, in seiner eigentlichen Existenz aber innerhalb der menschlichen Seele wurzelt und nach Gesetzen lebt oder abstirbt, die kein zeitloses „entweder – oder“ des Vorhandenseins kennt.“[12]
In unpublizierten Notizen Warburgs ist auch von „Heroenverehrung“ in der Kultur der Renaissance die Rede; der Cicerone wird fast schon abwertend ein „hedonistischer Reiseführer zur Schönheit“ genannt.[13] Warburg war zu diesem Zeitpunkt mit der Renaissance-Darstellung Burckhardts nicht ganz einverstanden; er wollte in seinen Arbeiten zu Renaissance „auf der von ihm gewiesenen Bahn weiter[..]schreiten“ (s.o.) und Burckhardt ergänzen.
Warburg schickte Burckhardt dann sogar seine Dissertation über Boticelli. Zweifellos interessierte ihn das Urteil desjenigen, auf dessen Weg er „weiterschreiten“ wollte. Burckhardt schrieb ihm dankend zurück:
„ Basel, 27. Dec. 1892.
Verehrter Herr!
Die schöne Arbeit, welche ich mit bestem Dank zurücksende, zeugt von der ungemeinen Vertiefung & Vielseitigkeit welche die Erforschung der Höhezeiten der Renaissance erreicht hat. Sie haben die Kenntnis des socialen, poetischen & humanistischen Mediums, in welchem Sandro lebte und malte, durch Ihre Schrift um einen großen Schritt weiter befördert und Ihre Deutung des ‚Frühlings’ wird ohne Zweifel bleibende Geltung behaupten.
[... – Burckhardt äußert noch einige kleinere Kritikpunkte an Details -...]
Genehmigen Sie den Ausdruck meines ergebensten Dankes
In vollkommener Hochachtung
Jac. Burckhardt.“[14]
Dieser kurze Antwortbrief bezeugt allerdings auch, daß sich Warburg schon von seinem „Vorläufer“ Burckhardt entfernt hatte. Burckhardt erwähnt die von Warburg in ebendieser Dissertationsschrift entwickelte These der Übernahme spezifischer Abbildungsweisen des „bewegten Beiwerks“ (meist im Wind flatternde Kleider und Haare, wobei auf den Bildern charakteristischerweise keinerlei sonstige Windbewegung sichtbar ist) aus der Antike, auf die die Kunst der Renaissance laut Warburg zur Äußerung spezifischer emotionaler Zustände zurückgreift, mit keinem Wort. Vielmehr sieht er die „bleibende Geltung“ der Arbeit vor allem in Warburgs Deutung von Boticellis ‘Frühling’ (Warburg deutete das Bild als zusammengehörig mit der ‘Geburt der Venus’)[15] – was sicherlich auch eine wichtige Erkenntnis war. Nur die Tatsache des von Warburg erwiesenen bewußten Rückgriffs auf bestimmte Motive der Antike scheint Burckhardt nicht sehr interessiert zu haben, jedenfalls war sie ihm keine Erwähnung wert.
Warburg war, wie Jacob Burckhardt auch, ein Kunst- und Kulturhistoriker, der an der „Peripherie“ arbeitete. Burckhardt blieb zeitlebens an der kleinen Universität Basel, Warburg wurde erst kurz vor seinem Tod Honorarprofessor an der neugegründeten Hamburger Universität. Beiden blieben große akademische Ehren immer verwehrt, da sie mit ihrer Methodik und Thematik nicht in den Kanon der akademischen Praxis hineinpaßten. Es war aber wohl gerade diese Arbeit am Rande des akademischen Betriebes, die Burckhardt genau wie Warburg erst das möglich machte, was nachher den Ruhm von beiden begründen sollte. Burckhardt hatte abseits von den akademischen Zentren die Möglichkeit, seinen eigenen Ansatz fruchtbar zu verfolgen; Warburg war überhaupt nicht an die Weisungen einer Universität gebunden; er hatte durch die Finanzmittel seiner Familie die Möglichkeit, seine Forschungen und den Aufbau seiner Bibliothek ganz nach eigenen Vorstellungen durchzuführen, ohne daß akademische Gremien o.ä. ihn in seiner Konzeption hätten behindern können. Auch die 1933, vier Jahre nach Warburgs Tod, notwendig gewordene Emigration der Bibliothek und somit ihr Fortbestand war allein durch die Tatsache möglich, daß sie Privatbesitz eines amerikanischen Bankhauses war.[16]
Im Jahre 1927 beschäftigte sich Warburg nach langer Zeit noch einmal mit Burckhardt: er veranstaltete ein Seminar über ihn. Warburgs Sicht auf Burckhardts Arbeiten hatte sich zu diesem Zeitpunkt durch Erscheinen der nachgelassenen Schriften Burckhardts gewandelt und sein hartes Urteil über die „Heroenverehrung“ in der Kultur der Renaissance gemildert. In diesem Seminar ging es jedoch erstaunlicherweise, wie Bernd Roeck in einer Auswertung der erhaltenen Seminarunterlagen zeigen kann,[17] weniger um Burckhardts Methode als Kunst- und Kulturhistoriker, sondern um die Persönlichkeit des Gelehrten. Roeck stellt in diesem Zusammenhang die These auf, daß Warburg in Burckhardt den Typus des Wissenschaftlers sah, der im Vergleich mit Warburg selbst ein Ideal verköperte, das Warburg zeitlebens anstrebte und nicht zu erreichen meinte.[18]
Im Folgenden soll versucht werden, die besondere und bis dahin einzigartige Methode Aby Warburgs darzustellen, aber auch seine Person in Bezug zu seinem Werk zu setzen. Abschließend soll deutlich werden, warum Warburg aus seinen theoretischen Vorannahmen heraus die Renaissancedarstellung Burckhardts modifizieren mußte, und warum ihn gegen Ende seines Lebens dessen Persönlichkeit fast mehr als sein Werk interessierte.
Aby Warburg – Person und Werk
In seiner Grabrede auf Aby Warburg sagt Ernst Cassirer:
„Warburg war nicht in dem Sinne ein Wissenschaftler und Forscher, daß er von hoher Warte herab dem Spiel des Lebens gelassen zusah und sich an ihm im Spiegel der Kunst ästhetisch erfreute. Er stand immer mitten im Sturm und Wirbel des Lebens selbst; er griff in seine letzten und tiefsten tragischen Probleme. [...] Denn in seinem eigenen Inneren hat Warburg von früh an den Kampf gekämpft, den er [...] gewissermaßen in der Projektion auf die Geistesgeschichte vor uns hinstellt. Den Weg „per monstra ad sphaeram“, wie er ihn zu nennen pflegte, ihn verstand er, weil er selbst ihn immer wieder gegangen war und immer wieder gehen mußte.“[19]
In der Tat ist Warburgs Biographie fast genau so bemerkenswert und ungewöhnlich wie die von ihm entwickelte spezifische kulturwissenschaftliche Methode. Seine Selbstbeschreibung „Amburghese di cuore, ebreo di sangue, d’ anima Fiorentino“ (Jude von Geburt, Hamburger im Herzen, im Geiste ein Florentiner)[20] verweist auf seine Stellung, aber auch seine Vermittlerposition zwischen den Kulturen.
Er lebte in Hamburg und Florenz, fuhr als junger Mann nach Amerika, um dort die „primitiven“ Kulturen der Pueblo-Indianer zu studieren, und fand in ihnen den gleichen Kampf um einen den Leidenschaften und bedrohlichen mythischen Urkräften mühsam vom Menschen abgerungenen „Denkraum der Besonnenheit“, der ihn auch an der florentinischen Frührenaissance faszinierte. Bei Ende des ersten Weltkriegs erlitt er einen nervösen Zusammenbruch und steigerte sich bis zum Wahn in seine Angst vor antisemitischen Angriffen auf seine Familie hinein. Fast sechs Jahre seines Lebens verbrachte er in Folge dieses Zusammenbruchs im Kreuzlinger Sanatorium von Ludwig Binswanger, einem ehemaligen Assistenten C.G. Jungs und lebenslangen Freund von Sigmund Freud.[21] Aus dem Sanatorium entlassen, („zur Normalität beurlaubt“, wie er es nannte[22]) blieben ihm noch vier Jahre um den von ihm geplanten Atlas der menschlichen Gebärdensprache zu beenden, der seine bisherigen Arbeiten zusammenfassen und methodisch fundieren sollte. Dieses Werk hat Warburg nicht vollenden können.[23] Sein sozusagen materiell greifbares Lebenswerk, die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, existiert jedoch noch heute, nach der Emigration 1933 fortgeführt in London, und die Beschäftigung mit Leben, Werk und Methodik Warburgs reißt seit zwanzig Jahren nicht mehr ab. Das jahrzehntelang fremdgenutzte Gebäude der Bibliothek wurde 1993 von der Stadt Hamburg erworben und ist nun unter dem Namen Warburghaus wieder ein Forschungsinstitut. Dort wird auch eine Gesamtausgabe von Warburgs Schriften sowie eine Pubikation des Nachlasses vorbereitet.
Als Sproß einer reichen Hamburger Bankiersfamilie hatte Warburg die Finanzmittel seiner Familie zum Aufbau einer umfangreichen und in ihrer Art einzigartigen Privatbibliothek genutzt. Bis zum Bau eines eigenen Bibliotheksgebäudes im Jahre 1925/26 wurden sämtliche Bücher in Warburgs Privathaus aufbewahrt und dort bereits nach einem genau ausgedachten, aber jederzeit flexiblen Ordnungssystem im Hause verteilt.[24] Diese Privatbibliothek wurde zu einem geistigen Anziehungspunkt, weil Warburg und später Fritz Saxl, der die Bibliothek während Warburgs Aufenthalt im Sanatorium weiterführte, diese Bücherschätze bereitwillig anderen Wissenschaftlern zur Verfügung stellten. Hamburg war zu diesem Zeitpunkt eine weltoffene Handelsstadt mit reichem Bildungsbürgertum, aber (noch) ohne Universität. Fritz Saxl bemerkte 1943 in seinem Versuch einer Geschichte der Bibliothek:
„Das war der richtige Boden für eine private Gründung. [...] Zu Beginn dieses Jahrhunderts ... war Hamburgs Schulwesen fortschrittlich, die Erwachsenenbildung hochentwickelt, die öffentlichen Sammlungen blühten – alles in merklichem Gegensatz zum übrigen Deutschland. Hamburg schaute nach vorn, blieb aber isoliert, sowohl in seiner fortschrittlichen wie in seiner ganz stark traditionsgebundenen Haltung. Auch Warburgs Gründung blieb isoliert, und das junge Unternehmen konnte sich ungestört vom Lärm eines alteingesessenen Universitätsbetriebes entwickeln.“[25]
Mit Warburgs Rückkehr aus Kreuzlingen und dem Bau des Bibliotheksgebäudes wurde die Bibliothek institutionalisiert und für Jedermann zugänglich. Zudem war 1920 in Hamburg die Universität gegründet worden, so daß die Bibliothek nunmehr auch in einem allgemein wissenschaftlich tätigen Umfeld stand. Zwei Publikationsreihen waren noch während Warburgs Abwesenheit gegründet worden, die ein Forum für die Forschungsthematik der Bibliothek und derjenigen Wissenschaftler, die im Umkreis und mit der Bibliothek arbeiteten, boten.
Warburg konnte so anläßlich des ersten Vortrags in der Bibliothek nach seiner Rückkehr aus dem Sanatorium in Kreuzlingen feststellen, daß die Bibliothek eine: „ ... Stätte geistiger Gemeinschaft für diejenigen, die eine festere Methode der Kulturwissenschaft ersehnen, sei es in eigener Forscherarbeit, sei es bei rein aufnehmendem Studium kulturwissenschaftlicher Werke“[26] geworden war.
Das größte Problem einer „Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren“ (so der Titel eines von Dieter Wuttke herausgegebenen Bandes[27]) ist die fehlende systematische Grundlegung seiner Methodik in einem Hauptwerk. Warburg hat im Vergleich mit dem enormen Umfang seines Forschungsinteresses (und wohl auch des fragmentarischen Nachlasses) nur wenige Schriften veröffentlicht, meist sehr verdichtete Studien zu einem einzigen Problemzusammenhang. Eine explizite methodische Grundlegung sucht man vergeblich. In der Rezeption Warburgs und der Berufung auf ihn ist es nun ein Leichtes, sich die „Warburg’sche“ Methode relativ frei zurechtzulegen, zumal sich auch die kunsthistorische Forschung nicht sicher ist, was genau Warburgs Kulturtheorie ausmacht. So konstatiert dann auch Tilmann von Stockhausen eine gewisse Legendenbildung um Person und Werk:
„Die erneute Beschäftigung mit Warburg seit den sechziger Jahren hat zu einer Art Legendenbildung geführt, die wohl dem Bedürfnis entsprang, für die identitätslose Kunstgeschichte eine Vaterfigur zu finden. Die Vereinnahmung Warburgs für die Ikonologie führte zu dem Phänomen, daß man sich zwar für Warburg interessierte, seine Schriften aber nicht las.“[28]
[...]
[1] Bildniskunst und florentinisches Bürgertum. I. Domenico Ghirlandaio in Santa Trinita. Die Bildnisse des Lorenzo de´ Medici und seiner Angehörigen. Leipzig 1902, 5f. Zuletzt in: Wuttke, Dieter (Hrsg.): Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Baden-Baden: Koerner 1979 (Saecvla Spiritalia; 1), S. 65-102, hier S. 67f. Im folgenden wird dieses Werk zitiert als ‘ASW’.
[2] ebda.
[3] Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik. [Zuerst 1931] In: ASW, S. 163-179. Hier zitiert S. 167.
[4] vgl. hierzu die Ausführungen bei Wind, a.a.O.
[5] Francesco Sassettis letztwillige Verfügung. Leipzig 1907. Zuletzt in: ASW, S. 137-63.
[6] Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance. Studien I; in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlung 23 (1902); zuletzt in ASW, S. 103-124.
[7] Im Material zu Warburgs unvollendetem Spätwerk, dem „Mnemosyne-Atlas“, findet sich u.a. eine Reisewerbug der Hapag-Lloyd; Warburg klassifiziert die abgebildete Reisende als „heruntergekommene Nymphe“; vgl. Hofmann, Werner (Hg.): Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg. Frankfurt/ M.: Europäische Verlagsanstalt 1980 (Europäische Bibliothek; 1), Abb. S. 109 und Anm. 35, S. 111. Dieses Werk wird im Folgenden als Hofmann 1980 zitiert. Ebenso waren Briefmarken Teil des Mnemosyne-Materials, vgl. Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/ M.: Europäische Verlagsanstalt 1981 [Engl. EA 1970], S. 352, Abb. 134, 136. Dieses Werk wird im Folgenden zitiert als Gombrich 1981.
[8] Seine Dissertation über „Sandro Boticellis ‚Geburt der Venus’ und ‚Frühling’“ (1893) schrieb Warburg noch zu Burckhardts Lebzeiten und schickte ihm sogar ein Exemplar; vgl. die Ausführungen dazu weiter unten.
[9] Vgl. die oben angeführte Stelle aus der Einleitung zu Warburgs „Bildniskunst“. Fritz Saxl, Freund Warburgs und späterer Leiter der Bibliothek Warburg, berichtet außerdem, daß Warburg Burckhardts Kultur der Renaissance „seit seiner Studienzeit liebte, bewunderte und immer wieder las“; s. Fritz Saxl: Warburgs Besuch in Neu-Mexico. In: ASW, S. 317-322, hier zitiert S. 319.
[10] Erstausgabe Basel: Schweighauser’sche Verlagshandlung 1860. Hier zitiert nach der Ausgabe: Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Hg. von Konrad Hoffmann. Stuttgart: Kröner 111988, S. 99 (basierend auf der Ausgabe von Walter Goetz, Leipzig 1922, der der Text der 2., von Burckhardt noch selbst durchgesehenen und ergänzten Auflage, Leipzig 1869, zugrundeliegt).
[11] Bildniskunst und florentinisches Bürgertum, a.a.O. (ASW), S. 74.
[12] Zitiert nach Roeck, Bernd: Aby Warburgs Seminarübungen über Jacob Burckhardt im Sommersemester 1927. In: IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle. X (1991), S. 65-89, hier S. 88. Von Roeck als Quelle angegeben: The Warburg Institute, London, Warburg-Zimmer, Nr. 99, „Schlussübung“, Seminar 1927/28, final session II; vgl. auch Gombrich 1981, S. 357f. Zu Warburgs Seminar über Burckhardt vgl. den Schlußteil dieser Arbeit.
[13] Gombrich 1981, S. 183f.
[14] abgedruckt in: Heckscher, William S.: Die Genese der Ikonologie. In: Ekkehard Kaemmerling (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Bd. 1: Ikonographie und Ikonologie. Köln: DuMont 1979, S. 112-164; hier zitiert S. 145 (Anm. 6).
[15] Warburg, Aby: Sandro Boticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance. Hamburg und Leipzig: Leopold Voss 1893. Zuletzt in: ASW, S. 11-64; die Deutung des ‘Frühling’ als Fortsetzung und Ergänzung der ‘Geburt der Venus’ findet sich auf S. 39 (bzw. S. 53 in den ASW).
[16] Stockhausen, Tilmann von: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Architektur, Einrichtung und Organisation. Hamburg: Dölling und Galitz 1992, S. 26. Dieses Werk wird im Folgenden zitiert als ‘Stockhausen 1992’.
[17] Roeck, Bernd: Aby Warburgs Seminarübungen über Jacob Burckhardt im Sommersemester 1927. In: IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle. X (1991), S. 65-89.
[18] Vgl. dazu die o.a. Arbeit von Roeck sowie die Ausführungen am Schluß dieser Arbeit.
[19] Ernst Cassirer: Worte zur Beisetzung von Professor Dr. Aby M. Warburg. In: Mnemosyne. Beiträge zum 50. Todestag von Aby M. Warburg. Hg. von Stephan Füssel. Göttingen: Gratia 1979, S. 15-22; hier zitiert S. 18f.
[20] Bing, Gertrud: Aby M. Warburg. Vortrag anläßlich der feierlichen Aufstellung von Aby Warburgs Büste in der Hamburger Kunsthalle am 31. Oktober 1958. Hamburg 1958
[21] Zu Warburgs Zeit im Sanatorium in Kreuzlingen vgl. den Aufsatz von Karl Königseder Warburg im „Bellevue“. In: Galitz, Robert und Brita Reimers (Hg.).: Aby M. Warburg. „Ekstatische Nymphe ... trauernder Flußgott“. Portrait eines Gelehrten. Hamburg: Dölling und Galitz 1995 (Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung; 2), S. 74-98. Dieses Werk wird im Folgenden als ‘Galitz/Reimers 1995’ zitiert.
[22] vgl. dazu den Aufsatz von Claudia Naber: „Heuernte bei Gewitter“: Aby Warburg 1924 – 1929. In: Galitz/ Reimers 1995, S. 104 – 129, hier zitiert S. 104.
[23] Zum Mnemosyne-Atlas und zu Rekonstruktionsversuchen des unvollendeten Werkes vgl. Peter van Huisstede: Der Mnemosyne-Atlas. Ein Laboratorium der Bildgeschichte. In: Galitz/Reimers 1995, S. 130–171.
[24] Stockhausen 1992, S. 75f.
[25] Unvollendete Aufzeichnungen von Fritz Saxl unter der Überschrift ‘Die Geschichte der Bibliothek Aby M. Warburgs (1886 – 1944)’; 1970 erstmals von Gombrich in seiner ‘Intellektuellen Biographie’ veröffentlicht; auch in ASW, S. 335-346; hier zitiert S. 336.
[26] Warburg, Aby: Zum Vortrage von Karl Reinhardt über ‚Ovids Metamorphosen’ in der Bibliothek Warburg am 24. Oktober 1924, S. [1]f. (Privatdruck); zitiert nach: Galitz/Reimers 1995, S. 106.
[27] Wuttke, Dieter: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren. 2 Bde. Baden-Baden: Koerner 1996
[28] Stockhausen 1992, S. 11
- Arbeit zitieren
- Jutta Faehndrich (Autor:in), 1999, Aby Warburg - Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23210
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