II. Internationale Adorno-Konferenz am Institut für Sozialforschung/ Frankfurt am Main (25.9.-27.9.2003)


Skript, 2004

21 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

0. Einleitung

I. Vorträge
1. Eröffnungsvortrag: Jürgen Habermas:
2. Jan Philipp Reemtsma: Adorno und die Literatur
3. “Moral und subjektiver Impuls“
3.1 Robert Pippin
3.2 Christoph Menke
4. "Aspekte der Ästhetik"
4.1 Albrecht Wellmer
4.2 Lydia Goehr
5. "Mikrosoziologie des Sozialen": Sighard Neckel

II. Workshops
1. Workshop I: Dialektik der Aufklärung (Gunzelin Schmid Noerr)
2. Workshop II: Erziehung zur Mündigkeit (F.-O. Radtke)
3. Anmerkungen zum Workshop III: Minima Moralia

0. Einleitung:

Vom 25.9. – 28.9.2003 fand am IfS in Frankfurt am Main zu Adornos 100. Geburtstags die II. Internationale Theodor W. Adorno Konferenz statt. Der Umgang mit den Schriften Adornos hat sich seit seinem Tod 1969 versachlicht. Eine erste fundamentale Auseinandersetzung mit der Philosophie und Sozialwissenschaft Adornos fand auf der von v. Friedeburg und Habermas 1983 einberufenen ersten Adornokonferenz statt. Die Rückführung der Kritischen Theorie in die Schulphilosophie, Habermas sog. “linguistischer Turn”, war damals schon vollzogen. Auf dieser 2003 stattfindenden Konferenz war Adornos moralische Autorität nur noch mittelbar zu spüren und die Auseinandersetzung mit seinem Werk auf eine nüchterne, aber anregende Basis gehoben. Dass Adornos Philosophie wie Sozialwissenschaft immer noch als Grundlage zu einer kritischen Reflexion von Gesellschaft dienen kann, wurde in den Beiträgen der Symposiumsteilnehmer deutlich. Hier habe ich die von mir besuchten Veranstaltungen im Hörsaal VI u.a. zusammengefasst: So stellt z.B. Habermas die deterministischen Anmaßungen der Kognitionswissenschaften und ihre Nicht-Integration in humanwissenschaftliches Gedankengut in den Vordergrund seiner Überlegungen. Reemtsma zeigt, dass Adornos projektive Liebe zu literarischen Texten nur bestimmte Tendenzen der Zeit in der Literatur erfasste. Christoph Menke begreift die Adornosche Tugendlehre als Verantwortungsethik politischen Handelns, das jedoch im präpolitischen Zustand einer verkehrten Welt verbleibt. Albrecht Wellmer hinterfragt die musikalische Fortschrittshypothese Adornos genauso wie seine Dichotomisierung von U- und E-Musik. Gleichzeitig gesteht er aber der Theorie der Kulturindustrie partielle Gültigkeit zu, genauso wie Sighard Neckel für Adornos kapitalismusbedingte „Selbstbehauptung ohne Selbst“ Belege in der Gegenwart findet, freilich nicht ohne dieser eine „Selbstbehauptung mit Selbst“ gegenüberzustellen, die den Sozialtypus des „Reflexiven Mitspielers“ auszeichnet.

Die Workshops setzen sich einerseits mit einer Strukturanalyse der „Dialektik der Aufklärung“, andererseits mit Adornos pädagogischen Vorstellungen auseinander.

1. Eröffnungsvortrag:

Jürgen Habermas:

'Ich selbst bin ja ein Stück Natur' - Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit.

Habermas erklärte aus Adornos Moralphilosophie und deren Freiheits- und Determinismusbegriff die grundlegende Dichotomie der gegenwärtigen Gen-Technik-Debatte und die sich daraus ergebende Problematik. Die eine Seite der Debatte besteht aus der Argumentation einer instrumentellen Vernunft in den Kognitionswissenschaften. Dieser steht die Perspektive der Betroffenen im gesellschaftlichen bioethischen Diskurs gegenüber. Hinter dieser Unterscheidung stehen zwei grundlegende Wissenschaftsperspektiven: Die auf das Argument rekurrierende Metaperspektive der Beobachtung einerseits und die auf Erfahrung bezogene Teilhabe andererseits. Beide Perspektiven bilden in der Gen-Technik-Debatte und der Hirnforschung keine Einheit mehr (Entzweiung) und somit auch keine Grundlage für einheitliches moralisches Entscheiden. Der technische Verwertungszusammenhang der Bio- und Naturwissenschaften könne – obwohl er und gerade weil er nur auf "harte Fakten" verweise – nur ein geschrumpftes Weltbild, das nicht Wissenschaft, sondern schlechte Metaphysik sei, hervorbringen (vgl.: FAZ v.26.09.03: 35). Es handele sich um die Ontologisierung naturwissenschaftlicher Fakten., die "nicht hinreiche, die vom Menschen beanspruchten Sinnzusammenhänge 'erschöpfend zu objektivieren'" (ebd.). Habermas erklärt das Unverständnis zwischen Expertengruppen und Betroffenen durch eine "unüberbrückbare semantische Kluft" zwischen Alltags- und Wissenschaftssprache. Diesem Fachvokabular fehle die Möglichkeit einer "Verkörperung des Geistes in intersubjektiv geteilten Praktiken", da sie nur auf eugenische Argumente verweisen.

Als Grundlage für auf die Gesamtgesellschaft bezogene Entscheidungen kann jedoch nur ein allgemeines Sittengesetz und die damit verbundene Rekursion auf allgemeingültige Werte dienen. Dies kann nicht als reduktionistisches naturwissenschaftliches Programm geschehen, sondern nur in breiten philosophischen Sinnzusammenhängen. In diesem Zusammenhang bemüht Habermas Adornos Moralphilosophie und die darin enthaltene dreistufige Zusammensetzung eines performativen Handlungsbewusstseins, als da wären: erstens die auf Stimmungen, Impulsen und Affekten basierenden archaischen Anfänge einer nicht-entzweiten Natur; zweitens der Leib und seine Lebensgeschichte; und drittens, und hier liegt nach Adorno die Möglichkeit, sich der Herrschaft der reinen instrumentellen Vernunft zu entziehen und eben auf Werte zurückgreifen zu können: die charakterbildende Kraft des Willens. Das Sittengesetz kann dabei zur Widerstandsgrundlage des Willens werden. In einem Gesellschaftszustand einer entzweiten Natur, aus der die instrumentelle Vernunft entspringt und der nach Adorno die systemische Entfesselung der Produktivkräfte inhärent ist, wird die dem Menschen zugeschriebene Natur schnell Projektionsfläche zu dessen materialistischer Verfügbarmachung und damit zum Problem (es handelt sich dann um eine gesellschaftlich konstituierte Natur). Die verkürzten Gedanken einer eugenistischen Naturwissenschaft tragen somit systematisch zur vergegenständlichten Subjektivität des Menschen bei, ohne weiteren philosophischen Sinnzusammenhängen oder letzten ethischen Werten Genüge zu tun. Die Kluft zwischen praktischer und epistemischer Verfügbarmachung deutet auf semantische Löcher hin, deren Ursprung zwar nicht mehr durch das normative Konzept einer entgleisenden Naturgeschichte, die wie bei Adorno auf dem Geschichtsbild einer kausal geschlossenen Welt beruht, hinreichend erklärt werden kann, die aber die Gentechniker und Hirnforscher auf den von ihnen implizierten biologistischen Gehalt durch die mangelnde Objektivierung ihrer Erkenntnisse aufmerksam machen müssen. Ein scheinbar wissenschaftliches Bild vom Menschen, das überwiegend naturalistische Züge trägt, wird nur ein gefährliches und verfälschtes Menschenbild hervorbringen, das tatsächlich das Opfer seiner eigenen Verdinglichung wird. Die Grenze zwischen Vernunft und Natur verläuft nach Adorno nicht zwischen Materie und Geist, sondern sie liegt in der Empirie. Hier stößt der verkürzende Materialismus an seine eigene Grenze. Der reine Subjektcharakter der Beobachtung muss mit der Objektebene der Teilhabe reflexiv verzahnt sein.

2. Jan Philipp Reemtsma: Adorno und die Literatur

Adorno unterliegt nach Reemtsma, wie in seinen ästhetischen Schriften überhaupt und auch in den sozialphilosophischen, dem eigenen literarischen – eher engem - Rezeptionskanon, der mit der Unterscheidung von sozialisierter und emotionaler Vorliebe und Abneigung aufgeschlüsselt werden kann. Durch den Rezeptionskanon seien auch Adornos Annahmen zum Zusammenhang zwischen einer analogen Entwicklung des literarischen wie bürgerlichen Subjekts zu erklären. Zu Adornos Vorlieben zählte die Literatur des 17. und 19. Jh. und die zeitgenössische Avantgarde. Goethes Iphigenie und Becketts „Endspiel“, Eichendorff und George werden präferriert, auf Ablehnung stoßen Schiller und Kleist, Brecht und Lukács. Adorno unterscheidet in seinen Essays und Schriften zur Literatur zwischen diskursiver und literarischer Rede. Die diskursive Rede entspricht der begrifflichen Fassung der Welt, sie unterliegt dem Synonymitäts- (keine Metaphern etc.) und dem Rationalitätsprinzip und ist Teil jener überblickenden Rationalität, die in ihrem Subsumtionscharakter zur Beherrschung der Welt durch die Selbstbeherrschung des Menschen führt und die in der klassischen Philosophie Aufklärung genannt wird. Die literarische Rede dagegen funktioniert nur auf einer subjektiv-individuellen Ebene, sie nimmt das Einzelne (vs. das Allgemeine) in Betracht, sie ist gekennzeichnet durch Rhythmus und Anspielungspotential, ihre Nähe zum Ende des sprachlichen Kommunizierens läßt ihr einen Teil irren Gehalts innewohnen. Sie stellt das Gegenteil zur Rationalität der diskursiven Rede dar, es handelt sich bei diesem Gegensatzpaar um das Äquivalent des Gegensatzpaars von Aufklärung und Mythos, das in der Dialektik der Aufklärung behandelt wird: Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück (Dialektik der Aufklärung).

Adornos literaturtheoretischer Ansatz ist normativ. Literatur habe Gesellschaft zu erfassen, samt ihren Brüchen. Dieser Aufgabe kommt die Romanform in der Moderne nach Adorno nicht mehr nach. Adorno hatte beim klassischen Roman Flauberts Madame Beauvery im Auge und lehnt dessen Guckkastenbühnencharakter ab. Hier zeigt sich die kanonische Beschränktheit von Adorno: Anstatt in Madame Beauvery die Vollkommenheit des traditionellen Romans, also eines speziellen Romantyps unter anderen zu sehen, setzt er diesen mit dem Roman allgemein gleich und geißelt dessen Realitätsferne. Für Adorno stellen die Werke von Autoren wie Kafka, Musil und Joyce die darstellerische Möglichkeit dar, die funktionale Zerissenheit von modernen Gesellschaften zu erfassen. Die klassische Romanform erscheint ihm jedoch als Abbild der kapitalistischen Gesellschaft und damit der verwalteten Welt, der Inhalt und Gegenstand abhanden gekommen sind. Die Handlungsrationalität ist in Systemrationalität umgeschlagen. Die einzige Legitimation der Literatur liege in ihrem Weigerungspotential: 'Es soll anders sein', diese normative Forderung wird aus dem tatsächlichen Befund der Welt abgeleitet. Im authentischen Kunstwerk der Literatur muss sich Verbindlichkeit und Subjektivität ausdrücken. Die Sprache selbst muss nach Emanzipation suchen. Sie bekommt einen Subjektcharakter, der das Individuum bestimmt. Dies formulierte Adorno bildhaft, als er über George schrieb: "Sprache durchrauscht ihn wie ein Strom". Das Telos der poetischen Rede ist somit das Rauschen, das so mit diffusen Kommunikationen überladen ist, dass es nicht mehr Instrument sein kann (wie etwa einzelne Begriffe der Sprache). In dieser Eigenbewegung der Sprache ist diese eine Selbstredende, die zu Worte kommt, indem sie schweigt. Das Ziel der literarischen Sprache erscheint nach Adorno demnach das Paradox der schweigenden Sprache. Kunst hat nach Adorno teil zu haben an der Dialektik der Zivilisation, die zwischen Aufklärung und Mythologie pendelt, und in der Stummheit der schweigenden Sprache liegt für Adorno das Ziel der Kunst in der Nachahmung der Natur, in einer vegetativen Ich-Ferne, die ihr Glück im Tiersein erfährt, womit er sich in der Tradition Nietzsches bewegt (Glück des Denkens macht nicht glücklich...).

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Details

Titel
II. Internationale Adorno-Konferenz am Institut für Sozialforschung/ Frankfurt am Main (25.9.-27.9.2003)
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
II. Internationale Adornokonferenz 2003
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V23118
ISBN (eBook)
9783638263054
Dateigröße
521 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Internationale, Adorno-Konferenz, Institut, Sozialforschung/, Frankfurt, Main, Internationale, Adornokonferenz
Arbeit zitieren
Dominik Sommer (Autor:in), 2004, II. Internationale Adorno-Konferenz am Institut für Sozialforschung/ Frankfurt am Main (25.9.-27.9.2003), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23118

Kommentare

  • Gast am 2.10.2008

    politische handlungsfreiheit und politische selbstbestimmung im grundgesetz.

    die bürgerInnen können als reflexive mitspieler in unserer demokratie betrachtet werden.
    dabei können sie sich auf das grundgesetz berufen.
    ihm ist ein ungeschriebenes individuelles und kollektives recht auf politische handlungsfreiheit und politische selbstbestimmung zu entnehmen.
    diese rechte sind beim 146 GG vom gesetzgeber verletzt und mißachtet worden.
    bis heute hat kein deutscher verfassungskonvent der bürgerInnen getagt und es gab auch noch keine volksabstimung über die 1. gesamtdeutsche verfassung.
    günter grass z.b. bezeichnete dies als "staatsstreich von oben".

    weiteres: "carlo di fabio" GOOGLE

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Titel: II. Internationale Adorno-Konferenz am Institut für Sozialforschung/ Frankfurt am Main (25.9.-27.9.2003)



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