Die von Rudolf Steiner (1861-1925) entwickelte Anthroposophie (von griech.:
anthropos=Mensch) dient als Leitidee für die Waldorfpädagogik. Steiner beabsichtigte, das
ganzheitliche Wesen des Menschen zu erfassen, also nicht nur die faktisch wahrnehmbare und
weitgehend erforschte Seite des Menschen - Körperbau, physiologische Prozesse, etc. -,
sondern auch das seelisch-geistige Gefüge. Steiner erkannte in diesem übersinnlichen
Vermögen die strukturierende Kraft, welche die Entwicklung des Menschen vorantreibt. Aus
seinen Erkenntnissen gewann Steiner ein erweitertes Menschenverständnis, das die Grundlage
für seine Erläuterungen zur Entwicklung des Kindes bis zum Erwachsenenalter bildete.1 Die
Faktoren, die laut Steiner diese Evolution bedingen und steuern, werden im folgenden zweiten
Kapitel dargestellt. Sie bilden den Hintergrund für die pädagogische Arbeit in den
Waldorfkindergärten und -schulen. Die Schilderung der pädagogischen Umsetzung in den
Waldorfinstitutionen folgt in Kapitel 3. An dieser Stelle wird die spezifische Schul- und
Unterrichtsorganisation der Waldorfschulen beschrieben und ihre Begründung aus Steiners anthroposophischem Menschenbild abgeleitet. Abschließend folgt im vierten Kapitel ein
zusammenfassendes Resümee.
Die vorliegende Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, die anthroposophische
Lehre samt ihrer Begründungszusammenhänge ist hierzu viel zu umfangreich. Auch eine
kritische Hinterfragung der Anthroposophie und der aus ihr resultierenden pädagogischen
Maßnahmen würde im Rahmen der Themenstellung zu weit führen. Obwohl sich an einigen
Stellen im Text Ansatzpunkte für kritische Einwände ergeben, wird auf die Ausformulierung
einer Kritik bewußt verzichtet. [...]
1 vgl.: Kiersch 19979, S. 11 ff.; Leber 1985², S. 4 ff. Zur Biographie Steiners: Hellmich 1992; Hemleben 1988.
Gliederung
1. Einleitung
2. Die Entwicklung des Kindes nach Rudolf Steiner
2.1 Die frühe Kindheit
2.2 Die Mitte der Kindheit
2.3 Das Jugendalter
3. Die Umsetzung der anthroposophischen Erkenntnisse in der Waldorfpädagogik
4. Resümee
1. Einleitung
Die von Rudolf Steiner (1861-1925) entwickelte Anthroposophie (von griech.: anthropos =Mensch) dient als Leitidee für die Waldorfpädagogik. Steiner beabsichtigte, das ganzheitliche Wesen des Menschen zu erfassen, also nicht nur die faktisch wahrnehmbare und weitgehend erforschte Seite des Menschen - Körperbau, physiologische Prozesse, etc. -, sondern auch das seelisch-geistige Gefüge. Steiner erkannte in diesem übersinnlichen Vermögen die strukturierende Kraft, welche die Entwicklung des Menschen vorantreibt. Aus seinen Erkenntnissen gewann Steiner ein erweitertes Menschenverständnis, das die Grundlage für seine Erläuterungen zur Entwicklung des Kindes bis zum Erwachsenenalter bildete.[1] Die Faktoren, die laut Steiner diese Evolution bedingen und steuern, werden im folgenden zweiten Kapitel dargestellt. Sie bilden den Hintergrund für die pädagogische Arbeit in den Waldorfkindergärten und -schulen. Die Schilderung der pädagogischen Umsetzung in den Waldorfinstitutionen folgt in Kapitel 3. An dieser Stelle wird die spezifische Schul- und Unterrichtsorganisation der Waldorfschulen beschrieben und ihre Begründung aus Steiners anthroposophischem Menschenbild abgeleitet. Abschließend folgt im vierten Kapitel ein zusammenfassendes Resümee.
Die vorliegende Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, die anthroposophische Lehre samt ihrer Begründungszusammenhänge ist hierzu viel zu umfangreich. Auch eine kritische Hinterfragung der Anthroposophie und der aus ihr resultierenden pädagogischen Maßnahmen würde im Rahmen der Themenstellung zu weit führen. Obwohl sich an einigen Stellen im Text Ansatzpunkte für kritische Einwände ergeben, wird auf die Ausformulierung einer Kritik bewußt verzichtet.
Unter der aufgeführten Literatur ist besonders auf die Publikation Die Pädagogik der Waldorfschule und ihre Grundlagen, herausgegeben von Stefan Leber (1985²), zu verweisen, die eine Vielzahl erhellender Aufsätze zur Biographie Rudolf Steiners, zur Anthroposophie und zur methodischen und didaktischen Umsetzung in den Waldorfschulen enthält. Ferner ist an dieser Stelle das Buch Die Waldorfpädagogik von Johannes Kiersch (19979) zu nennen, das einen einführenden Überblick über die Thematik bietet. Auch der Sammelband Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik, herausgegeben von Fritz Bohnsack / Ernst-Michael Kranich (1990), hält eine Vielzahl informativer Arbeiten zur Methodik, zum Unterricht und zur Organisation der Waldorfschulen bereit. Darüber hinaus werden kritische Ansichten zur Steiner-Pädagogik erörtert.
Es bleibt darauf hinzuweisen, dass der Großteil der benutzten Fachliteratur - wie auch generell der gegenwärtig existente wissenschaftliche Literaturbestand zur Thematik - aus der Feder von Waldorfpädagogen stammt. Dieses Faktum garantiert einerseits die Bereitstellung fundierter Informationen aus erster Hand, andererseits aber auch eine subjektiv-parteiliche Darstellungsweise des behandelten Gegenstandes (letztgenanntes kann jedoch für die vorliegende rein deskriptive Arbeit in Kauf genommen werden).
2. Die Entwicklung des Kindes nach Rudolf Steiner
Rudolf Steiner war überzeugt, dass der Bereich des Geistigen ebenso objektiv erfaßbar sei wie der der sinnlichen Wahrnehmung. Aus diesem Grunde entwickelte er Methoden, mit deren Hilfe auch das Übersinnliche nachzuvollziehen sei. Das Ergebnis dieser Studien ist das, was Steiner ‚moderne Geisteswissenschaft‘ nannte, die Anthroposophie. Grundlage dieser Lehre ist die Unterteilung des Menschen in vier Wesensglieder: Demnach besitzt der Mensch den Körper (physischer Leib), den ätherischen Leib, von dem die Lebenskraft ausgeht (Äther- oder Lebensleib) sowie das Bewußtsein schaffende, emotionale Innenleben (Astral-, Seelen- oder Empfindungsleib) und das übergeordnete, geistige Ich, das die Einzigartigkeit jedes Menschen begründet, die Individualität. Das Ich macht den Menschen zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit, es bewirkt beispielsweise, dass zwei Brüder, die aus demselben Milieu stammen, in gleicher Situation verschieden reagieren. Diese vier Systeme stehen in enger Verbindung zueinander, wobei Leib, Seele und Geist einer ständigen Wechselbeziehung unterworfen sind.[2]
2.1 Die frühe Kindheit
Beim neugeborenen Kind sind die vier Komponenten laut Steiner noch in ungleicher Reifung. Seele und Geist sind zwar im Körper des Neugeborenen bereits anwesend, jedoch sind ihre Kräfte vorerst noch stark mit dem heranwachsenden Leib verbunden und lösen sich erst später allmählich aus dieser Bindung.[3]
In den ersten Lebensjahren des Kindes wirken die Kräfte vornehmlich in der Ausgestaltung des physischen Leibes. Die kindliche körperliche Entwicklung wird entscheidend mitgeprägt durch die Wahrnehmung und Nachahmung von Einflüssen aus der Umwelt, auf die die großen Entwicklungsschritte des Gehens und Sprechens - mitsamt ihren Konsequenzen für den Körperbau - zurückzuführen sind. Denn das Kleinkind will ebenso wie die Menschen seiner Umgebung aufrecht stehen und gehen, will genauso sprechen können. Durch die Wahrnehmung seiner gehenden und kommunizierenden Mitmenschen und durch die eigene Willenskraft, es ihnen gleich zu tun, eignet es sich die aufrechte Haltung und darauf folgend das Sprechvermögen an: es lernt, seinen Leib durch seinen Willen zu beherrschen. Durch das über die Sinne Wahrgenommene bauen Seele und Geist also am Leib mit.[4]
Nachahmung kann nicht auf Vererbung zurückgeführt werden, es zeigt sich hierin vielmehr ein eigenes Bemühen, die (Um-) Welt zu erfassen und Anteil an ihr zu haben. Diese Eigentätigkeit verweist auf das rein Geistige, auf das Ich im Kinde. Steiner erklärt den Ursprung dieses geistigen Seins durch eine Präexistenz, das Geistige habe bereits vor der Geburt existiert und schon mehrere Erdenleben hinter sich, wobei es seinen Erfahrungsschatz fortwährend vergrößert habe. Steiner nennt diese Erfahrungen einer vorigen Inkarnation Karma. Nun verkörpere sich das geistige Ich erneut im Körper eines Neugeborenen.[5]
Die nachahmende Tätigkeit stellt die für die frühe Kindheit wichtigste Form des Lernens dar. Um diese Tätigkeit zu fördern, ist es notwendig, die Umwelt des Kindes, zu der auch das Verhalten der Erzieher gehört, so zu gestalten, dass das Kind an ihr seine seelisch-geistigen Kräfte aus eigenem Antrieb vielseitig und regsam entfalten kann. Dementsprechend ist jegliche Art von Zwang oder Dressur zu vermeiden, um die Kindeskräfte nicht zu beeinträchtigen.[6]
Der Zahnwechsel im siebten Lebensjahr stellt laut Steiner den Abschluß des leiblichen Formbildungsprozesses dar. Die plastischen Kräfte werden frei und stehen nun für die seelische Entwicklung zur Verfügung.[7]
2.2 Die Mitte der Kindheit
In der Mitte der Kindheit verlagert sich nach anthroposophischer Lehre die somatische Entwicklung vom Kopf, von wo aus die plastischen Kräfte in den ersten sieben Lebensjahren wirkten, in den Brustraum. Dort nimmt die rhythmische Organisation des Menschen, die Atmungs- und Blutzirkulation ihren Ausgangspunkt. Durch die Vermittlung der in den Lebensfunktionen wirkenden ätherischen Kräfte gewinnt das Kind um das siebte Lebensjahr - gegenüber der von Vererbungskräften mitgeformten Leibesgestalt - jetzt seine Individualgestalt. Diese ist geprägt von einem sich entwickelnden Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen sowie einer verstärkten Gefühlsreifung.[8]
Etwa im Alter von neun Jahren tritt eine bewußtseinsnähere Selbsterfahrung ins Gefühlsleben des Kindes ein. Das Kind wird sich der Einzigartigkeit und Wirklichkeit seiner eigenen Biographie in der Zeit bewußt. Es will sich selbst in der Welt wahrnehmen, strebt danach, Sinnzusammenhänge von Erscheinungen, Bildern und Gleichnissen selbständig zu ergründen. Diese Absicht, in einem eigentätigen, kreativen Akt Erklärungen für wahrgenommene Phänomene zu finden, darf nicht durch aufklärerische Eingriffe, durch vollständige und fertige Definitionen von außen verhindert und somit unterdrückt werden. Andererseits vermag das Kind durch den Gewinn der eigenen Identität auch das Ich im Gegenüber, im anderen Menschen bewußt wahrzunehmen.[9]
In dieser Phase der kindlichen Entwicklung wächst das Gedanken- und Vorstellungsleben mit dem Willenleben zusammen. Das Kind will im konkreten Umgang mit der Welt Gesetzmäßigkeiten entdecken und diese selbst überprüfen. Aus diesem Grunde benötigt es einen Erwachsenen als Vertrauensperson - Steiner benutzt den Begriff ‚Autorität‘ -, an den es sich wenden kann, jemanden, der das Kind auf seinem Weg der neuen Erfahrungen wachsam und fördernd begleitet, ohne jedoch normativ einzugreifen.[10]
[...]
[1] vgl.: Kiersch 19979, S. 11 ff.; Leber 1985², S. 4 ff. Zur Biographie Steiners: Hellmich 1992; Hemleben 1988.
[2] vgl.: Wyneken 1992, S. 173 ff.
[3] vgl.: Kranich 1985², S. 53; Leber 1985², S. 7.
[4] vgl.: Kranich 1985², S. 54 ff.
[5] vgl.: Kranich 1985², S. 57 ff.; Leber 1985², S. 5 f.
[6] vgl.: Wyneken 1992, S. 181 f.
[7] vgl.: Kranich 1985², S. 69 ff.
[8] vgl.: Müller-Wiedemann 1985², S. 73 ff.
[9] vgl.: ebd., S. 77 f.
[10] vgl.: Leber 1985², S. 8 f.
- Arbeit zitieren
- Karsten Kramer (Autor:in), 2004, Die Entwicklung des Kindes nach Rudolf Steiner und ihre Umsetzung in der Waldorfpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22674
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