Diese Arbeit trägt zwei unterschiedliche Titel, bei denen der zweite für den ersten grundlegend ist. Ich habe mich deshalb für den zweiten Titel entschieden: “Bewegte Dekonstruktion. Wie der Körper durch die modernen Strategien entsteht und zum Instrument ihrer Dekonstruktion werden kann.”, denn sich gleich - wie ursprünglich vorgesehen - der Bearbeitung des anderen zuzuwenden, würde bedeuten, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen.
Zu dieser Einsicht bin ich jedoch erst durch die Beschäftigung mit den angesprochenen Themen gelangt. Der zunächst gewählte Titel würde voraussetzen, daß bereits ein Entwurf der ‘Bewegten Dekonstruktion’ vorliegt, der die ihn verbindenden Elemente - die Dekonstruktion nach Jaques Derrida und die Möglichkeiten der Sprachen des Körpers - sorgfältig untersucht und behutsam zusammenführt, nachdem er zuvor die Möglichkeit dieser Zusammensetzung gezeigt hat. Ein solcher Entwurf lag jedoch nicht vor. Hinzu kommt, daß die implizite These, daß der Körper durch die modernen Strategien entstanden sei, zunächst erklärt und belegt werden muß.
Erst wenn ein Entwurf, der diese Fragen beleuchtet, erarbeitet worden ist, ist es möglich, sich den unterschiedlichen Möglichkeiten, die er eröffnet, eingehender zuzuwenden.
Die vorliegende Diplomarbeit ist nun also die Ermöglichung meines ursprünglichen Vorhabens, moderne pädagogische Texte auf das in ihnen angesprochene Verhältnis zum Körper zu analysieren und sie anschließend zur ‘Bewegten Dekonstruktion’ freizugeben.
Beides fundiert zu leisten, war mir aufgrund der zeitlichen Begrenzung einer Diplomarbeit nicht möglich. Und so soll hier ausführlich und behutsam eine Grundlage geschaffen werden, die unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet.
Inhaltsverzeichnis
I. Die Moderne
I.1. Die Strategien der Moderne
I.1.1. “Moderne und Ambivalenz”
A) Die Klassifizierungs- und Benennungsfunktion der Sprache
B) Ordnung und Chaos
C) Der Kampf gegen die Mehrdeutigkeit
D) Moderne als Lebensform
E) Die Opposition als Kennzeichen der Moderne
I.1.2. Schluß
I.2. Die ‘unterirdische Geschichte’
I.2.1. Ausgangspunkt: Die moderne ‘Haßliebe gegen den Körper’
A) Die ‘“Dialektik der Aufklärung’ - eine kurze Einführung
B) ‘Interesse am Körper’
C) ‘Vom Leib zum Körper’
D) Vom Körper zum Leib?
I.2.2. Der Formierung des Körpers zum ‘Marsch in die Moderne’
A) Der ‘ökonomische Wandel’ zur Zeit der Renaissance
B) Die Folgen der Geometrisierung des Menschen
C) Cartesianische Trennungen
I.2.3. Schluß
II. Tanzgeschichte
II.1. Wissenswertes über den Tanz im allgemeinen
II.1.1. Die Kennzeichen der Modernität und des ‘modernen Tanzes’
II.1.2. Allgemeine Probleme der Tanzwissenschaft
A) Das Problem der Flüchtigkeit des Tanzes
B) Das Problem der Versprachlichung von Tanz
C) Das Problem, Tanz unter einer Definition zusammenzufassen
D) Der gesellschaftliche Aspekt des Tanzes
E) Der psychische Aspekt des Tanzes
II.I.3. Tanzgeschichte
A) Die Auswirkungen des Christentums auf den Tanz
B) Die Entstehung des Balletts in seiner bis heute klassischen Form
C) Die beginnende Kritik am klassischen Ballett
II.2. Die historische Entwicklung des modernen Tanzes
II.2.1. Das Merkmal der Zufälligkeit
II.2.2. Die Anfänge
A) Drei Pionierinnen auf dem Gebiet des freien Tanzes
B) Problematische Aspekte der Reformen
C) Differenzierung des moderne Tanzes in zwei Hauptströmungen
II.2.3. Die Entstehung des ‘Ausdruckstanzes’ in Deutschland und des ‘modern dance’ in den USA
A) Rudolf von Laban und Mary Wigman, die BegründerInnen des Ausdruckstanzes
B) Mary Wigman: Die Integration des ‘Nicht-Schönen’
C) Martha Graham und Doris Humphrey, Die Entstehung des ‘modern dance’
II.2.4. Die Rolle des ‘Ausdruckstanzes’ im Dritten Reich
A) Der Ausdruckstanz im Nationalsozialismus
B) Der tänzerische Widerstand bei Kurt Jooss
C) Die Rolle Labans im Nationalsozialismus
D) Interpretation der ‘Nichtnennung’ Labans
E) Zwei Regeln, um die Lektüre eines Textes möglichst differenziert zu halten
II.2.5. Entwicklung des Tanzes nach dem zweiten Weltkrieg bis heute
A) Weiterentwicklung des Ausdruckstanzes
B) Choreographisches Theater - Deutsches Tanztheater - postmodern dance
II.3. Schluß
III. Dekonstruktion
III.1. Bejahungen
III.2. Das ‘Konzept’ Derridas
III.2.1. Dekonstruktion - eine Operation von Innen
III.2.2. Différance - “eine glückliche Wendung Derridas”
A) Logozentrismus und Phonozentrismus
B) Die différance
C) Der erweiterte Textbegriff bei Derrida
D) “Ellipse”
III.2.3. Dekonstruktion
A) Die erste mögliche Geste der Dekonstruktion
B) Die zweite mögliche Geste der Dekonstruktion
C) Die Verknüpfung der beiden Gesten: die ‘neue Schrift’
III. 3. Bejahungen
IV. Bewegte Dekonstruktion
IV.1. Zusammenhang und Schnittpunkte
VI.1.1. Zusammenhänge
IV.1.2. Schnittstellen
A) Thesen:
B) Zusammenfügung des Gedankengangs :
IV.2. Ein Entwurf der ‘Bewegten Dekonstruktion’
IV.2.1. ‘Bewegte Dekonstruktion’ als Prozeß
A) Der Körper als Text und Zeichen
B) Die Dekonstruktion auf der Ebene des Denkens
C) Die Dekonstruktion auf der Ebene von Körperbewegungen
IV.2.2. ‘Bewegte Dekonstruktion’ als Aufführung
A) Der Körper als Interpret
B) ‘Bewegte Dekonstruktion’ als Kunstform
IV.3. Ende und Anfang
Einleitung
Diese Arbeit trägt zwei unterschiedliche Titel, bei denen der zweite für den ersten grundlegend ist. Ich habe mich deshalb für den zweiten Titel entschieden: “Bewegte Dekonstruktion. Wie der Körper durch die modernen Strategien entsteht und zum Instrument ihrer Dekonstruktion werden kann.”, denn sich gleich - wie ursprünglich vorgesehen - der Bearbeitung des anderen zuzuwenden, würde bedeuten, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen.
Zu dieser Einsicht bin ich jedoch erst durch die Beschäftigung mit den angesprochenen Themen gelangt. Der zunächst gewählte Titel würde voraussetzen, daß bereits ein Entwurf der ‘Bewegten Dekonstruktion’ vorliegt, der die ihn verbindenden Elemente - die Dekonstruktion nach Jaques Derrida und die Möglichkeiten der Sprachen des Körpers - sorgfältig untersucht und behutsam zusammenführt, nachdem er zuvor die Möglichkeit dieser Zusammensetzung gezeigt hat. Ein solcher Entwurf lag jedoch nicht vor. Hinzu kommt, daß die implizite These, daß der Körper durch die modernen Strategien entstanden sei, zunächst erklärt und belegt werden muß.
Erst wenn ein Entwurf, der diese Fragen beleuchtet, erarbeitet worden ist, ist es möglich, sich den unterschiedlichen Möglichkeiten, die er eröffnet, eingehender zuzuwenden.
Die vorliegende Diplomarbeit ist nun also die Ermöglichung meines ursprünglichen Vorhabens, moderne pädagogische Texte auf das in ihnen angesprochene Verhältnis zum Körper zu analysieren und sie anschließend zur ‘Bewegten Dekonstruktion’ freizugeben.
Beides fundiert zu leisten, war mir aufgrund der zeitlichen Begrenzung einer Diplomarbeit nicht möglich. Und so soll hier ausführlich und behutsam eine Grundlage geschaffen werden, die unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet.
Um diese Grundlage schaffen zu können, werde ich mich mit folgenden Fragen auseinandersetzen:
- Was ist unter der Wendung ‘moderne Strategien’ zu verstehen? [Teil I]
- Inwiefern ist zu verstehen, daß der menschliche Körper durch diese modernen Strategien entsteht? [Teil I]
- Wie kann vermittels des Körper eine Kritik an diesen Strategien geübt werden? [Teil II]
- Was ist Dekonstruktion nach J. Derrida? [Teil III]
- Wie kann aus all dem die ‘Bewegte Dekonstruktion’ zusammengesetzt werden? [Teil IV]
Ich werde jeden dieser Teile in sich schlüssig darzustellen versuchen, um dem Eigenwert der unterschiedlichen Themen gerecht zu werden und nicht nur das zur Beantwortung der Fragen Interessante herauszustellen. Trotzdem werde ich an manchen Stellen auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die mir besonders wichtig erscheinen. Zum expliziten Thema werden diese aber erst zu Beginn des vierten Teils.
Dieser vierte und abschließende Teil wird sich insofern von den drei anderen unterscheiden, daß er viele Anklänge an Momente, enthält, die nur in der Praxis wirklich erfahrbar sind. Um diesen Anklängen annähernd gerecht werden zu können, werde ich an einem Beispiel eine mögliche Form der ‘Bewegten Dekonstruktion’ vorführen. Diese ist nicht nur schriftlich, sondern auch in Photographien festgehalten, die ich im Anhang zu dieser Arbeit beigefügt habe.
I. Die Moderne
Den Anfang macht eine doppelte Geschichte der Moderne, wobei beide Male nicht die historischen Ereignisse zur Sprache kommen werden, sondern die Strategien der modernen Praxis. In einem ersten Unterkapitel wird die Strategie des Ordnungschaffens mittels Ausgrenzung in den Blick genommen, die sich durch alle Bereiche der modernen Praxis zieht. Anschließend soll die “unterirdische”[1] Geschichte des von der Moderne Ausgegrenzten nachgezeichnet werden.
Für meinen Zusammenhang ist vor allem eines dieser Ausgegrenzten wichtig: der Körper. Oder besser gesagt, der Leib. Denn der Leib meint den belebten Körper und jener ist es, durch den eine dieser, die Moderne konstituierenden, Grenzen verläuft. Ich schreibe, daß sie durch den Leib verläuft, weil es den Menschen bisher nicht möglich war, die eigene Gestalt, den eigenen Organismus gänzlich beiseite zu schaffen, so daß nicht von einer rein vollzogenen Trennung gesprochen werden kann. Die Geschichte vom ‘Leib zum Körper’ ist also interessant, weil an ihr auf ganz besondere Weise die Grenzziehungen deutlich werden.
Daß eine Grenze mitten durch den Leib verläuft, impliziert nun, daß der ‘Körper’ nur ein Teil des ‘Leibes’ ist - jener Teil nämlich, der nach einer Grenzziehung übrigbleibt und zum Objekt des Menschen wird.
Wieso aber “nach einer Grenzziehung übrigbleibt”? Teilt eine Grenze nicht ein großes Territorium in zwei gleichberechtigte, je souveräne Gebiete? ‘Übrigbleiben’ hingegen unterstellt doch, daß die andere Seite, also das jenseitige Grenzgebiet, ausgelöscht wird. Soll das heißen, daß der ‘ursprünglich’ ‘ganze’[2] Leib in zwei Teile geteilt wird, von denen nur der eine der beiden Teile überlebt, also übrigbleibt? Kann man dann noch von Leib sprechen? Was bedeutet die Differenzierung in Leib und Körper überhaupt? Was passiert mit dem anderen, dem jenseitigen Teil? Verschwindet er stillschweigend aus der Geschichte? Und wenn er verschwindet, wann verschwindet er denn? Wann zeichnet sich diese Grenzziehung ab? Wie geht das ‘Grenzziehen’ vor sich? Aus welchen Gründen werden Grenzen gezogen? Und...?
Diese Fragen werden die gesamte Diplomarbeit, insbesondere aber den ersten Teil durchziehen, wobei das “Und?” anzeigen soll, daß der Fragenkatalog sich in der Arbeit immer wieder ausdehnen wird. Und sicherlich können die aufgeworfenen Fragen nicht erschöpfend beantwortet werden, aber was mindestens in den Blick kommen sollte, ist der Zusammenhang von den in der Moderne vorgenommenen Ausgrenzungen und ihren Folgen, insbesondere für das historisch sich wandelnde Verhältnis der Menschen zum Körper. Diese Geschichten der Ausgrenzungen und der Ausgegrenzten, der Produktion eines spezifisch abendländischen, modernen Umgangs mit den/ dem Fremden - sei es dem eigene Fremden oder dem anderen Fremden - ist, wie auch der zweite und dritte Teil, als Vorbereitung zum vierten, zur Zusammenfügung und Darstellung der ‘Bewegten Dekonstruktion’ gedacht.
Begonnen wird der erste Teil mit der Darlegung der Hauptstrategie der Moderne, die allerdings nicht einfach dargestellt werden soll, vielmehr werde ich Autoren zu Rate ziehen, die die Bewegungen und vorgenommenen Ausgrenzungen der Moderne kritisch beleuchten. Dies werden in der Hauptsache Zygmunt Bauman und sein Buch “Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit”[3] und das bereits zitierte Werk von Horkheimer und Adorno sein, auf das auch Bauman sich bezieht. Die “Dialektik der Aufklärung”, ist es auch, in der von der ‘unterirdischen Geschichte’ gesprochen wird. Diese soll hier im Anschluß an die ‘bekannte’, kritisch in den Blick genommene Bewegung der Moderne nachgezeichnet werden und Klarheit in die Unterscheidung von Körper und Leib, bzw. in den Prozeß der Entwicklung vom ‘Leib zum Körper’ bringen. Rudolf zur Lippe, dessen Ausführungen im gleichnamigem Buch “Vom Leib zum Körper”[4] ebenfalls herangezogen werden sollen, macht klar, daß dieser Prozeß sich bereits in der Renaissance vollzogen hat: “Die abendländischen Gesellschaften wurden für den Marsch in die Moderne formiert”[5]. Unter anderem wurde diese Formierung durch “die Geometrisierung des Menschen”[6] und seines Leibes vorgenommen. Diese Geometrisierung, die den Marsch in die Moderne ermöglichte, wird in der Moderne weitergeführt, und Bauman bezeichnet schließlich die Moderne selbst als einen “besseren Marsch nach vorne”[7]. Wenden wir uns also diesen Märschen, dieser doppelten Geschichte zu.
I.1. Die Strategien der Moderne
I.1.1. “Moderne und Ambivalenz”
Zygmunt Bauman zeichnet die Moderne, diesen “besseren Marsch nach vorne”[8], als eine Epoche, die sich eine unlösbare Aufgabe gestellt hat. Und eben dadurch, daß diese selbst gestellte Aufgabe nicht gelöst werden kann, setzt sich der ‘Marsch nach vorne’, die, die Moderne ausmachende, “Ruhelosigkeit”[9], in Gang. Die Unlösbarkeit wird zum Motor der Moderne, zum Antrieb des steten, immer schneller werdenden Fortschritts.
Die selbst gestellte Aufgabe besteht nun darin, das von ihr gefürchtete, weil unberechenbare und unüberschaubare Chaos, das von ihr definierte Anormale zu beseitigen und an seine Stelle eine gänzlich überschaubare, künstliche Ordnung zu setzen. Nun wird aber alles als chaotisch und unbestimmt wahrgenommen, was noch nicht definiert worden ist. Die Art und Weise, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, besteht folglich im Teilen und Klassifizieren, Definieren und Festschreiben, was immer mit Bewertung und Hierarchisierung verbunden ist.
Die Weise, Ordnung zu schaffen, ist also das Grenzenziehen, das Schaffen zweier Gebiete. Das eine trägt den Namen ‘Ordnung’ - das ist das nun überschaubare Gebiet, das ‘Drinnen’, das sich bewohnen läßt -, das andere trägt die Namen ‘Chaos’, ‘Ambivalenz’, ‘Unordnung’ - das ist das unsichere, kontingente ‘Draußen’, dem die Moderne den Kampf angesagt hat, das sie in immer wieder neuen Anstrengungen des Ordnungschaffens gänzlich zu beseitigen sucht. Die moderne Vorgehensweise schafft vor allem eines: eine vermeintliche Sicherheit und Klarheit. “(...) klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur zu geben: ihre Wahrscheinlichkeiten zu beeinflussen; einige Ereignisse wahrscheinlicher zu machen als andere; sich so zu verhalten, als wären Ereignisse nicht zufällig, oder die Zufälligkeit von Ereignissen einzuschränken oder zu eliminieren.”[10]
Damit wäre bereits eine der voranstehenden Fragen zu beantworten, nämlich die, ob Grenzenziehen nicht zwei souveräne Gebiete schaffe. Die Frage muß - zumindest im Falle der Moderne - verneint werden. Die beiden Gebiete sind klar hierarchisiert, zumal nur eines der beiden Gebiete als gültig und souverän anerkannt wird. Durch die Grenzziehung entsteht eigentlich nur ein neues Gebiet - die Ordnung. Das zweite Gebiet bleibt stets nur das Andere der Ordnung, bleibt stets das als minderwertig angesehene und zu beseitigende Chaos, wird nie zu einem eigenständigen Etwas, sondern bleibt immer nur die Negation der Ordnung. Das angestrebte Ziel ist ein einziges, großes Gebiet der Ordnung, das laut Bauman jedoch niemals erreicht werden kann.
Aber warum sollte diese Aufgabe des Ordnungschaffens eine unlösbare sein, warum sollte das angestrebte Ziel niemals erreicht werden können? Es verhält sich deshalb so, weil paradoxerweise jeder vorgenommene Akt der Klassifizierung und Systematisierung zur gleichen Zeit ein Akt der Erzeugung neuer Ambivalenz ist: “Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist Ambivalenz der Abfall der Moderne. Ordnung wie Ambivalenz sind gleichermaßen Produkte der modernen Praxis; und keine von beiden besitzt irgend etwas anderes außer der modernen Praxis - kontinuierliche, wachsame Praxis -, um sie zu stützen. (...) Ambivalenz stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt. Es ist ihr eigenes Versagen, das die Aufräumaktivität als Ambivalenz konstruiert.”[11]
Im Folgenden möchte ich diesen Kampf der Moderne gegen Ambivalenz darstellen und einen klärenden Blick auf eben jene Epoche und ihr, in diesem Zitat angesprochenes Verhältnis zum ‘Fremden’, werfen. Bauman beginnt die Klärung seiner Problemstellung mit einem Blick auf die Sprache. An ihr läßt sich die moderne Praxis, also das ordnende Vorgehen im Kampf gegen Ambivalenz und seine Vergeblichkeit, stellvertretend für vielerlei Bereiche, wie z.B. die moderne Lebensweise, die moderne Politik und den modernen Intellekt vorführen.
A) Die Klassifizierungs- und Benennungsfunktion der Sprache
Mittels Sprache verständigen sich die Menschen untereinander. Sie benennen einen Gegenstand, ein Ereignis oder ein Gefühl und ordnen damit jenen Gegenstand, jenes Ereignis oder Gefühl einer eindeutig bestimmten und dadurch erlernbaren Kategorie zu. Klassifizieren und Benennen sind zwei der wichtigsten Funktionen der Sprache und so verwundert es nicht, daß sich Probleme und Unsicherheiten ergeben, wenn eine eindeutige Klassifizierung nicht möglich ist, wenn ein zu Benennendes mehr als nur einer Kategorie zugeordnet werden kann. Denn Mehrdeutigkeit zerstört die angestrebte Ordnung, die die Verständigung erleichtern und einen ‘klaren Durchblick’ sicherstellen soll und schafft statt dessen Unordnung und Ambivalenz. “Das Hauptsymptom der Unordnung ist das heftige Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen.”[12]
Doch anders als zunächst zu vermuten, ist Ambivalenz - die im Fall der Sprache auch Mehrdeutigkeit heißen kann - kein Zeichen für das Versagen von Sprache, vielmehr entsteht sie ebenfalls durch den Vorgang der Klassifizierung. “Ambivalenz ist deshalb das alter ego der Sprache und ihr permanenter Begleiter - ja, ihr Normalzustand.”[13] Und trotzdem kommt diesen beiden Seiten der gleichen Medaille keine gleichwertige Bedeutung zu, denn sie bedienen nicht in gleicher Weise das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit. Während die Möglichkeit, Klassen zu bilden und Ordnung zu schaffen, sich also eindeutig mitzuteilen bzw. die gemeinte, klare Botschaft deutlich zu verstehen, ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, weil sie die Welt strukturiert und die Ereignisse vorhersagbar und berechenbar macht, bedeutet Ambivalenz einen Verlust dieser mühsam erworbenen Kontrolle.
Besondere Bedeutung im Kampf um Ordnung kommt dem Gedächtnis und der Lernfähigkeit zu. Denn die durch Ordnung erreichte Struktur stellt sicher, daß wir einmal Gelerntes auch wiedererkennen können und “aus demselben Grunde erfahren wir Ambivalenz als Unbehagen und als eine Drohung. Ambivalenz wirft die Berechnung von Ereignissen über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungsstrukturen durcheinander.”[14]
Über die Sprache ist also zu sagen, daß sie aufgrund ihrer Benennungsfunktion einen Platz zwischen der ordentlich strukturierten und der kontingenten Welt einnimmt, zumal sie einerseits Ordnung schafft, andererseits im selben Augenblick jedoch neue Ambivalenz erzeugt. Anders formuliert, wird jedesmal, wenn etwas benannt wird, die Welt in zwei Teile geteilt: in ein Gebiet der Eindeutigkeit und eines der Mehrdeutigkeit. Denn Klassifizierung und Benennung können nicht alles einschließen, was vorhanden ist, nicht alles aus dem Bereich der Unordnung in den der Ordnung transportieren, irgend etwas bleibt stets außerhalb ihrer Zugriffsmöglichkeiten. Das kann heißen, daß mehr gesagt wird als intendiert war oder daß der Gesprächspartner, die Gesprächspartnerin etwas anderes versteht, als gesagt werden sollte oder das adäquate Begriffe fehlen, um sich eindeutig auszudrücken etc.
Nun ist es der Sprache aber nicht nur eigentümlich, zwischen der ordentlichen und der chaotischen Welt zu stehen, sondern auch, dieses andere, ebenfalls von ihr erzeugte Gebiet, zu leugnen und davon auszugehen, alles in die Ordnungskategorien überführen, also alles benennen zu können. Doch trotz dieser Leugnung ist “Ambivalenz (...) ein Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation; und sie verlangt nach immer mehr Bemühen um Klassifikation”[15], denn paradoxerweise kann Ambivalenz nur durch weitere Klassifikation verhindert werden.
Durch die Leugnung von Ambivalenz ist die Sprache sozusagen, auf einem Auge blind. Diese Erblindung, also die Unfähigkeit die Unerreichbarkeit des angestrebten Zieles wahrzunehmen, kommt dem oben angesprochenen Motor zur Ruhelosigkeit der Moderne gleich: “Der Kampf gegen Ambivalenz ist daher selbstzerstörerisch und selbsterzeugend. Er ist unaufhaltsam, weil er seine eigenen Probleme erzeugt, während er sie zu lösen sucht.”[16]
Die Frage, warum die Herstellung von Ordnung sich als eine unmögliche Aufgabe erweist, ist mittlerweile einfacher zu beantworten: Wenn die Ordnung mittels Klassifizierung hergestellt werden soll, Ambivalenz jedoch zwangsläufig deren Nebenprodukt ist, wird Ordnung als Aufgabe und Ziel unmöglich. Unordnung folgt sofort nach, denn “Ordnung und Chaos sind moderne Zwillinge”[17]. Womit auch die Frage zu beantworten wäre, ob der ausgegrenzte, ambivalente Teil einfach stillschweigend aus der Geschichte verschwände. Diese Frage ist zu verneinen, denn wie wir gesehen haben, wird das chaotisch Gebiet der Ambivalenz zwar verschwiegen und geleugnet, dennoch aber bleibt es ein unausweichlicher Teil der modernen Praxis, das niemals aufhört, sich ebenfalls auf die Moderne auszuwirken - wenn auch untergründig.[18]
B) Ordnung und Chaos
Daß ‘Ordnung und Chaos moderne Zwillinge’ sind, trifft nun nicht nur auf die Sprache zu. Bauman geht vielmehr davon aus, daß die Moderne die Zeit ist, in der allgemein begonnen wird, über Ordnung zu reflektieren[19]. Zu diesem Akt der Reflexion ist das moderne Bewußtsein vonnöten, das sich dadurch auszeichnet, daß es Ordnung in den Dingen wahrnimmt. Um aber die Ordnung der Dinge in unser Bewußtsein zu holen, müssen wir das Chaos zum sprechen bringen und zwar in eindeutigen Kategorien, so daß es uns möglich wird, es zu verstehen: “Um diese Welt zu uns sprechen zu lassen, müssen wir sozusagen ihr Schweigen hörbar machen: aussprechen, wessen sich diese Welt selbst nicht bewußt war.”[20]
Das Chaos zum Sprechen bringen zu wollen, erinnert an das Vorgehen der Psychoanalyse. Dieser Gedanke wird allerdings nicht in ‘Moderne und Ambivalenz’ ausgeführt, sondern von mir in die Überlegungen Baumans eingeflochten.
Um den Zusammenhang deutlich machen zu können, möchte ich zunächst das dreistufige topologische Modell, das von Freud entworfen worden ist, in Kurzform darstellen. Bei meinen Ausführungen über das psychoanalytische Vorgehen werde ich mich an Freuds “Abriß der Psychoanalyse”[21] orientieren.
Das ES ist die älteste Instanz der menschlichen Seele. Freud spricht deshalb von der ‘ältesten’ der Instanzen, weil die Psychoanalyse über die Orientierung an der individuellen, menschlichen Entwicklung zur Kenntnis des psychischen Apparates gelangt ist. Im ES sind nun die Instinkte und Triebansprüche beherbergt., welche gänzlich im Unbewußten verankert sind und somit dem Bewußtsein unzugänglich bleiben. Mit zunehmendem Alter, durch die ersten Kontakte mit der Außenwelt, bildet sich das ICH, als ein ‘Ableger’ des Es heraus. Seine Funktion wird deutlicher, wenn zunächst auf die dritte Instanz, das ÜBER-ICH, eingegangen wird. Dieses ist die je jüngste der drei Instanzen und repräsentiert die Normen und Moralvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft, in die ein Mensch hineingeboren ist, in der er sozialisiert wird. Es erwächst zunächst aus den Ge- und Verboten, die ein Kind durch die ersten Bezugspersonen erfährt. Später verselbstständigt sich das ÜBER-ICH zunehmend und übernimmt die Gewissens - oder, negativer ausgedrückt, die Überwachungsfunktion. Nun kann es durch die sehr unterschiedlichen Anforderungen, die das ÜBER-ICH, das ES und die Außenwelt an die Person stellen, zu seelischen Konflikten kommen. An dieser Stelle wird nun die bedeutende Funktion des ICH, deutlich. Denn das ICH, das im Bereich des Bewußtseins und des Vorbewußten anzusiedeln ist, tritt die Vermittlungsfunktion zwischen den Triebansprüchen, den normativen Ansprüchen und denen der Außenwelt an: “Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.”[22]. Kommt es nun zu heftigen Konflikten bei der Erfüllung dieser unterschiedlichen Ansprüche, die von der Person allein nicht mehr gelöst werden können, dann bedarf diese Person einer Unterstützung ihres ICHs von Außen, zumal dieses, aus welchen Gründen auch immer, geschwächt ist und seiner ausbalancierenden Funktion nicht mehr gerecht werden kann. Dazu steht der Therapeut oder die Therapeutin zur Verfügung. Freud selbst faßt sein therapeutisches, psychoanalytisches Programm mit dem kleinen Satz “Wo ES war soll Ich werden”[23] zusammen. In den Kategorien von Ordnung und Chaos gesprochen, wird damit zunächst deutlich, daß die schwerwiegenderen ‘Problem’ im chaotischen, weil unkontrollierbarem ES liegen müssen. Manche Neurosen wurzeln allerdings in einem überstarken ÜBER-ICH, welches aber leichter zugänglich ist als das ES. Sein Entstehen kann leichter nachvollzogen und überdacht, also leichter bewußt gemacht werden. Schließlich geht es darum, dem Ich die Kontrolle zu ermöglichen, was über Ordnungschaffen möglich ist. Das Problem, das durch ein übersteigertes ÜBER-ICH, zustande kommt, kann durch die Bewußtmachung eben jener Übersteigerung der ÜBER-ICH-Ansprüche angegangen werden. Das ES hingegen entzieht sich dem Zugriff des Bewußtseins. Es ist schwerer zugänglich, weil seine Vorgänge nicht per Reflexion, sondern nur per freier Assoziation - und damit nicht eindeutig - benannt werden können.
An dieser Stelle möchte ich nun wieder an Bauman anschließen, der sagt, daß das moderne Bewußtsein die chaotische Welt zum Sprechen bringen muß, um Ordnung in den Dingen erkennen zu können. Dieser Akt könnte ebenfalls mit dem, die psychoanalytische Therapieform kennzeichnenden Satz, “Wo Es war soll Ich werden” überschrieben werden, denn es ist die Aufgabe des Therapeuten/ der Therapeutin der Patientin/ dem Patienten über das assoziative Zum-Sprechen-Bringen dabei zu helfen, Ordnung in die unkontrollierbaren Ansprüche des ES zu bringen. Ziel ist, daß das Ich - ausgestattet mit der Qualität des Vorbewußten und der Möglichkeit zum Bewußten - seine Vermittlungsfunktion wieder einnehmen kann, denn der “Weg, das geschwächte Ich zu stärken, geht von der Erweiterung seiner Selbsterkenntnis aus”[24]. Daran erinnert es, wenn moderne Menschen versuchen, ihre Welt zu strukturieren und die gefundenen Ordnungskriterien an die jüngere Generation weiterzugeben, wie es die moderne Pädagogik auszeichnet. Sowohl die, mit dem geschwächten Ich verbündeten TherapeutInnen als auch die modernen Menschen müssen “jene Welt zwingen, Stellung zu Fragen zu beziehen, an die sie nicht gedacht hat, und auf diese Weise jenes Nichtdenken beiseite zu schieben oder zu übergehen, das sie zu jener Welt machte, einer Welt, so verschieden der unseren und so unmitteilsam. (...) Am Ende werden wir, statt diese ‘andere Welt’ zu rekonstruieren, nicht mehr tun als ‘das Andere’ unserer eigenen Welt zu konstruieren.”[25] (S.18)
Die hergestellte Ordnung entsteht also im und durch den Reflexionsprozeß und dem Benennen dessen, was von sich aus schweigen würde. Doch obwohl der Wille zur Ordnung, die Natur - bzw. im Fall der Psychoanalyse das ES - zur Kundgabe ihrer Geheimnisse zwingt, ist er nicht im Stande, diese tatsächlich abzubilden, denn “’Natur’ bedeutet schließlich nichts anderes als das Schweigen des Menschen.”[26] Das, was benannt geworden ist, also scheinbar sein Geheimnis preisgegeben hat, ist somit immer bereits ein Produkt der menschlichen Reflexion. Ordnung ist immer künstlich.
Nun möchte ich die Psychoanalyse nicht ungerechtfertigt in ein paar Sätzen abhandeln, denn so kann kaum ihr unerhörter Verdienst deutlich werden.
Denn es ist erst die Psychoanalyse, die feststellt, daß den unbewußten Prozessen ein Einfluß auf die menschliche Seele zuzugestehen ist. Gerade durch die Entdeckungen Freuds ist es möglicher geworden, wahrzunehmen, daß Anteile des Menschen verdrängt werden, die aber dennoch, unter der Oberfläche, vorhanden sind und das menschliche Handeln mitbestimmen, ja sogar die stärksten Antriebskräfte zu sein scheinen und daß das ICH nicht die einzige einflußreiche Instanz ist. Die Psychoanalyse stellt also Machbarkeit und Durchsetzbarkeit einer eindeutigen Ordnung in Frage, setzt ihr Wissen aber gleichzeitig dazu ein, Menschen, deren ICH durch neurotische Konflikte geschwächt ist, über das zum Sprechen bringen der verdrängten Anteile, zu helfen.
C) Der Kampf gegen die Mehrdeutigkeit
Mit den Ausführungen über die Ordnung und das Chaos, genauer gesagt über den Willen zur Ordnung und der Abneigung gegenüber dem Chaos, soll allerdings nicht gesagt werden, daß nur die Ordnung ‘modern’ sei, das Chaos hingegen nicht - wie es jedoch dem unverwirklichbarem Ideal der Moderne entsprechen würde. Ordnung und Chaos gehören zusammen, denn ohne die ordentliche Tendenz und ihre Folgen, macht es keinen Sinn von Chaos zu sprechen. Es geht nämlich nicht um eine Entscheidung zwischen unterschiedlichen Ordnungssystemen, sondern um die eine einzige Ordnung, die das Chaos, dieses “Monster der Mehrdeutigkeit”[27], vollständig benennen, d.h. besiegen soll. Denn obwohl Chaos als das Andere der Ordnung, die vollständige Verneinung all dessen ist, was der Wille zur Ordnung anstrebt, stellt es gleichzeitig den Grund zur Ordnung als Aufgabe dar.
Es ist an der Zeit, deutlicher zu machen, was unter ‘Chaos’, also dem Anderen der Ordnung zu verstehen ist: “Entsprechungen für das ‘Andere der Ordnung’ sind: Undefinierbarkeit, Inkohärenz, Widersinnigkeit, Unvereinbarkeit, Ambivalenz”[28]. Wie wir schon gelesen haben, geht es der Moderne darum, all diese auszulöschen. Sie führt also durch ihre Ordnungsstrategien einen Kampf, den sie niemals gewinnen kann, zumal es Ordnung niemals ohne Chaos geben wird und geben kann. Trotzdem wird gekämpft und zwar mittels Definitionsversuchen: alles, was sich nicht erfassen läßt, was trotz aller Anstrengungen undefinierbar bleibt, muß eliminiert werden.
Die moderne Praxis, womit hier der spezifisch moderne Umgang mit Ambivalenzen, mit Fremdem und Fremden gemeint ist, ist also ein gewalttätiger, intoleranter Kampf gegen das Andere. Das trifft sowohl auf den Umgang moderner Staaten mit allem Fremden, z.B. mit den Juden, als auch auf die Denkungsart des modernen Intellekts zu. Wer oder was nicht zur Assimilation bereit ist, dem wird die Seinsberechtigung abgesprochen und/ oder wird ausgerottet - wie z.B. die Juden durch die Nationalsozialisten. Alles was sich der normierten und normierenden Definition entzieht oder sich dem Ordnungswillen widersetzt, wie z.B. “Krankheit”, “Barbarei”, das “Tier”, die “Frau”, der “Fremde”, der “Feind”, “Wahnsinn”[29], etc. gilt als Abweichung von der Norm. Und was als solches gilt, muß bekämpft werden.
Und trotzdem, obwohl beide - der moderne Staat und der moderne Intellekt - gegen dieses Andere, gegen das Chaos, das ‘Monster der Mehrdeutigkeit’ kämpfen, können sie nur durch dessen Weiterexistenz ihre Aufgabe erfüllen. Genau diese Spannung ist es, die die Moderne ausmacht.
D) Moderne als Lebensform
Auch als Lebensform, sowohl im politischen Leben der Staaten als auch im privaten, im wirtschaftlichen Leben, im intellektuellen Leben usw., ermöglicht sich die Moderne dadurch selbst, daß sie sich eine unmögliche Aufgabe setzt, wobei sie den Aspekt der Unmöglichkeit leugnet. Sie steckt sich Ziele, die derart absolut sind, daß sie - wegen des Nebenprodukts Ambivalenz - niemals erreicht werden können, wie z.B. die wahre Kunst, das absolut Schöne, die reine Wahrheit, das Ende der Geschichte, usw. Aber genau jene Unerreichbarkeit der selbstgesteckten Ziele ist der Motor des unaufhörlichen Strebens nach vorne: “Die Moderne ist das, was sie ist - ein besserer Marsch nach vorne - nicht deshalb, weil sie immer mehr will, sondern weil sie niemals genug bekommt; [...]. Der Marsch muß weitergehen, weil jeder Ort der Ankunft nur eine zeitweilige Station ist. Kein Ort ist privilegiert, kein Ort besser als ein anderer, da von keinem Ort aus der Horizont näher ist als von jedem anderen. Das ist der Grund, weswegen die Unruhe und die Hast als ein Marsch nach vorne erlebt werden; [...].”[30]
Was in diesem Zitat, neben der bereits bekannten Ruhelosigkeit der Moderne, außerdem zum Ausdruck kommt, ist, daß sich die Moderne nicht nur durch die unlösbar Aufgabe, sondern auch durch ihr lineares Zeitverständnis und ein damit verbundenes Streben nach vorne auszeichnet. Sie nimmt eine Vergangenheit an, die durch die Gegenwart überholt und überboten werden muß, die selbst aber wiederum kaum eine Rolle spielt, weil sie der Zukunft Platz zu machen hat; denn schließlich liegt es immer im Bereich des Möglichen - und des Nötigen -, daß in der Zukunft die Ziele erreicht werden, die heute noch nicht einmal gesteckt worden sind.
Es kann also gesagt werden, daß die Moderne die Gegenwart - das Mittlere zwischen Vergangenheit und Zukunft - abwertet. Diese Abwertung des Mittleren wird uns in der Arbeit noch häufiger begegnen, so z.B., wenn wir im Kapitel zur Dekonstruktion auf die Fremden, die Mittleren zwischen Freunden und Feinden, zu sprechen kommen. “Nicht zu sein, was sie sein sollte, ist die unverzeihliche Ursünde der Gegenwart. (...) In dem Augenblick, da sie in der Gegenwart landet, ist die begehrte Zukunft von den toxischen Ausdünstungen der verwüsteten Vergangenheit vergiftet. Ihr Genuß kann nur einen flüchtigen Moment lang dauern.”[31]
Dieser Marsch nach vorne in der linearen Zeit, diese Abwertung des Mittleren, dieser Kampf gegen Ambivalenz, wird, wie gesagt, nicht nur an einer Front geführt. Vielmehr wird die territoriale und funktionale “Fragmentierung”[32] der Welt, also deren Aufteilung in verschieden Kriegsschauplätze, als eine der Hauptleistungen der Moderne gehandelt. Vielleicht ist es genau diese Leistung, die es mir - und nach den Ausführungen Baumans über die Möglichkeit zur Datierung und die Konsenslosigkeit darüber, was eigentlich zu datieren sei, zu urteilen, nicht nur mir - so schwer macht, ein faßbares Bild von der Moderne zu gewinnen und dieses nachzuzeichnen, obwohl es doch - bedenkt man den modernen Willen zur Ordnung - so einfach sein müßte. Aber die moderne Ordnung kommt eben unter anderem durch Segmentierung, durch Grenzenziehen zustande. Und so zerfällt die Welt und das Ziel der einen einzigen Ordnung in viele einzelne Probleme, in viele Orte, an denen das Ordnungschaffen und Problemlösen ansetzen muß. Durch ihre scheinbare Zusammenhanglosigkeit suggerieren die gestellten Probleme eine mögliche Lösbarkeit, die jedoch verschwimmt, sobald man sie als zusammenhängend betrachtetet. Es kann also gesagt werden, daß der Wille, Probleme zu lösen ein weiteres Merkmal der Moderne ist - und auch auf dieses Merkmal trifft zu, was auf alle Bewegungen der Moderne zutrifft: sie erweist sich als eine unlösbare Aufgabe; als eine Aufgabe, die im Moment ihrer Stellung und Lösung, ihr Gegenteil erzeugt.
Verfolgt man zur Veranschaulichung beispielsweise die Konsequenzen der Probleme, die sich der Wissenschaft zu Beginn der Industrialisierung stellten, so kommt man schnell zu dem Schluß, daß sich diese mit jeder der scheinbaren Lösungen potenzierten. Diesen Umstand erklärt Bauman dadurch, daß es nur die Mächte sind, die sich die Welt fragmentarisch denken und die selbst fragmentarisch sind, während die Welt oder die Natur, die durch die Mächte zum Reden gebracht werden sollen, nicht tatsächlich fragmentarisch sind. So wirkt es sich beispielsweise auf den Sauerstoffhaushalt der gesamten Erde aus, wenn auf nur einem Kontinent Regenwald abgeholzt wird. Das Problem, das dadurch entsteht, erfordert neue Lösungen, die wiederum neue Probleme schaffen werden, welche jedoch im Vorhinein nicht absehbar sind[33]. Mit jedem entlockten Geheimnis entsteht somit ein neues Undefiniertes, mit jedem Akt der Fragmentierung potenziert sich das Unkontrollierbare, das uns chaotisch Erscheinende. “Leute bleiben multifunktional, Wörter polysem. Oder besser, Menschen werden multifunktional aufgrund der Fragmentierung von Funktionen; Worte werden polysem aufgrund der Fragmentierung von Bedeutungen. Undurchsichtigkeit entsteht am anderen Ende des Kampfes um Transparenz. Verwirrung entsteht aus dem Kampf um Klarheit. Kontingenz wird an der Stelle entdeckt, wo viele fragmentarische Werke der Bestimmung sich treffen, zusammenstoßen und sich miteinander verwirren.”[34]
E) Die Opposition als Kennzeichen der Moderne
Aus alle dem wird schließlich klar, daß “der zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen Praxis (...) die Opposition - genauer die Dichotomie”[35] ist. Und “mit jeder weiteren Zweiteilung wächst die Distanz zwischen Abzweigungen von dem ursprünglichen Stamm, ohne horizontale Glieder, um die Isolierung auszugleichen.”[36] Beide Seiten, die sich aus der Trennung, aus der Dichotomie, ergeben, hängen voneinander ab. Allerdings ist ihre Beziehung keine symmetrische, denn die zweite der entstandenen Seiten wird stets nur als das Andere der ersten betrachtet.
Diese Unsymmetrie ist eine stete Wunde im Fleisch der Moderne, denn eines ihrer Traumbilder ist, wie etwas weiter unten ausgeführt werden wird, die vollständig Symmetrie, in deren Schema die Welt jedoch nie zur Gänze gepreßt werden kann. Und deshalb betrachtet die Moderne jede dieser zweiten Seiten, die das geometrische, der Ordnung genügende, Traumbild zerstören als ein Abfallprodukt im Kampf gegen Ambivalenz.
Eine weitere der anfänglich gestellten Fragen, diejenige, die sich für das ‘wie’ und ‘warum’ des Grenzenziehens interessiert, kann beantwortet werden: Um das Chaos teilweise in Ordnung zu überführen, wird das Vorgefundene per Klassifikation in zwei Teile geteilt. Der eine ist Ordnung - Eindeutigkeit -, der andere das Andere der Ordnung - Mehrdeutigkeit. Das Ideal der Ordnung ist es, eine vollkommene Symmetrie herzustellen, Oppositionen zu schaffen, deren Seiten beide eindeutig benennbar sind. Bei diesem Vorgehen wird jedoch stets Ambivalenz, also Mehrdeutigkeit erzeugt. Da die Moderne sie jedoch nicht als gleichberechtigtes Produkt ansieht, sondern als einen Störfaktor des symmetrischen Ideals, nimmt sie den Kampf gegen die Ambivalenz, also das Ab- und Ausgrenzen stets von Neuem auf.
F) Ausgrenzungen
Im modernen Denken kann es somit nie zu einer Tolerierung der Ambivalenz kommen, zumal diese doch als stetes Hindernis und nicht als Ermöglichung der eigenen Praxis angesehen wird. Und je länger der Kampf dauert, desto härter wird er.
Eine der modernen Strategien erwies sich im konkreten Kampf gegen andere, ”prämoderne” oder “barbarische”[37] Lebensformen als besonders hilfreich. Nämlich diejenige, “automatisch alle alternativen Lebensformen und insbesondere jede Kritik an den modernen Werten als Ausfluß prämoderner, irrationaler, barbarischer Positionen zu definieren, die es nicht wert seien, ernsthaft erwogen zu werden”[38], und diese zur Bekämpfung freizugeben. Denn gemäß des modernen Denkens ist es durchaus legitim, die Rechte der Anderen, die sich nicht den modernen, rationalen, ordentlichen Strukturen unterwerfen wollen, zu negieren und delegitimieren. “Solange der Drang, einen Schlußstrich unter die Ambivalenz zu ziehen, das kollektive und individuelle Handeln leitet, wird Intoleranz folgen.”[39]
Wie aber kann erkannt werden, wer zu der eigenen Klasse der Ordnung und wer zu den Anderen gehört? Dazu sind klare Grenzen und Oppositionen von Nöten, denn Grenzen ermöglichen es, das Drinnen vom Draußen zu unterscheiden, diese beiden Gebiete als oppositionell zu denken und allem Inneren ein Bleiberecht zuzuerkennen, alles Äußere hingegen als schlecht und böse, weil chaotisch, zu verdammen und ihm damit das Recht auf Existenz abzusprechen - und schließlich “darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.”[40]. Das, was sich vom Äußeren ins Innere ziehen läßt, also seinen beängstigenden Stachel, sein Geheimnis preisgibt, entgeht dem Schicksal der Zerstörung, auch wenn es durch diese Preisgabe seine Eigenheit verliert. Demjenigen aber, das sein Geheimnis, seine Eigenheit bewahrt, wird der Kampf angesagt.
Dies trifft nun nicht nur auf den politischen Bereich, sondern auch auf den Bereich der Vernunft zu: “Im Reich der Vernunft und der Politik muß die Ordnung gleichermaßen sowohl exklusiv als auch umfassend sein. Deshalb verschmilzt die doppelte Aufgabe zu einer einzigen: zu der die Grenze der ‘organischen Struktur’ scharf und deutlich zu markieren, was bedeutet, das ‘Mittlere auszuschließen’, alles Zweideutige, alles was quer über der Barrikade sitzt und auf diese Weise den vitalen Unterschied zwischen innen und außen kompromittiert, zu unterdrücken oder auszurotten. (...) Im politischen Bereich bedeutet die Beseitigung von Ambivalenz, Fremde auszugrenzen und zu verbannen, (...). Im intellektuellen Bereich bedeutet das Beseitigen der Ambivalenz vor allem, allen philosophisch unkontrollierten oder unkontrollierbaren Gründen des Wissens die Legitimation abzusprechen.”[41]
I.1.2. Schluß
In dem die Moderne einem Teil dessen, was sie erst ermöglicht, das Recht auf Existenz abspricht, erweist sie sich zugleich als selbsterzeugend und selbstzerstörend, denn erst der Kampf gegen die Ambivalenz ermöglicht ihr den steten Fortschritt, der sie am Leben hält. Doch genauso ermöglicht die Bewegung der Suche nach zunehmender Klarheit - ‘Aufklärung’ - auch die immer lauter werdende Kritik am ausgrenzenden, intoleranten, gewalttätigen Vorgehen der Moderne.
Bevor ich nun jedoch dazu übergehe, eine mögliche, offenere und tolerantere Weise des Umgangs mit dem Fremden darzulegen, was im dritten Teil der Arbeit geschehen wird, wenden wir uns explizit dem Teil der ‘unterirdischen Geschichte’ zu, der sich mit dem sich wandelnden Verhältnis der Mensch zum Leib bzw. Körper auseinandersetzt. Denn auch dieses ist ein ‘Opfer’ des modernen Kampfes gegen Ambivalenz.
I.2. Die ‘unterirdische Geschichte’
“Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. (...)
Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper.”[42]
“Die Haßliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur. (...) Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und der Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ‘corpus’, unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat.”[43]
Im vorangegangenen Unterkapitel haben wir die Vorgehensweise der Moderne nachverfolgen und den Großteil der zu Beginn gestellten Fragen beantworten können. Nun soll es, wie bereits angekündigt, um die ‘unterirdische’ Geschichte und um die Beantwortung der noch verbleibenden Fragen gehen. Bevor ich die ’unterirdische Geschichte’, die in den beiden obenstehenden Zitaten bereits angeklungen ist, ausgehend von Horkheimer und Adorno, unterstützt von der Interpretation Eugen Königs und den Ausführungen von Rudolf zur Lippe darlegen werde, möchte ich einen der jüngsten Auswüchse des angedeuteten, verstümmelten Verhältnisses zum Körper vorstellen. Ich bringe dieses Beispiel an, um zu zeigen, wohin ein unreflektierter Körperdiskurs in Verbindung mit (post)moderner Technologie, einem felsenfesten Fortschrittsglauben und einem eben solchen Vertrauen in die Umsetzungsansprüche des Machbaren, führen kann. Von diesem Beispiel - das sich selbst als dekonstruktivistisch versteht - möchte ich mich in aller Deutlichkeit absetzen.
Meine Ausführungen entnehme ich dem Bändchen “Die Eroberung des Körpers”[44] von Paul Virilio. Im Kapitel “Vom Übermenschen zum überreizten Menschen” berichtet Virilio über den australischen Tänzer Stelarc, dessen ausgesprochenes Ziel es ist, den menschlichen Körper so umzugestalten, daß er nicht mehr auf die Bedingungen unserer Atmosphäre angewiesen ist.
“Ich versuche die Möglichkeiten des Körpers zu erweitern, indem ich die Technologie benutze. (...) Bei meinen Auftritten gibt es vier verschiedene Bewegungsarten: die improvisierte Bewegung des Körpers, die Bewegung der Roboterhand, die durch Signale meiner Bauch- und Beinmuskulatur gesteuert wird; die programmierte Bewegung des künstlichen Arms, die Bewegung meines linken Arms, der von mir unabhängig durch elektrische Impulse bewegt wird. Die Verknüpfung dieser gewollten, ungewollten und programmierten Bewegungen ist es, die mich interessiert.”[45]
“Angeregt durch meine Auftritte habe ich begonnen, mir Fragen zum Design des menschlichen Körpers zu stellen, und je weiter ich mit meiner Arbeit komme, um so mehr glaube ich, daß der Körper künftig überflüssig sein wird.”
“Stelarc schließt in seinen Überlegungen an die Analysen von Nietzsche an, erweitert dessen Äußerungen und erklärt, daß die ‘Dekonstruktion‘ sich nicht mehr nur auf die Sprache beschränken sollte - das Kommunikationsmedium schlechthin -, sondern auf unsere Physiologie, den Anfang und das Ende unserer Weltwahrnehmung ausgedehnt werden müßte: ‘Die äußerste Grenze der Philosophie ist die physiologische Grenze, die geringe Leistungsfähigkeit unserer Organe, unser panästhetische Vision der Welt... Ich glaube tatsächlich, daß die Evolution in dem Augenblick ihr Ende erreicht haben wird; in dem die Technologie sich des menschlichen Körpers bemächtigt hat.’”
“Heute (...) klebt uns die Technologie auf der Haut, sie wird zu einem Bestandteil unseres Körpers - angefangen bei der Uhr bis zum künstlichen Herz. Das bedeutet für mich das Ende der darwinistischen Vorstellung von Evolution, verstanden als eine organische Entwicklung anhand der natürlichen Selektion über Millionen von Jahren hinweg. Von nun an ist der Mensch dank der Nanotechnologie dazu in der Lage, die Technologie in sich aufzunehmen. Infolgedessen muß der Körper als eine ‘Struktur’ verstanden werden. Die einzige Möglichkeit, unser Bewußtsein von der Welt wieder ins rechte Lot zu bringen, besteht darin, die Architektur des Körpers zu verändern.”
“Folglich lautete die Frage: Wie ist eine panplanetarische menschliche Physiologie herstellbar?”
“Mit anderen Worten, es muß die Frage gestellt werden: Wie ist ein menschlicher Körper umzugestalten, der unter Bedingungen existieren kann, die nicht mit denjenigen unserer Atmosphäre, der Gravitation oder unserem elektromagnetischen Feld identisch sind?”
Dieses Unterkapitel soll nun - gewissermaßen als ein ausführlicher Kommentar zu den beiden unterschiedlichen Zitatblöcken - zeigen, wie eine solche, den menschlichen Körper zum ‘Rohmaterial’ erniedrigende Auffassung, aus den, bei Bauman beschriebenen modernen Vorgehensweisen entstehen konnte, und wie es dazu der Transformation des Leibes in den Körper und die Trennung von Körper, Seele und Geist bedurfte, die sich bereits in der Renaissance abzeichnete.
I.2.1. Ausgangspunkt: Die moderne ‘Haßliebe gegen den Körper’
A) Die ‘“Dialektik der Aufklärung’ - eine kurze Einführung
In der “Dialektik der Aufklärung” messen Horkheimer und Adorno die Gegenwart der Nachkriegszeit an den Idealen der Aufklärung, in deren Namen seit zwei Jahrhunderten argumentiert worden war und kommen zu dem Schluß, daß der vermeintliche “Fortschritt” in “Rückschritt”[46] umgeschlagen ist. Der Keim zu diesem Rückschritt, der sich bei ihrer Analyse überall in der Gesellschaft vorfinden ließ, sei bereits keimhaft in der Aufklärung angelegt und in diesem Sinn ‘zerstöre’ sich die Aufklärung ‘selbst’. Nun folgern sie aus jenem Sachverhalt jedoch nicht, daß die Forderungen der Aufklärung hinfällig seien, sondern, daß sie “dieses rückläufige Moment”[47], reflexiv in sich aufnehmen müsse, um nicht das Schicksal ihrer Selbstzerstörung zu besiegeln: “Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.”[48] Diese vergangene Hoffnung der Aufklärung war die geschichtsmächtige Idee von individueller und politischer Freiheit, die jedoch - gemessen an dem von Horkheimer und Adorno Vorgefundenen - nicht eingelöst worden ist.
B) ‘Interesse am Körper’
In unserem Zusammenhang ist nun vor allem das Kapitel “Interesse am Körper” interessant, das sich damit auseinandersetzt, inwiefern der Körper von den zivilisatorischen Verstümmelungen betroffen ist.
Horkheimer und Adorno nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Arbeitsteilung, die die “rohe Kraft mit einem Bann”[49] belegte. Die Arbeit und die Arbeiter - womit zunächst die Sklaven gemeint sind - wurden als minderwertig betrachtet. Diese Degradierung nahm in dem Maße zu, wie die Herren, also die Nutznießer der Arbeit der Anderen, von der Kraftanstrengung eben jener Sklaven abhängig wurden. Der Machtaspekt der Degradierung von körperlicher Arbeit wird hier bereits klar erkennbar. Das Christentum schließlich wertete die Arbeit auf, verdammte aber um so heftiger den fleischlichen Körper, welcher als die “Quelle allen Übels”[50] angesehen wurde.
In modernen Zeiten, als sich die Menschen aus ihrer ständischen Abhängigkeit befreiten, gelang es ihnen jedoch nicht, sich von der so lange eingeschliffenen Unterscheidung zweier hierarchisierten “Rassen von Natur”[51] loszumachen. Diese Spaltung in Unten und Oben, die einst durch Herr und Sklave, durch Kolonialherren und Eingeborene repräsentiert worden war, bzw. durch die christliche Religion legitimiert werden konnte, verlegte sich nun in säkularisierter Form in das Innere eines jeden und schrieb sich damit der eigenen Kultur noch tiefer ein. Nun galt also der ausbeutbare Körper als das Niedrigste, der Geist aber, den zu pflegen beileibe nicht alle die Muße hatten, als das Höchste. “Im Verhältnis des Einzelnen zum Körper, seinem eigenen wie dem fremden, kehrt die Irrationalität und Ungerechtigkeit der Herrschaft als Grausamkeit wieder, die vom einsichtigen Verhältnis, von glücklicher Reflexion so weit entfernt ist, wie jene von der Freiheit.”[52] Der Körper nimmt also vollends die erniedrigte, unterdrückte Stellung ein, die vormals den Sklaven und den zu kolonisierenden und zu missionierenden ‘Barbaren’ zugekommen war.
Weshalb Horkheimer und Adorno vom ‘Haß’ gegenüber dem Körper sprechen, wird zunehmend verständlich. Nun ist Haß aber nur eine Seite der modernen Haltung gegenüber dem Körper. Die andere ist die Liebe. Und auch das greift zu kurz, denn eigentlich ist es erst die unauflösbare Kombination aus beiden, die ‘Haßliebe’, die als zusammengesetzter Begriff imstande ist, das paradoxe Verhältnis zu umschreiben. ‘Paradox’ deshalb, weil das, was gehaßt, auch als das ”Entfremdete”, “Verbotene”, “Verdinglichte”[53] begehrt wird.
Die modernen Menschen beschneiden ihren Körper. Sie erniedrigen ihn zum Objekt, sehen in ihm nur noch den ‘corpus’, das tote Rohmaterial, mit dem ebenso wie mit allen anderen Rohmaterialien und Objekten umgegangen werden kann.
C) ‘Vom Leib zum Körper’
Eben jenen Prozeß - die ”Sozialgeschichte des Leibes”[54] - umschreibt Rudolf zur Lippe mit der Formel, ‘vom Leib zum Körper’. Durch die vorgenommene Unterscheidung der Begriffe ‘Körper’ und ‘Leib’ könne wieder in den Blick kommen, welche Folgen die vergangene Gleichsetzung nach sich gezogen haben. Die reduktionistische und nivellierende Gleichsetzung von Körper und Leib im Begriff ‘Körper’ setzt den menschlichen gemein mit Körpern jeglicher Art und erleichtert so die von Horkheimer und Adorno beschrieben Degradierung des Körpers gegenüber dem Geist. Die allen Körpern gemeinsame Cartesianische[55] Definition ist die der ‘res extensa’, also die, Ausdehnung zu haben. Damit wird der menschliche Körper genauso handhabbar wie tote und geometrische Körper, er wird zum Objekt der Forschung und wissenschaftlichen Reflexion. Er wird meßbar, durch Gesetzmäßigkeiten erklär- und beherrschbar, seine Geheimnisse können ihm mit Hilfe von Physik, Medizin, Chemie etc. entlockt werden.
Auch am Schicksal des Körpers kann also nachvollzogen werden, wie die als chaotisch wahrgenommene Natur zum Sprechen gebracht und versucht wird, sie in eine handhabbare Ordnung zu überführen. “Unmittelbar und unwiderruflich geht mit der Zuordnung unserer Physis zur mechanischen Welt der Dinge die Trennung der Sinnesorgane von den Tätigkeiten des Geistes, der Seele, des Verstandes einher. (...) Was die Definitionen entzwei gesetzt haben, kann sich nicht vereinigen, solange nicht wenigstens diese Ursachen des gegensätzlichen Zweiseins erkannt wird.”[56]
Die Beantwortung der Fragen nach dem Leib, die diesem Teil der Arbeit voranstehen, rückt damit in Sicht. Der beseelte Leib wird zunächst aufgespalten, in die im Zitat angesprochenen Tätigkeiten und schließlich werden alle Merkmale, die nicht dem Geist, der Seele oder dem Verstand zugeordnet sind, im Begriff des Körpers zusammengefaßt. Damit können die lebendigen, eigenständigen, nicht beherrschbaren Anteile des Leibes nicht mehr in den Blick kommen. Was bleibt ist der ‘corpus’, der ‘tote Körper’, der als dem Geist entgegengesetzt gedacht wird. Es kann also bestätigt werden, daß nach der Trennung nur einer der beiden Teile übrigbleibt - ob es jedoch sinnvoll ist, von ‘überleben’ zu sprechen, bleibt angesichts der Definition von ‘Körper’ fraglich. Was aber geschieht nun weiter mit dem ‘Leib’ und was mit dem ‘Körper’? Gibt es eine Möglichkeit, die vorgenommene Verstümmelung zu heilen?
D) Vom Körper zum Leib?
Horkheimer und Adorno zur Folge, ist diese, auch bei zur Lippe nur vage formulierte Hoffnung auf eine Wiederzusammenfügung der getrennten Teile gänzlich unmöglich: “Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird.”[57] Mit dieser Aussage kommentieren sie die beiden großen Versuche der Geschichte, dem Leib zu einer Renaissance zu verhelfen, gestartet durch die Philanthropen im ausgehenden 18. Jahrhundert, bzw. durch die Reformbewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Doch auch diese beiden pädagogischen Bewegungen, deren Aufmerksamkeit der Ertüchtigung des Körpers galt, trugen zur Vertiefung der Trennung zwischen Geist und Körper bei.[58] Denn auf den zweiten, den tiefergehenden Blick, wird ersichtlich, daß auch “die Körperpädagogik, gleich ob philanthropischer oder reformpädagogischer Couleur, (...) einen Feldzug gegen ihren ärgsten Feind: den ‘ungesunden’ und ‘wilden’ Körper”[59] führte. “Und seit Descartes weiß sie, daß der richtige Weg in die Richtung führt, die vom obersten Richter, nämlich den wissenschaftlich abgesicherten Methoden und Techniken gewiesen wird. Ziel dieser Strategie ist die Formierung des disziplinierten, des zugerichteten Körpers. (...) Er wird normalisiert, erhält die ‘normale’ Bewegungsform und eine neue Individualität.”[60]
Es ist also festzuhalten, daß eine der oben so betonten Grenzlinien mitten durch den Menschen, bzw. mitten durch den ‘Leib’ der Menschen verläuft. Nachdem die Spaltung von Körper und Geist vorgenommen worden ist - jene Trennungslinie die das Ende des ‘Leibes’ bedeutete - kann die Auffassung des Körpers als ‘corpus’, als Objekt ungehindert Fuß fassen. Wie bei allen modernen Grenzziehungen geht mit der Trennung eine Hierarchisierung der beiden Teile einher: der Körper wird zum Anderen des Geistes. Der in der Bewertung absolut gesetzte Geist wird zum Richter über den Körper. Doch anders als bei anderen modernen Grenzziehungen wird das andere Gebiet nicht von Außen bekämpft, sondern in einer Art ‘Haßliebe’ wird in den Körper und seine Virtuosität investiert, wovon die beiden körperpädagogischen, reformativen Bemühungen zeugen.
Heute scheint der menschliche Geist von der Existenz des Körpers immer unabhängiger zu werden. Damit könnte eine neue Zeit für den Körper angebrochen sein, die Zeit seines Verschwindens. Meiner Meinung nach ist es jedoch eben jene neuzeitliche, in der Moderne perfektionierte Trennung, die schließlich die ‘postmodernen’ Träume eines Stelarc - die heute durchaus nicht unrealisierbar erscheinen - ermöglicht hat.
I.2.2. Der Formierung des Körpers zum ‘Marsch in die Moderne’
“Heute beginnen die Menschen die Selbstberaubung durch Naturbeherrschung zu erkennen. Sie wird nur umgewendet werden können, wenn wir neu auch aus der abendländischen Vorgeschichte erleben, was sie vorfand und verdrängte, wenn wir begreifen, daß sie als Beraubung der einen Menschen durch die anderen im Zuge von Macht begann, und wenn wir dadurch eine verspätete Verantwortung für die Geschichte beider Seiten übernehmen, die wir in präziser Analyse auf diese Geschichte als einen möglichen Gang mit der Suche nach anderen möglichen Wegen antworten.”[61]
In diesem Zitat kommt erneut - unter einer anderen Perspektive allerdings - zum Ausruck, was wir bereits von Horkheimer und Adorno erfahren haben, nämlich, daß die Aufklärung ihr rückläufiges Moment reflexiv in sich aufnehmen müsse, um das Schicksal der Selbstzerstörung nicht zu besiegeln. Zur Lippe sagt nun, daß dieses selbstgefährdende Moment nur dadurch ‘umgewendet’ werden könne, daß der Lauf der ‘Sozialgeschichte des Körpers’ genauestens unter der Perspektive analysiert wird, daß der genommene Weg nur einer der möglichen gewesen sei und daß ein anderer genommen werden müsse und könne.
Beide Position, sowohl die Horkheimers und Adornos, als auch die von zur Lippe gehen davon aus, daß das Verhältnis zum Körper nicht einfach mit dem in die Zukunft gerichteten Blick ‘verbessert’ werden kann, denn die Verstümmelungen des menschliche Körpers werden als Narben und als Verkrüppelungen bleiben. Was getan werden kann und muß, ist das kritische Rückverfolgen der Geschichte, der Naturbeherrschung, die auch am menschlichen Körper ablesbar ist - um die verstümmelnden Momente und die Momente, die durch die Geschichte in Vergessenheit geraten sind, die verdrängt wurden, herauszufiltern. Der ‘neue’, reflexive Weg kann seinen Ausgang aber nur beim verstümmelten Körper nehmen, bei der Trennung von Körper und Geist und er kann auch nicht versprechen, den Menschen wieder ‘ganz’ oder ‘heil’ zu machen Das einzige was angestrebt werden kann, ist ein, auf seine Gefahren und Risiken reflektierender, Umgang sowohl mit den rationalen, wie den körperlichen Anteilen der Menschen.
Zur Lippe beginnt seine Analyse im 15. Jahrhundert. Für ihn ist die Zeit der Renaissance von Interesse, zumal in diesem Geschichtsabschnitt die entscheidenden Weichen für den ‘Marsch in die Moderne’ gestellt worden sind.
A) Der ‘ökonomische Wandel’ zur Zeit der Renaissance
Die Sozialgeschichte des Leibes, die wie gesagt mit der Kurzformel ‘vom Leib zum Körper’ gefaßt werden kann, kann nicht isoliert betrachtet werden. Sie ist durchdrungen und durchdringt die gesamte menschliche Geschichte. Zur Lippe stellt einige wichtige Stränge der Geschichte der Renaissance in Grundzügen dar, wobei er vor allem den ökonomischen Wandel fokussiert:
Im Italien des 15. Jahrhunderts waren der Fernhandel zwischen dem Norden und dem Orient und mit ihm die vermögenden Handelsherren zu bis dahin ungekannter Macht gekommen. Durch diese Entwicklung zerbrachen einerseits die Fesseln der alten Ordnung, die die Menschen an ihr Land oder an ihre Handwerkszunft gebunden hatten und andererseits die Sicherheiten und Bindungen für die ärmeren und abhängigen Schichten. Die Schicht der Adeligen und derjenigen, die diese Entwicklung zu ihrem Vorteil nutzen konnten, strebten nach neuem Glück durch neuen Reichtum. Und obwohl bei diesem Streben jedes Mittel recht war, schien diese neue Möglichkeit, sein Glück zu machen, eine Möglichkeit zu sein, der gesamten Menschheit zu einem harmonischeren Zusammenleben zu verhelfen. Die Verwirklichung des Himmels auf Erden schien in erreichbare Nähe gerückt zu sein.
Die Schattenseite dieser emporstrebenden Entwicklung bekamen vor allem die verarmenden Schichten im jeweils eigenen Land und die billigen ArbeiterInnen weit entfernter Länder zu kosten, weshalb das Elend auch im Schatten bleiben konnte, denn für die Nutznießer dieser Entwicklungen - für die gesellschaftlich und geschichtlich ‘Bedeutsameren’ - war es wegen der räumlichen Distanz einfach, das ausbeuterische Moment zu ignorieren.
Jene räumliche Distanz, die der Fernhandel und die Produktion in aller Herren Länder mit sich brachten, war es auch, die es nötig machte, die Arbeiten vergleichbar zu machen und Zentralisierungs- und Standardisierungsprozesse einzusetzen. Die Produkte mußten zur besseren Kalkulierbarkeit normiert werden, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und -verhältnisse in unterschiedlichen Ländern und Städten angeglichen, dauerhaft und vorhersehbar werden, der Straßenbau und die Sicherheit der Straßen mußten vorangetrieben, Münzen vereinheitlicht oder zumindest im Wert vergleichbar werden, etc. Diese vielen nötigen Veränderungen konnten nur von den herrschenden absolutistischen Machthabern durch Steuern und Söldnerheere durchgesetzt werden.
So wurde im 16. Jahrhundert Frankreich, das den neuen Anforderungen am Besten gerecht werden konnte, zur führenden Macht: Die im 15. Jahrhundert bereits angestrebte Zentralisierung wurde jetzt durch das Bündnis von Wirtschaft und Politik durchgesetzt. Von nun an gab es Nationen auf einem bestimmten, abgegrenzten Territorium, die von einem souveränen Herrscher regiert wurden.
Dieses für die Zentralisierung so entscheidende Streben nach Vergleichbarkeit, Vereinheitlichung und Standardisierung machte auch vor den Menschen selbst nicht halt: “Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist die Geometrisierung des Menschen. Paradigmatisch tritt sie auf als Zerlegung menschlicher Bewegungszusammenhänge nach physikalischen Gesichtspunkten in kleinste Teileinheiten und als deren beliebige Wiederholung, als Rekonstruktion neuer Abfolgen unter äußeren Formkriterien. In der Produktion heißt das etwa repetetive Teilarbeit und trat erst nach der Industrialisierung auf”[62] Mit den Menschen und ihrer körperlichen Arbeitskraft kann ab jetzt gerechnet werden, denn diese wird durch den zergliederten Bewegungskanon genauestens kalkulierbar. Sie hat nun vornehmlich äußeren Formkriterien zu gehorchen und muß vom Einzelnen nahezu mechanisch bloß ausgeführt werden.
B) Die Folgen der Geometrisierung des Menschen
Über die heutigen Folgen der Geometrisierung des Menschen - diesem ‘Fluchtpunkt’ der Vereinheitlichung und Standardisierung der Menschen und ihres Körpers - und der repetetiven Teilarbeit, die in der Renaissance in Gang gesetzt wurden, schreibt Günther Anders in seinem zweibändigen Werk “Die Antiquiertheit des Menschen”[63]. Er formuliert, daß die Menschen ‘ins Lager der Geräte desertiert’[64] seien. Damit bringt er die Empfindung der Menschen gegenüber den Geräten zum Ausdruck., er nennt diese Empfindung “prometheische Scham”[65]. Als Beispiel sei ein Fabrikarbeiter angeführt, dessen Ideal es ist - und sein muß, wenn er den Ansprüchen, die an seine Funktion geknüpft sind, genügen will - so reibungslos zu funktionieren wie die Maschine, die er bedient. Er strebt danach, sich in den maschinellen Ablauf einzufügen, ein Teil des Apparates zu werden. Macht er einen Fehler, so daß der reibungslose Ablauf gestört wird, sieht aber z.B., daß das Fließband unermüdlich weiterläuft, so empfindet er Scham über seine Unvollkommenheit. Schuld an diesem Zurückbleiben ist der menschliche Körper, der sich durch seine Begrenztheit bisher niemals vollständig geometrisieren ließ. Aber DenkerInnen, WissenschaftlerInnen und auch KünstlerInnen, wie der bereits zitierte Tänzer Stelarc werden diesem Fabrikarbeiter wohl Hoffnung machen können. Die vollständige, in der Renaissance angestrebte Geometrisierung des Menschen rückt in greifbare Nähe: “Heute (...) klebt uns die Technologie auf der Haut, sie wird zu einem Bestandteil unseres Körpers - angefangen bei der Uhr bis zum künstlichen Herz.” - darin läßt sich Stelarc zustimmen.
Um die Körper in diese neue Ordnung zu bringen bedarf es nun aber auch einer neuen Art zu denken, sich die Welt vorzustellen. Ansatzweise wurde sie hier bereits beschrieben. Sie besteht darin, Objekte zu klassifizieren, denn die Geometrisierung des Menschen und der Arbeitskraft wurde erst dadurch möglich, daß man begann, sich den Körper als ein solches Objekt vorzustellen. Der Körper erscheint als ein Stück ‘tierische’ Natur, derer sich die Naturwissenschaft messend und analysierend zuzuwenden beginnt.
C) Cartesianische Trennungen
Bereits des öfteren wurde von der Geometrisierung des Menschen gesprochen. Damit ist nun mehr gemeint, als bloß die Zergliederung von Bewegungen und deren daraus folgende Berechenbarkeit, wie sie bisher besprochen wurden.
Um die Bedeutung der Geometrisierung des Menschen besser erfassen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf den Begründer der analytischen Geometrie, auf René Descartes (1596-1650) zu werfen, denn ”die Geschichte des modernen Körperbegriffs beginnt mit seiner säkularisierenden Verwissenschaftlichung mit Hilfe von Mathematik und Physik bei Descartes.”[66] Die von ihm begründete analytische Geometrie, die es ermöglicht, jede beliebige ebene Kurve in einer Gleichung auszudrücken, ist der Versuch, “die Algebra, das heißt: das reine Denken auf die Geometrie, das heißt: das reale Sein anzuwenden.”[67]
Auf die Welt gewendet, die im Denken Descartes in zwei Teile zerfällt, kann nun gesagt werden, daß das reine Denken als dem einen Teil, nämlich dem Geist zugehörig und das reale Sein als dem Körper zugehörig, definiert wird. Wie bereits gesagt, ist aller Materie, und damit allen Körpern, gemeinsam, daß sie Ausdehnung haben - ‘res extensa’ -, der Geist hingegen - ‘res cogitans’ - ist ohne Ausdehnung, aber nie ohne Denken. Diese ‘res cogitans’, also der Geist, die Seele, der Verstand und die Vernunft, ist der einzige Ausweis und Wahrheitsgrund des menschlichen Seins; alles was Ausdehnung hat, also eine Gestalt besitzt, sich bewegt oder körperlich ist, gehört nicht zur erkennenden, menschlichen Natur.
In dieser Unterscheidung zwischen dem Materiellem und dem Geistigen besteht der Cartesianische Dualismus, die Zwei-Substanzen-Lehre. Dabei kommt den beiden Substanzen eine unterschiedliche Bewertung zu. Das Denken ist das einzige, das Wahrheit beanspruchen kann, aus ihm ist alles andere, auch die zweite Substanz, deduzierbar, es erhält absolute Priorität vor allem Materiellen.
Was zunächst erkenntnistheoretisch zu verstehen ist, überträgt Descartes nun auch auf die Anthropologie. Die in der Erkenntnistheorie vollzogene Priveligierung der ‘res cogitans’ führt zu einer ”negativen Bewertung alles Körperlichen und der hohen Wertschätzung der Reinheit der immateriellen Seele in der Cartesianischen Anthropologie. In ihr ist der ‘Anthropos’ eine Residual- bzw. Substraktionskategorie. Erst nach Abzug alles Animalischen offenbart der Mensch sein wahres Wesen im Rest der reinen Geistigkeit: animal rationale.”[68]
Descartes kommt zu dem Schluß, daß der Körper und die Seele nichts miteinander gemeinsam haben, daß da wo Ausdehnung ist, nicht Seele und wo Geist ist, nicht Ausdehnung sein kann. Der menschliche Körper spielt also für Erkenntnisfindung keine Rolle - höchstens als Objekt der Wissenschaft. Descartes folgert, daß “der menschliche Körper eine Maschine ist, die mit der Seele nichts gemeinsam hat, und die Tiere, da sie nicht denken überhaupt keine Seele besitzen und sich in nichts von komplizierten Automaten unterscheiden.”[69] Die Bewegungen des Körpers sind nun nicht vom Geist abhängig, sondern allein den Vermögen des Körpers zu verdanken. Die Vermögen des Körpers bestehen in der Funktionstüchtigkeit all seiner lebensnotwendigen Organe, Knochen, Muskeln etc. Sie alleine sind für die Bewegungen des Körpers, die als mechanisch verstanden werden, vonnöten. Seele und Körper sind also voneinander unabhängig - und als unabhängige Substanzen bilden sie den Menschen. Jedoch macht nur die seelische Substanz den Menschen zu einem solchen, denn die Vermögen des seelenlosen Körpers teilt er mit den Tieren und seine Ausdehnung mit allen Körpern.
Aus all dem wird die hierarchische Teilung von ‘res extensa’ und ‘res cogitans’ deutlich: “Die wissenschaftlich-richtende Vernunft sichert sich ab, indem sie ihr anderes ausschließt, und das macht sie, indem sie ihren Gegenspieler als ein Objekt konstituiert und rationalisiert, um sich davor zu schützen und sich davon freizumachen - und um es handhabbar zu machen.”[70]
Fern davon, Descartes Gedanken in irgendeiner Weise gerecht zu werden, sollte doch klar geworden sein, wie entscheidend der Cartesianische Dualismus für das moderne Verhältnis der Menschen zu ihrem Körper ist. Denn hier wird die Trennung vorgenommen, die für besagtes Verhältnis entscheidend ist - Geist/ Seele und Körper werden als unterschiedene Substanzen gesehen, wovon die eine, der Geist, über der anderen steht und durch ihr Erkenntnisvermögen auch Einfluß auf diese nehmen kann, wohingegen dem Körper keinerlei Erkenntnisfunktion zukommt.
Hier ist also der Grundstein gelegt; der ‘Marsch in die Moderne’ wird möglich und seine Strategie des Zerteilens und Grenzziehens in der Moderne weitergeführt.
I.2.3. Schluß
In diesem Unterkapitel sollte gezeigt werden, inwiefern die Hauptstrategie der Moderne des Grenzenziehens, des Auszugrenzens und des als minderwertig Definierens des Ausgegrenzten, die Menschen ganz direkt betrifft: in ihrem Verhältnis zum eigenen Körper.
Es sollte gezeigt werden, wie aus dem ‘beseelten Leib’ der ‘seelenlose Körper’ wurde und wie die Trennung von Körper und Geist zur Voraussetzung einer Entwicklung werden konnte, die sich bis in unsere heutige Zeit weiterverfolgen läßt.
Horkheimer und Adorno, die ihr Werk bereits 1947 geschrieben haben, machen auf die Folgen der Entwicklung, die zur Lippe die ‘vom Leib zum Körper’ nennt, aufmerksam und fordern, daß die Aufklärung diese sie selbst gefährdenden Momente - wozu auch das verstümmelte und verstümmelnde Verhältnis der Menschen zu ihrem Körper gehört - reflexiv in sich aufnehmen müsse, um nicht das Schicksal der Selbstzerstörung zu besiegeln. Es sei jedoch irreführend davon auszugehen, daß die Trennung von Geist und Körper einfach rückgängig zu machen sei, daß der ‘Leib’ einfach wieder proklamiert werden könne. Die Wunden und Narben bleiben, müssen zum Ausgangspunkt des Weiterlebens und Weiterdenkens genommen werden. Aber schon allein, daß sie Beachtung finden und nicht einfach geleugnet werden, weist auf einen neuen, bisher nicht beschrittenen Weg hin.
Nun wäre es aber genauso irreführend, davon auszugehen, daß das Verhältnis der Menschen zum Körper tatsächlich überall derartig in den Blick genommen wird. Neben denjenigen, die sich wie Horkheimer und Adorno, zur Lippe, König, Anders, Virilio, Bauman etc. kritisch reflektierend den ausgrenzenden Strategien der Moderne zuwenden, gibt es weiterhin diejenigen, die auf der Welle des steten Fortschritts weitertreiben.
Das Verhältnis von Mensch und Technik scheint sich gedreht zu haben. Nicht mehr die Menschen sind diejenigen, die Technik produzieren, sondern die Technik beginnt die Menschen zu produzieren. Verständlich wird dieser Gedanke, wenn man sich an die Bestrebungen Stelarcs - und er ist nur ein Beispiel für diese Strömung - erinnert. Stelarc fragt sich, wie der menschliche Körper mittels Technik so umzugestalten sei, daß er den technischen Ansprüchen wieder zu entsprechen in der Lage wäre.
Die Technik beginnt Einzug in den menschlichen Körper zu halten. Er kann schon nicht mehr ohne sie gedacht werden. Derartige Strömungen schreiben die Trennung von Körper und Geist unaufhaltsam weiter. Der Körper wird als Rohmaterial angesehen, das durch den Geist beliebig geformt werden kann.
Natürlich wäre es voreilig, den Einzug der Technik in den menschlichen Körper schlichtweg zu verdammen, denn die Technik ist heute tatsächlich nicht mehr aus dem Leben wegzudenken und die Frage ist, ob dies nötig wäre. Wie wäre ein Leben ohne Uhren, ohne Herzschrittmacher, ohne Zahntechnik, ohne Geburtenregelung, ohne Gesundheitskontrollen für Lebensmittel, etc. heute denkbar?
Es geht mir nicht darum, eine totale Technikkritik anzustimmen, die ebenfalls ihre problematischen Seiten hat, was im folgenden Kaptitel zur Sprache kommen soll. Es geht mir vielmehr darum zu zeigen, daß es nötig ist, die Konsequenzen zu bedenken, in den Blick zu bekommen, welche Folgen die Fragmentarisierung der Probleme und ihrer Lösungen nach sich ziehen, wobei für mich das Verhältnis zum Körper im Zentrum steht.
Im folgenden Teil möchte ich mich deshalb noch explizierter dem Körper widmen. Ich werde einen Exkurs in die Tanzgeschichte vornehmen, der sich zeitlich gesehen über die im ersten Teil angesprochene Epoche hinaus bewegt.
Ich wähle mir die Tanzgeschichte sozusagen als einen kleinen Aspekt aus der Gesamtgeschichte aus und betrachte ihn stellvertretend für die Sozialgeschichte des Körpers. Und so wird die am Ende des folgenden Kapitels erwähnte Toleranz gegenüber Pluralität und Ambivalenz, die der Strategie der Moderne ganz entgegensteht, zum Übergang des dritten Kapitels werden, in dem es schließlich erneut um eine Kritik an der modernen Strategie des Grenzenziehens gehen soll.
[...]
[1] M. Horkheimer & T. W. Adorno: ’Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente’; Frankfurt a.M. 1996, S.246
[2] ‘Ursprünglich’ und ‘ganz’ sind zwei Begriffe, die harmloser erscheinen als sie sind. Mit den Problemen, die sie aufwerfen, werde ich mich im Verlauf der Arbeit noch des öfteren auseinandersetzen. Auf das Problem, das sich mit dem ‘Ganzheitlichkeitsdiskurs’ stellt, werde ich mich besonders im II. Teil auseinandersetzen. Dort wird unter anderem die Jugend- und die Rhythmusbewegung dargestellt werden und ihre Instrumentalisierbarkeit durch den Nationalsozialismus. Auf das Problem eines punktuell und vollkommen gedachten Ursprungs gehe ich in III., im Kapitel über die Dekonstruktion nach Derrida, ein.
[3] Z. Bauman: ‘Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit’; Frankfurt a.M. 1995
[4] R. zur Lippe: ‘Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance’; Reinbek bei Hamburg 1988
[5] ebd., S.10
[6] ebd., S.14
[7] Bauman 1995, S.24
[8] Bauman 1995, S.24
[9] ebd., S.25
[10] ebd., S.14
[11] ebd. S.30
[12] ebd., S.13
[13] ebd.
[14] ebd., S.14
[15] ebd., S.15
[16] ebd., S.16
[17] ebd., S.17
[18] Es sei erneut auf den dritten Teil dieser Arbeit, auf Derridas Dekonstruktion verwiesen. Derrida entfaltet das Denken der différance. Dabei wird différance als die geheime Matrix der Metaphysik verstanden, die sie stets ungesehen beeinflußt hat und beeinflußt.
[19] An dieser Stelle scheint es mir nötig, auf die Frage der Datierung der Moderne bei Bauman einzugehen. Dies geschieht in einer Anmerkung, weil Bauman selbst, die Möglichkeit zur Datierung der Moderne als eine umstrittene Frage bezeichnet. Ihm kommt es in erster Linie auf die spezifisch modernen Bewegungen und Vorgehensweisen an und nicht so sehr auf deren zeitliche Festlegung, zumal “keinerlei Konsens, in der Frage, was datiert werden soll” (S. 16) herrscht. Dennoch legt er in einer Anmerkung offen, auf welche Zeit sich seine Überlegungen beziehen: “Ich möchte von Anfang an klar machen, daß ich mit ‘Moderne’ eine historische Periode bezeichne, die in Westeuropa mit einer Reihe von grundlegenden sozio-strukturellen und intellektuellen Transformationen des 17. Jahrhunderts begann und ihre Reife erreichte: (1) als ein kulturelles Projekt - mit dem Entstehen der Aufklärung; (2) als eine sozial vollendete Lebensform - mit dem Entstehen der industriellen (kapitalistischen und später auch kommunistischen) Gesellschaft.” (S.348) Und mir kommt es in meiner Arbeit vor allem auf die Weise an, in der Bauman die Periode der Moderne zeichnet. Aus diesem Grunde übernehme ich seinen Vorschlag, ohne auf die zahlreichen anderen Versuche einzugehen.
[20] ebd., S.18
[21] S. Freud: ‘Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur’; Frankfurt a.M. 1972
[22] ebd., S.10
[23] J. Kriz: ‘Grundkonzepte der Psychotherapie’; München 1989, S.34. Kriz zitiert an dieser Stelle Freud, ohne jedoch eine Literaturangabe zu machen. Trotzdem möchte ich den Satz verwenden.
[24] ebd. S. 36
[25] Bauman 1995, S.18
[26] ebd., S.19
[27] ebd., S.21
[28] ebd., S.19
[29] vgl. ebd., S.29
[30] ebd., S.24
[31] ebd., S.24f
[32] ebd., S.26
[33] Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Ulrich Becks zur ‘Risikogesellschaft’. In seiner Einführung schreibt Beck, daß im 19. Jahrhundert die Gegenüberstellung von Gesellschaft und Natur dem Doppelzweck Beherrschung und Leugnung der Natur diente. Im 20. Jahrhundert ist bereits gelungen, was angestrebt wurde: die Natur ist von einem Außen zu einem Innen geworden, zu einer in das Industriesystem hineingeholten Natur. Allerdings schlägt das erreichte Ideal ins Gegenteil um, denn die Probleme, die sich durch diese zweite, nicht mehr äußere Natur einstellen, können nicht mehr beherrscht, müssen vielmehr über die Luft, die Nahrung, die Kleidung usw. konsumiert werden. Der Ordnungswille und der Beherrschungswille versagen angesichts der selbstgeschaffenen Probleme. [vgl.: U. Beck: ‘Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne’; Frankfurt a.M. 1986, S.9f]
[34] ebd., S.27
[35] ebd., S.28
[36] ebd.
[37] ebd., S.35
[38] ebd.
[39] ebd., S.21
[40] Horkheimer & Adorno 1996, S.22
[41] ebd., S.40
[42] ebd.
[43] ebd., S.247
[44] P. Virilio: ‘Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen’; Frankfurt a.M. 1996
[45] Dieses und alle bis zur nächsten Fußnote folgenden Zitate sind Virilio entnommen, der Stelarc zitiert. Die kursiv geschriebenen Teile geben Stelarc selbst, die anderen hingegen Virilio wieder. In meiner Zitation habe ich die von Virilio vorgenommenen Hervorhebungen nicht übernommen. Virilio zitiert: L’Autre Journal; 3. September 1992. ‘On ne naît plus on ne meurt plus’, S.24ff; in: Virilio 1996, S.120ff
[46] ebd., S.5
[47] ebd., S.3
[48] ebd., S.5
[49] ebd., S.246
[50] ebd.
[51] ebd., S.247
[52] ebd.
[53] ebd.
[54] zur Lippe 1988, S.9
[55] Über die Rolle, die Descartes im Prozeß der Trennung von Körper und Geist spielt, wird noch ausführlicher berichtet werden.
[56] ebd., S.11
[57] Horkheimer & Adorno 1996, S.248
[58] Im Exkurs in die Tanzgeschichte (II.) werde ich mich besonders eingehend mit der angesprochenen Reformbewegung des ersten Drittel unseres Jahrhunderts auseinandersetzen.
[59] E. König: ’Körper - Wissen - Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers.’; Berlin 1989, S.12
[60] ebd.
[61] zur Lippe 1988, S.16f
[62] ebd., S.14
[63] G. Anders: ‘Die Antiquiertheit des Menschen. I & II.’; München 1992
[64] vgl. ebd., S.31ff (Band I)
[65] vgl. ebd., S.21ff
[66] König 1989, S.50
[67] E. Fridell: ‘Kulturgeschichte der Neuzeit. Band I.’; München1986, S.494
[68] König 1989, S.52
[69] Fridell 1986 (Bd.I), S.496
[70] König 1989, S.60
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- Marion Tamme (Author), 1997, Bewegte Dekonstruktion - Der Körper wie er durch die Strategien der Moderne entstanden ist und zum Instrument ihrer Dekonstruktion werden kann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21759
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