In dieser Arbeit wird die von Jean-Paul Sartre in der Nachkriegszeit gegründete Zeitschrift Les Temps Modernes untersucht. Mit dieser Zeitschrift dominierte Sartre das intellektuelle Feld in Frankreich etwa 20 Jahre lang. Wie ist dieser Erfolg zu begründen? Welche andere Zeitschriften gab es neben dieser tonangebenden Zeitschrift in Frankreich? Diesen Fragen und weiteren wird unter Zuhilfenahme Pierre Bourdieus Theorieansatzes nachgegangen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Vorgehensweise
1.2 Die Neuordnung im Feld der Zeitschriften nach 1945
2. Les Temps Modernes
2.1 Die Stellung der Les Temps Modernes
2.2 Die Rolle Jean Paul Sartres für den Erfolg der Zeitschrift
2.3 Die Rolle Sartres Mitarbeiter für den Erfolg der Les Temps Modernes
3. Weitere Zeitschriften im Feld
3.1 Auswahl der Zeitschriften
3.2 Beziehungen zwischen den Zeitschriften
3.3 Esprit
3.4 Critique
3.5 La Nouvelle Critique
3.6 Zusammenfassung
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In dieser Hausarbeit werde ich mich mit der von Jean-Paul Sartre herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes im Feld der intellektuellen Zeitschriften auseinander setzen. Diese im Oktober 1945 gegründete Zeitschrift dominierte wie keine andere die intellektuelle Szene der französischen Nachkriegszeit und nahm seit ihrem Erscheinen eine hegemoniale Stellung im Feld der intellektuellen Zeitschriften ein. Die Positionen sämtlicher anderer Zeitschriften wurde in Bezug auf Les Temps Modernes bestimmt. Alle Zeitschriften mußten sich an dem Sartreschen Blatt messen lassen.[1] Diese Tatsache ist ein maßgebliches Indiz für die hegemoniale Stellung der Les Temps Modernes im Feld der Zeitschriften. In dieser Arbeit werde ich hauptsächlich auf die auf der Bourdieuschen Feldanalyse beruhende Analyse von Anna Boschetti „Sartre et Les Temps Modernes – une entreprise intellectuelle“ sowie die Sartre-Biographie von Annie Cohen-Solal „Sartre 1905-1980“ zurückgreifen.[2] [3] [4]
1.1 Zur Vorgehensweise
Ich werde zunächst kurz auf die Entstehungsgeschichte der Zeitschrift eingehen und diese in den zeitgeschichtlichen Kontext bringen. Es wird deutlich werden, daß neben den zeitpolitischen Rahmenbedingungen noch andere Faktoren Jean-Paul Sartre zum Erfolg seiner Zeitschrift verhalfen. Aus diesem Grunde werde ich auch kurz auf die Biographie Sartres und die Sartresche Familie eingehen. Danach werde ich die hegemoniale Stellung der Les Temps Modernes gegenüber drei weiteren Zeitschriften nachzeichnen und herausstellen, was den Erfolg der Zeitschrift ausmachte und wie sich die tonangebende Position der Les Temps Modernes Ende der 1960er veränderte.
1.2 Die Neuordnung im Feld der Zeitschriften nach 1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 kam es zu einer grundlegenden Neuordnung in Frankreich. Das Land erlebte Phasen gesellschaftlicher Neuordnung und der Wiederherstellung des nationalen Gleichgewichtes.[5] Säuberungsaktionen unter Zeitungsmachern und Kulturschaffenden wurden durchgeführt, nachdem genau diese Frage schon auf den CNE-Sitzungen[6] heftigst diskutiert wurde.[7] Es gab große Umbrüche im Bereich der Künste, wo nicht weniger Köpfe als in der Politik rollten.[8] Die wiedergewonnene Pressefreiheit trug schon bald Früchte und „dem Mangel folgte sofort die Fülle“.[9] Sehr viele neue Zeitschriften wurden gegründet.
Sartre, der sich unter anderem mit seinen Stücken „Die Fliegen“ (Uraufführung 1943) und „Geschlossene Gesellschaft“ (Uraufführung 1944) im Zuge der Pariser Befreiungsbewegung den Durchbruch in Pariser Kultur- und Intellektuellenkreisen verschaffen konnte und als Sonderberichterstatter von Combat und Figaro in den USA erste journalistische Gehversuche unternommen hat, genoß inzwischen gesellschaftliche Anerkennung und wurde so zur Leitfigur für Tausende für Jugendliche.[10]
Während auf den CNE-Sitzungen noch Diskussionen über die Säuberung unter Kulturschaffenden tobten, sagte Ende 1944 der Verleger Gallimard die Finanzierung der von Sartre geplanten Zeitschrift Les Temps Modernes zu.[11] Der Gedanke, eine Zeitschrift zu gründen, war Sartre und der ihn umgebenden sogenannten Sartreschen Familie nicht völlig neu: „Die Idee der Temps Modernes hatte in den Diskussionen zwischen Sartre, Beauvoir, Merleau-Ponty, später auch Camus und Leiris in der Widerstandsgruppe Socialisme et Liberté und vor allem nach deren Zusammenbruch Gestalt angenommen.“[12]
Auch Vercors gründete eine neue Zeitschrift, die bei Les Édition de Minuit erscheinen sollte. Als Chefredakteur seiner neuen Zeitschrift wünschte er sich den auch für seine übermenschliche Arbeits- und Willenskraft bekannten Jean-Paul Sartre. Die Zeitschrift mit dem Namen Les Chroniques de Minuit sollte „auf der Grundlage einer gemeinsamen Plattform die Überbleibsel des Nationalsozialismus bekämpfen“.[13] Sartre lehnte ab, schließlich hatte er gerade seine eigene Zeitschrift gegründet. Das Gründungskomitee der Les Temps Modernes stellte eine Gruppe, die sich bereits gut kannte: Raymond Aron, Jean Paulhan, Albert Ollivier, Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre.
Annie Cohen-Solal zitiert Simone de Beauvoir zur Gründung der Zeitschrift und deren Hintergründe folgendermaßen: „Wir wollten der Nachkriegszeit eine Ideologie liefern. Wir hatten klare Vorstellungen... Camus, Merleau-Ponty, Sartre und ich wollten ein Gruppenmanifest verfassen. Sartre war entschlossen, eine Zeitschrift zu gründen, die wir alle zusammen leiten würden. Wir waren an das Ende der Nacht gelangt, der Tag dämmerte herauf. Seite an Seite wollten wir einen neuen Anlauf nehmen.“[14]
Die in Paris mit Spannung erwartete Zeitschrift, deren erste Ausgabe am 01. Oktober 1945 erschien, fand sofort eine breite Leserschaft. In einem Artikel des Figaro vom 03. November 1945 das Erscheinen der ersten Ausgabe von Les Temps Modernes als „wichtigstes Ereignis der Woche“ bezeichnet.[15] Sartre wußte, wirksam Spannung zu erzeugen: Schließlich war die Présentation der Zeitschrift, die seiner amerikanischen Geliebten Dolores Vanetti gewidmet war, bereits sechs Monate zuvor vorab in den Zeitschriften Horizon und Partisan Review in englischer Sprache erschienen.[16]
Mit der Zeitschrift, die im monatlichen Rhythmus erschien und ein „fast strenges Aussehen“[17] hatte, sollte nach Sartre die gesellschaftliche Situation der Menschen und deren Selbstbewußtsein verändern. Mit ihr wollte Sartre der Literatur ihre gesellschaftliche Funktion wieder zurück geben, die sie seiner Meinung nach nie hätte verlieren dürfen.[18]
Im Zuge der Neuordnung entstanden sehr schnell viele neue Zeitschriften, von denen einige so schnell verschwanden, wie sie kamen. Das Erscheinen der Les Temps Modernes hingegen war eine Besonderheit und quasi kennzeichnend für die Neuordnung des Feldes der intellektuellen Zeitschriften im Frankreich der Nachkriegszeit. Die Tragweite dieser Zeitschrift macht Boschetti deutlich: « Les cinq années qui suivantes (après 1945) voient une restructuration profonde qui à elle seule suffirait à indiquer la domination exercée par Les Temps Modernes, car leur apparition s’avère le principe de ce bouleversement, et leur modèle le paradigme régulateur de toutes les transformations. »[19]
Die Zeitschrift wurde als politische Manifestation wahrgenommen, als programmatische Äußerung einer Sartre-Partei, die geradezu als dritte Kraft neben Gaullisten und Kommunisten begrüßt und angegriffen wurde.[20] [21]
Damit stellte Les Temps Modernes mit einem Schlag alle Zeitschriften in den Schatten, die nun neu entstanden waren und löste somit La Nouvelle Revue Française als tonangebende Zeitschrift ab. Diese mußte eingestellt werden, nachdem sie aufgrund der politischen Position Pierre Drieu la Rochelles und des Vorwurfs der Kollaboration zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde.[22] Alle Versuche, sie durch Nachfolgezeitschriften am Leben zu erhalten, scheiterten kläglich, da diese lediglich als rückständige und unzulängliche Kopien der Zeitschrift erschienen.[23] Boschetti vergleicht den Versuch, die Nouvelle Revue Française durch Nachfolgezeitschriften am Leben zu erhalten mit der Gründung der philosophischen Zeitschrift Deucalion, die 1946 von Jean Wahl gegründet wurde. Diese Zeitschrift war der Versuch, am Erfolg der Philosophiezeitschrift Recherches philosophiques aus den 1930er Jahren anzuknüpfen. Auch diese Nachfolgezeitschrift scheiterte.[24]
Auch andere intellektuelle Zeitschriften, die die Libération in die französische Hauptstadt brachten, überlebten nicht lange: Fontaine und Confluences stellten 1947 den Betrieb wieder ein, L’Arche im Jahre 1948, La Nef 1951, Terre des Hommes verschwand im Jahre 1946. Der Konkurrenz der Les Temps Modernes konnten diese Zeitschriften nicht standhalten.[25] Der Zeitschrift Cahier du Sud, die eher von lokaler und weniger von nationaler Bedeutung war, konnten die Rückschläge am Pariser Markt nichts anhaben. Lediglich die Zeitschrift Esprit, das Sprachrohr des engagierten Katholizismus überlebte die turbulente Neuordnung am Pariser Zeitschriftenmarkt.
Schon seit ihrem Erscheinen nahm allerdings die von Sartre gegründete Zeitschrift eine hegemoniale Stellung im Feld der Zeitschriften ein. Wie nie zuvor gesehen vereinigte der Herausgeber und seine Redaktionsmitglieder ein enormes intellektuelles Kapital in sich. Sie versammelten alle Formen der Legitimation im Felde der damaligen Zeit und stellten so den Pol für freie Intellektuelle dar. Diese neue, engagierte und thematisch vielseitige Zeitschrift setzte fortan die Kriterien der Legitimation und schufen mit ihrem Konzept eine bewußte Verbindung zwischen Literatur und Philosophie, zwischen Freiheit und Engagement.[26]
Waren zunächst freie Intellektuelle nur bei Les Temps Modernes zu finden, zog später die von Georges Bataille im Jahre 1946 gegründete Zeitschrift Critique nach. Dort versammelten sich diejenigen, die auch vor Kriegsbeginn schon mit Bataille zusammengearbeitet hatte: Maurice Blanchot, Pierre Klossowski, Alexandre Koyré, Kojève, Ambrosino, Eric Weil, Jean Wahl und andere Vertreter der universitären Philosophie, Vuillemin, Emmanuel Lévinas und Jankélévitch. Später kamen Aron und Paulhan, Mitglieder des Gründungskomitees der Les Temps Modernes hinzu. Critique war im Grunde keine engagierte Zeitschrift im Sartreschen Sinne, kam aber dem Modell der Les Temps Modernes sehr nahe, weil auch sie nicht sektoriell arbeitete und damit dem traditionellen Modell einer intellektuellen Zeitschrift abschwor.[27]
Eine andere Zeitschrift, auf die ich später noch genauer eingehen möchte, ist die 1948 gegründete Zeitschrift La Nouvelle Critique. Diese Zeitschrift versuchte, einen kommunistischen Gegenspieler der existenzialistischen Zeitschrift Sartres darzustellen. Daß sie allerdings Les Temps Modernes nicht das Wasser reichen und kein ernstzunehmender Antagonist der Sartreschen Zeitschrift sein konnte, werde ich noch erläutern.
Die Zeitschriften La Pensée und Les Lettres Françaises, die entgegen des neuen, von Les Temps Modernes vorgegebenen Trends an einer strikten Trennung von Literatur und Philosophie festhielten, überlebten Boschetti zufolge lediglich aufgrund ihrer treuen Leserschaft.[28]
Doch nicht alle Zeitschriften hielten an ihren Konzepten fest. Als die Pole der katholischen Intelligentsia sind die Zeitschriften Esprit, eine Wochenzeitschrift, auf die ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch näher eingehen werde und Témoignage chrétien zu nennen. Diese Zeitschriften passten sich den neuen Vorgaben von Kulturkonzeption von Les Temps Modernes an. Sie schrieben engagierte und inhaltlich vielseitige Texte.[29]
Maurice Mauriac und Raymond Aron, beide vorher für den Figaro tätig, gehen zu anderen Zeitschriften: Mauriac geht zu La Table ronde, einer 1948 gegründeten Zeitschrift, bei der sich die traditionellen Konservativen wiederfinden und Raymond Aron geht zu Preuves, einer Zeitschrift, die im Jahre 1951 als Organ des Kongresses für die kulturelle Freiheit, welcher der französischen Sektion einer liberalen Bewegung angehörte, gegründet wurde.[30]
Die Dominanz der Sartreschen Zeitschrift Les Temps Modernes im Feld der Zeitschriften im in der französischen Nachkriegszeit wird besonders deutlich angesichts der Tatsache, daß ein erheblichen Rückgang der sozialwissenschaftlichen Debatte zu verzeichnen war. Bis zum Ende der 1950er Jahre gab es in Frankreich nur sehr wenige spezialisierte Zeitschriften. Erst später wurden soziologische Fachzeitschriften gegründet: Sociologie du travail (1959 gegründet), Archives européennes de sociologie (1960 gegründet) und Communications (gegründet im Jahre 1961).[31]
[...]
[1] Vgl. Boschetti, S. 185.
[2] Boschetti, Anna (1985): Sartre et Les Temps Modernes – une entreprise intellectuelle, Paris.
[3] Cohen-Solal, Annie (1988): Sartre 1905-1980, aus dem Französischen übersetzt von Eva Groepler, Reinbek bei Hamburg.
[4] Vor allem Boschetti arbeitet mir den von Bourdieu geprägten Begriffen wie Feld, Kapital, Legitimation etc.. Vgl. dazu Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst, Frankfurt am Main und Schwingel, Markus (1995): Pierre Bourdieu zur Einführung, Hamburg.
[5] Vgl. Cohen-Solal, S. 388.
[6] CNE: Comité national des écrivains. Aus der Résistence hervorgegangener Schriftstellerverband.
[7] Vgl. Cohen-Solal, S. 345ff.
[8] vgl. Cohen-Solal, S. 389.
[9] Cohen-Solal, S. 387.
[10] Vgl. Cohen-Solal, S. 349ff.
[11] vgl. Cohen-Solal, S. 345.
[12] Cohen-Solal, S. 404.
[13] Cohen-Solal, S. 347.
[14] De Beauvoir, Simone (1997): In den besten Jahren: Erinnerungen, Berlin, S. 481. Zitiert in Cohen-Solal, S. 347.
[15] Zit. nach Cohen-Solal, S. 401.
[16] Vgl. Cohen-Solal, S. 401.
[17] Cohen-Solal, S. 401.
[18] Vgl. Cohen-Solal, S. 403.
[19] Boschetti, S. 185.
[20] Macho, Thomas H. (1998): Sartre. Hrsg. von Peter Sloterdijk, Philosophie jetzt, München.
[21] Vgl. Macho, S. 37.
[22] Vgl. Cohen-Solal, S. 404.
[23] Vgl. Boschetti.
[24] Vgl. Boschetti, S. 187.
[25] Vgl. Boschetti, S. 187.
[26] Vgl. Boschetti, S. 187.
[27] Vgl. Boschetti, S. 188.
[28] Vgl. Boschetti, S. 188f.
[29] vgl. Boschetti, S. 189.
[30] Vgl. Boschetti, S. 189.
[31] Vgl. Boschetti, S. 189.
- Quote paper
- Anonymous,, 2003, Die von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift "Les Temps Modernes" im Feld der intellektuellen Zeitschriften in Frankreich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21592
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