Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung des Verhältnisses von technischer Entwicklung und gesellschaftlicher Wahrnehmung während der Epoche der industriellen Revolution. Dies geschieht anhand einiger ausgewählter literarischer Werke jener Zeit, da, zum einen die in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Gesellschaft relevantesten Aspekte thematisiert werden, zum anderen sich anhand des literaturgeschichtlichen Verlaufs Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung nachverfolgen lassen.
Die Behandlung der einzelnen Werke erfolgt antichronologisch, um auf diese Weise den Ursprung des durch die Industrialisierung ausgelösten psychischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses herauszuarbeiten. Diese Arbeit ist somit zwar im Kern eine literaturgeschichtliche Untersuchung, soll jedoch einen ausgeprägten literatursoziologischen Anteil enthalten. Daneben werden jedoch auch anthropologische, psychologische sowie religionswissenschaftliche Aspekte thematisiert, da diese für ein umfassendes Verständnis des hier behandelten Themenkomplexes unabdingbar sind. Die Bearbeitung der literarischen Werke erfolgt lose antichronologisch, beginnt also mit Spät- und Endphase der Industrialisierung. Diese Zeit wird anhand von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ behandelt werden.
Die Epoche der Hochindustrialisierung, also der Zeitraum zwischen den 1870er und 1890er Jahren, wird anhand dreier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Werke behandelt werden. Daher werden zunächst die Novellen „Bahnwärter Thiel“ von Gerhard Hauptmann und „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm untersucht werden, bevor mit Theodor Fontanes „Effi Briest“ ein weiter Roman Gegenstand dieser Arbeit ist.
Den Abschluss dieser Untersuchung bildet schließlich das Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Technik als anthropologische Konstante
2.1 Technik als gesellschaftsprägender Faktor
2.2 Zeitliche Verortung der Epoche
2.3 Räumliche Verortung der Epoche
2.4 Einige grundlegende Neuerungen der Epoche
2.5 Industrialisierung als „ultimative Kulturschwelle“
3. Erich Maria Remarque: „Im Westen nichts Neues“
3.1 Rezeption, Rezension und Wirkung
3.2 Die Auswirkungen des ersten Weltkriegs
3.3 Remarques Darstellung des Kriegsgeschehens
3.4 Frontalltag und Kasernenhofdrill
3.5 Beschreibung der Kriegsmaschinerie
3.6 Entwicklung der Kriegsindustrie
3.6.1 Kriegstechnik und Städtebau
3.7 Ich versteh` nur Bahnhof
3.8 Die Ambivalenz der Technik
4. Technik, Mystik, Infrastruktur und Beschleunigung
4.1 Technik und Zeitwahrnehmung
4.2 Gerhard Hauptmann: Bahnwärter Thiel
4.3 Mensch und Mechanik
4.4 Die Faszination des Automatismus
4.5 Technik, Mystik und Magie
4.5.1 Exkurs: Religion als vorwissenschaftliche Technik
4.5.1.1 Der mystische Aspekt
4.6 Thiels „mystische Neigung“
5. Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“
5.1 Zeitgenössische Rezensionen
5.2 Die Symbolik der Natur
5.3 Die Notwendigkeit der Bändigung
5.3.1 Die Funktion der Magie
5.4 Die Figur des Hauke Haien
5.5 Vorläufige Zusammenfassung der Ergebnisse
6. Industrialisierung und Gesellschaft
6.1 Elite, Masse und Macht
6.2 Masse und Technik
6.3 Die Kultur der Industriegesellschaft
7. Theodor Fontane: „Effi Briest“
7.1 Industrialisierung und Strukturvergrößerung
7.2 Industrialisierung und Macht
7.3 Gesellschaftszwang: Internalisierung und Reflexion
7.4 Alltagsmenschen und Führungspositionen
7.5 Individualität und Atomisierung
8. Die Psychologie der Industrialisierung
8.1 Wissenschaft und Spezialisierung
9. Georg Büchner: Woyzeck
9.1 Die Rolle der Gesellschaft
9.2 Der Hauptmann als Vertreter des Feudalismus
9.3 Der Doctor als Repräsentant des Bürgertums
9.4 Doctor und Hauptmann
9.5 Woyzeck als Vertreter der Massen
9.5.1 Die soziale Isolierung Woyzecks
9.5.2 Der Wahn Woyzecks
9.6 „Woyzeck“ als frühindustrielle Vorahnung
10. Resümee
1. Einleitung
Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung des Verhältnisses von technischer Entwicklung und gesellschaftlicher Wahrnehmung während der Epoche der industriellen Revolution. Dieses soll anhand einiger ausgewählter literarischer Werke jener Zeit geschehen, da, so die Grundannahme dieser Untersuchung, zum einen die in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Gesellschaft relevantesten Aspekte thematisiert werden, zum anderen sich anhand des literaturgeschichtlichen Verlaufs Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung nachverfolgen lassen.
Die Behandlung der einzelnen Werke erfolgt, sofern die thematische Hinführung dies zulässt, antichronologisch, um auf diese Weise den Ursprung des durch die Industrialisierung ausgelösten psychischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses herauszuarbeiten. Diese Arbeit ist somit zwar im Kern eine literaturgeschichtliche Untersuchung, soll jedoch einen ausgeprägten literatursoziologischen Anteil enthalten. Daneben werden jedoch auch anthropologische, psychologische sowie religionswissenschaftliche Aspekte thematisiert, da diese für ein umfassendes Verständnis des hier behandelten Themenkomplexes unabdingbar sind. Die Bearbeitung der literarischen Werke erfolgt, wie bereits erwähnt, lose antichronologisch, beginnt also mit Spät- und Endphase der Industrialisierung. Diese Zeit soll anhand von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ behandelt werden, da dieses Werk eine bis heute anhaltende Popularität und damit verbundene umfangreiche Wirkungsgeschichte aufweist.
Die Epoche der Hochindustrialisierung, also der Zeitraum zwischen den 1870er und 1890er Jahren, soll anhand dreier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Werke behandelt werden, welche jeweils, wie sich zeigen wird, unterschiedliche Aspekte desselben gesellschaftlichen Transformationsprozesses thematisieren. Daher sollen zunächst die Novellen „Bahnwärter Thiel“ von Gerhard Hauptmann und „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm untersucht werden, bevor mit Theodor Fontanes „Effi Briest“ ein weiter Roman Gegenstand dieser Arbeit sein wird.
Den Abschluss dieser Untersuchung bildet schließlich das Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner. Da die Entstehung dieses Stückes in die Zeit der
Frühindustrialisierung fällt, lassen sich hier die Ursprünge jener gesellschaftlichen Prozesse finden, welche in den später verfassten literarischen Werken zum einen wieder aufgegriffen werden, zum anderen, in Anbetracht der zeitlichen Differenz zwischen den Werken, bereits eine deutlich andere Akzentuierung aufweisen.
Am Beginn dieser Arbeit sollen jedoch zunächst einige anthropologische Überlegungen stehen, um das Wesen der Technik selbst sowie das Verhältnis des Menschen zu dieser genauer zu erörtern. Diese Überlegungen werden auch während der Untersuchung der literarischen Werke immer wieder eine Rolle spielen.
Zudem soll der zeitliche und räumliche Rahmen, in welchem sich diese Untersuchung bewegt, genauer definiert und erläutert werden.
2. Technik als anthropologische Konstante
Diese Untersuchung soll nachweisen, dass die technische Entwicklung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung des Menschen in Bezug auf die Gesellschaft, seiner Rolle darin sowie der Deutung der Welt selbst entscheidend transformiert hat. Hierfür ist es zunächst erforderlich zu ergründen, worin das Wesen der Technik an sich begründet liegt und in welchem Verhältnis der Mensch zu diesem steht. Zu diesem Zweck sind einige anthropologische Überlegungen notwendig.
Aufgrund seiner physiologischen wie ontogenetischen Beschaffenheit nimmt der Mensch eine gewisse Sonderrolle im Reich der Wirbeltiere ein.
Erst nach etwa einem Jahr erreicht ein menschlicher Säugling jenen Entwicklungsgrad, welchen andere Säugetiere bei der Geburt innehaben. Das menschliche Neugeborene ist also eine Art physiologische Frühgeburt. Dieses „extra-uterine Frühjahr“ ist von maßgeblicher Bedeutung für die menschliche Ontogenese. Entscheidende Ausbildungsphasen menschlichen Verhaltens entwickeln sich erst in direkter Wechselwirkung mit seiner Umwelt, was wiederum Ausdruck der menschlichen Weltoffenheit ist. Der Mensch ist ein „sekundärer Nesthocker“ und als solcher der einzige dieser Kategorie unter den Wirbeltieren. Als Solchem ist nicht nur das Pflegeverhalten der Mutter, sondern der gesamte kommunikative Kontakt zu anderen
Menschen in dieser Zeit und die unbestimmte offene Reizeinwirkung zentraler Bestandteil der menschlichen Ontogenese. Dem Menschen ist es daher vollkommen unmöglich, sich in völliger Isolierung zum Menschen zu entwickeln. Ein Mensch ist also nicht Mensch quo seiner Geburt, sondern qua seines Werdens.[1]
Aufgrund seiner Instinktungebundenheit, der Loslösung von einem reinen konditionierten Reiz-Reaktionsschema, ist der Mensch in der Lage, seine Ontogenese selbst aktiv mitzugestalten. Er ist in der Lage, in Distanz zu sich selbst und zu seinen Handlungen zu treten und eine reflektierende exzentrische Position einzunehmen.
Der Weltoffenheit und Selbstbestimmtheit des Menschen entsprechen die Freiheit, Entscheidungsfähigkeit und potentielle Selbstgestaltung der Identitätsbildung.[2]
Die Kultur ist somit die natürliche Lebensumwelt des Menschen. Keine menschliche Gemeinschaft lebt in der Natur von der Natur, jede hat Jagdtechniken, Waffen, Feuer und Geräte, welche die Umwelt den jeweils erwünschten Konditionen anzupassen in der Lage sind. Daher ist eine Differenzierung von Natur- und Kulturvölkern missverständlich. Ebenso ist die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation ein sprachliches Konstrukt des abendländischen Kulturraumes, kann also nicht universalistisch gebraucht werden.
Der Mensch ist also nicht nur das Produkt seiner Umwelt, sondern, im Unterschied zum Tier, in der Lage, aktiv auf sein Umfeld einzuwirken und dieses durch aktives Handeln zu verändern.
Technische Handlungen wiederum sind solche Handlungen, welche zum Ziel haben, die Umwelt zu verbessern, ihre Stabilität zu gewährleisten und die Anstrengung, die sich aus der Auseinandersetzung mit ihr ergeben, aufzuheben oder zu vermindern. Technik ist somit das Gegenteil der Anpassung des Menschen an die Natur. Vielmehr passt der Mensch mithilfe der Technik die Natur seinen Bedürfnissen an.[3]
Nach dieser Definition ist Technik und Technisierung ein Prozess, welcher nicht nur bis in die frühesten Anfänge der Menschheit zurückreicht, sondern vielmehr ein Elementarkriterium des Menschseins selbst darstellt.
2.1. Technik als gesellschaftsprägender Faktor
Die technische Entwicklung beginnt nach oben genannter Definition also nicht mit dem Industriezeitalter, auch Maschinen zur Übertragung von Kräften sind weitaus älter, eine grundlegende Transformierung der gesamten Kultur mittels der Technik ist jedoch ein Produkt der vergangenen zwei Jahrhunderte.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückten zwei weitere Aspekte in das Zentrum sozialer Wirklichkeit, welche zuvor in der Peripherie verortet waren. Zum einen die kapitalistische Produktionsweise, zum anderen die moderne Naturwissenschaft. Diese drei Aspekte, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, begannen ab diesem Zeitpunkt in erheblichem Ausmaß zu korrelieren und schufen in ihrem Zusammenspiel das, was heute als die „moderne Gesellschaft“ bezeichnet wird.[4] Auf die Verbindung von Naturwissenschaft und technischer Entwicklung soll an späterer Stelle näher eingegangen werden, ebenso auf die Rolle der Naturwissenschaft als Gegenspieler und Nachfolger des Feudalismus. Dass diese wechselseitige Bedingtheit auch und insbesondere in der Kriegstechnik zur Anwendung kam, soll in dem ersten zu untersuchenden literarischen Werk eine entscheidende Rolle spielen.
2.2 Zeitliche Verortung der Industrialisierung
Mit dem Begriff der „industriellen Revolution“ ist zumeist eine Vorstellung von einem Phänomen verbunden, welches gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien seinen Anfang nahm und in den 1870er Jahren den europäischen Kontinent erreichte. Im Rahmen dieser Arbeit soll der Begriff jedoch bewusst weiter gefasst sein, um eine möglichst große Anzahl sozialer, politischer und daraus resultierender literarischer Phänomene abdecken zu können.
Der heute führende Statistiker Angus Maddison sieht, vom ökonomischen Standpunkt ausgehend, den Beginn der industriellen Revolution in Großbritannien bereits in den 1820er Jahren, einer Phase der Wende von weltweiter Stagnation hin zu dynamischerer und ökonomisch intensiverer Entwicklung, was dazu führte, dass das aus industriellen Produktionsmitteln resultierende Wirtschaftswachstum schließlich die Grenzen der britischen Insel überwand und das europäische Festland erreichte. Der Höhepunkt dieser Entwicklung liegt in den 1880er und 1890er Jahren. In diesen Jahrzehnten trat die industrielle Revolution in eine neue Phase ein, weshalb in historischen Abhandlungen zuweilen ist diesem Zusammenhang auch von einer „zweiten industriellen Revolution jenseits der Dampfmaschine“ oder „Hochindustrialisierung“ die Rede ist. In diese Zeit fallen Erfindungen wie die Glühlampe (1876), das Automobil (1885), die Rundfunkübertragung (1895) sowie, im Jahr 1884, das Maschinengewehr.[5] Die grundlegende Transformation der Welt durch die industrielle Revolution zog nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische, psychologische und soziale Konsequenzen nach sich, welche sich wiederum literarisch darstellten.[6]
Zum ersten massenhaften militärischen Einsatz industriell erzeugter Güter kam es im Ersten Weltkrieg, welcher somit zwar den grausamen, wenn auch konsequenten, Höhepunkt der industriellen Revolution darstellt, politisch gleichsam jedoch auch das Ende dieser Epoche bedeutete. Insofern ist es notwendig, die aus der industriellen Produktionsweise resultierende Waffentechnik und die damit einher gehenden Veränderungen in der Kriegsführung sowie deren literarische Aufarbeitung näher zu untersuchen.
Hieraus ergibt sich der zeitliche Rahmen dieser Untersuchung. Mit „industrieller Revolution“ sei im weiteren Sinne der Zeitraum von 1820 bis 1920 zu verstehen.
2.3. Räumliche Verortung der Epoche
Weite Teile der Welt sahen nach 1900 vollkommen anders aus als noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die hierfür entscheidende Ursache war die industrielle Entwicklung. Die Industrialisierung gilt als Merkmal eines „europäischen Sonderweges“. Tatsächlich lässt sich die Industrialisierung vor Allem auf dem europäischen Kontinent verfolgen, jedoch wäre es falsch, sie deshalb als rein europäisches Phänomen zu betrachten. Erstens, da in den Jahren nach 1880 auch außereuropäische Länder wie die USA, Japan und Australien industrielle Strukturen etablierten, zweitens, da noch nach 1920 europäische Staaten wie Italien, Spanien oder Russland keine Industrie von gesellschaftlich prägendem Ausmaß schaffen konnten.[7] Diese Untersuchung wird sich, was die literarischen Werke anbelangt, auf den deutschen Sprachraum beschränken, jedoch bei der Analyse der zugrundeliegenden sozialen und ökonomischen Faktoren auch einige gesellschaftliche und politische Aspekte einbeziehen, welche ihren Ursprung außerhalb des deutschen Kulturraums haben.
2.4. Einige grundlegende Neuerungen der Epoche
Seit Beginn der europäischen Geschichte, also etwa dem 6. Jahrhundert, bis zum Jahr 1800 lag die Einwohnerzahl des Kontinents relativ konstant bei 180 Millionen. Zwischen 1800 und 1914, also etwas mehr als einem Jahrhundert, stieg die Zahl auf etwa 460 Millionen an.[8] Einer der Gründe für dieses rapide Wachstum war eine Verbesserung der allgemeinen Hygiene und Ernährung, was wiederum eine höhere Lebenserwartung bei gleichzeitiger Abnahme der Kindersterblichkeit zur Folge hatte. Dieses Anwachsen der Population wiederum machte eine gesellschaftliche Re- und Selbstorganisierung in erheblichem Maße notwendig.
Das Großbürgertum und die Naturwissenschaft wurden als Machtfaktor relevant, es drängte in Positionen, welche zuvor dem Adel vorbehalten waren. Dieser Umstand, in Verbindung mit anderen Faktoren wie der funktionalen Ausdifferenzierung, schuf einen neuen Menschentypus, den Massenmenschen, auf dessen besondere psychische Charakteristika an späterer Stelle näher eingegangen werden soll.
Eine weitere Folge des enormen Bevölkerungswachstums war die Notwendigkeit, neue Formen der Identitäts- und Gruppenbildung zu schaffen. So gewann als gesellschaftlicher Faktor der Nationalismus an Bedeutung, dessen Radikalisierung wiederum eine der Ursachen war, welche den ersten Weltkrieg herbeiführten.
2.5 Industrialisierung als „ultimative Kulturschwelle“
Die Industrialisierung bewirkte eine grundlegende psychische und kulturelle Transformation der Welt, welche in ihrem Tiefgang nur mit der Neolithischen Revolution, also dem Übergang von der Jäger- und Sammlerkultur zur Agrargesellschaft, vergleichbar ist.[9]
Arnold Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von einer „ultimativen Kulturschwelle“. Im Falle beider Revolutionen, der Neolithischen wie der Industriellen, war die geistige und moralische Umwälzung total. Allerdings dauerte die Umstellung des Menschen vom Jäger und Sammler zum Bauern viele Jahrhunderte, während die industrielle Revolution innerhalb weniger Jahrzehnte von Statten ging. Eine solche „ultimative Kulturschwelle“ bedeutet mehr als nur eine Transformation der Wirtschaft, vielmehr sind sämtliche Lebensbereiche betroffen.
Durch die neolithische Revolution erreichten Familien- und Gruppenzugehörigkeit einen neuen Grad der Ausdifferenzierung, Herrschaftsformen und -gebiete von bis dahin nicht geahnten Ausmaßen entwickelten sich, eine gesamte Mythologie entstand oder änderte sich grundlegend.
Die ökonomische Basis der Menschheit von der neolithischen bis zur industriellen Revolution war die Vieh- und Landwirtschaft. Diese Tatsache hatte auch moralische Konsequenzen. Die Abhängigkeit von natürlichen Wachstumsprozessen erfordert eine gewisse Wechselseitigkeit. Bei der Bewirtschaftung des Lebendigen, also Tieren und Pflanzen, fallen soziale, ethische und ökonomische Kategorien zusammen, Kapitalbildung ist sozusagen ein ontologischer Prozess. Bis heute hat daher das Eigentum in allen Agrargesellschaften einen besonderen moralischen, bisweilen heiligen Stellenwert.
Die Industrialisierung und die damit verbundene Arbeit mit anorganischen Stoffen und Maschinen, also das Freimachen von natürlichen Wachstumsprozessen und klimatischen Bedingungen, transformierte nicht nur das Verhältnis des Menschen zu Eigentum und Besitz, sondern vielmehr die gesamte Wahrnehmung seiner Umwelt.[10]
Gegenüber der anorganischen Natur, also Metall, Kohle oder Elektrizität, existiert keine Vorstellung einer ethischen Beschränkung. Grenzen der Ausbeutung und Nutzbarmachung sind, wenn überhaupt, lediglich technischer Natur, wobei diese aus der technischen Denkweise selbst heraus als lediglich vorläufig wahrgenommen werden.[11] Die unbegrenzte Verfügbarkeit des Anorganischen, verbunden mit mangelnder Moralität hinsichtlich dessen Ausbeutung, führte, in der Endphase der Industrialisierung, dazu, dass schließlich auch das Organische, in letzter Konsequenz schließlich der Mensch selbst, als massenhaft verfügbares Material betrachtet wurde.
3. Erich Maria Remarque: „Im Westen nichts Neues“
In Anbetracht seiner Wirkungsgeschichte, der relativen Nähe zu der Zeit des Ersten Weltkriegs, welche er thematisiert, sowie seiner bis in die Gegenwart anhaltenden Popularität soll Remarques Roman den literarischen Einstieg in diese Untersuchung bilden.
Der Roman erschien im Jahr 1928, seine Entstehung liegt somit streng genommen außerhalb der Zeit, welche gewöhnlich mit der industriellen Revolution assoziiert wird.
Obwohl etwa zeitgleich oder kurz vor der Veröffentlichung von „Im Westen nichts Neues“ literarisch gleichwertige oder sogar bessere Werke zu dieser Thematik entstanden, reichte keines davon auch nur annähernd an den Erfolg von Remarques Buch heran. Knapp drei Wochen nach der Veröffentlichung am 31.1.1929 waren bereits 100.000 Exemplare verkauft worden, am 7.5. waren es 500.000, am 1.7.1930 wurde die Millionengrenze überschritten. Zu diesem Zeitpunkt lag das Buch bereits in 23 Übersetzungen vor.
3.1 Rezeption, Rezension und Wirkung
Remarques Roman erschien ursprünglich vom 12. November bis zum 9. Dezember 1928 als Fortsetzungsgeschichte in der „Vossischen Zeitung“, das Buch folgte am 31. Januar 1929. Zehn Jahre nach Kriegsende traf es den Nerv des Publikums, indem es den Mythos der „verlorenen Generation“ mit einer gewissen deutschen Eigenart aufgriff. Dem enormen Erfolg, den das Werk beim Publikum hatte, folgte eine vehemente politische Debatte, an welcher alle politischen Lager gleichermaßen beteiligt waren. Der Vorwurf von beiden Seiten des politischen Spektrums glich sich: Remarque habe nicht eindeutig Position für oder wider das Kriegsgeschehen bezogen.
Die radikale Linke, darunter Carl von Ossietzky, Siegfried Kracauer und Anna Seghers kritisierten die von Remarque demonstrativ dargestellte Neutralität sowie die daraus resultierende ambivalente Wirkmächtigkeit. Gleichzeitig bemängelten sie in Remarques Roman das Fehlen einer Analyse der gesellschaftlichen Ursachen des Krieges.
Die extreme Rechte begriff das Buch hingegen als eine „Entheiligung des großen Ringens des deutschen Frontsoldaten“, als Darstellung des „heroischen Krieges aus der Latrinenperspektive“. Anders als die Linke fasste die extreme Rechte das Werk Remarques unmittelbar als Politikum auf, als eine „Speerspitze gegen die Dolchstoßlegende“.[12]
3.2 Die Auswirkungen des ersten Weltkriegs
Der Erste Weltkrieg stellt, wie bereits erwähnt, in gewisser Hinsicht sowohl Höhepunkt als auch Ende der industriellen Revolution dar. Einige seiner Auswirkungen, etwa im allgemeinen Sprachgebrauch, sind bis in unsere Gegenwart spürbar.
Hatte das Zeitalter der Millionenheere bereits während der Französischen Revolution mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht begonnen, erreichte es während des Ersten Weltkrieges eine neue Dimension. Im Deutschen Reich standen während des Krieges durchschnittlich knapp sieben Millionen Männer unter Waffen. Diese mussten ausgerüstet werden. Die Kriegswirtschaft erreichte daher aufgrund der gewaltigen Material- und Blutschlachten im ersten Weltkrieg zuvor ungekannte Ausmaße. An einigen Tagen des Krieges wurde mehr Munition verschossen als während des gesamten Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Die völlige Industrialisierung der Kriegsführung zeigte sich auch in der tausendfachen Produktion von Geschützen, Maschinengewehren, Panzern und Kampfflugzeugen.
Einige Redewendungen dieser Zeit, welche unmittelbar mit der industriellen Kriegsproduktion und Logistik zusammenhingen, sind bis in unsere Gegenwart hinein gebräuchlich. So ist etwa neben der Aussage „Ich versteh` nur Bahnhof“, auf dessen Ursprung an späterer Stelle näher eingegangen werden soll, die Bezeichnung „08/15“ bis heute Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Dieser Begriff, mit dem in der Gegenwart für gewöhnlich etwas massenhaft Vorhandenes und damit Durchschnittliches bezeichnet wird, geht zurück auf die Typenbezeichnung des ersten Maschinengewehrs, welches standardisiert von allen Heeresgruppen verwendet wurde.
Sowohl der Begriff „Tarnung“ als auch das Verb „tarnen“ setzten sich im Umfeld des Ersten Weltkriegs im deutschen Wortschatz durch. Um nicht mehr das aus dem Französischen stammende Wort „camouflieren“ verwenden zu müssen, benötigte man ein deutsches Wort für „verstecken“ oder „verbergen“, das aber dennoch nicht die Konnotation von Feigheit haben sollte. In dieser Situation lebte das lange vergessene, seit dem 19. Jahrhundert, etwa in „Tarnkappe“ durch deutsche Literaten aufgegriffene mittelhochdeutsche Wort „tarnen“ wieder auf.
Der erste Weltkrieg veränderte den europäischen Kontinent für immer, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und mental. Er bedeutete das Ende einer jahrhundertealten Ordnung, der Hegemonie Europas in der Welt und der Vormachtstellung Deutschlands in Europa. An die Stelle einer positiven Zukunftserwartung weiteren Fortschritts und steigenden Wohlstands trat Armut, Chaos und Verwirrung. Dabei waren die Auswirkungen, welche ein Krieg hochindustrialisierter Staaten nach sich ziehen würde, einigen Zeitgenossen durchaus bewusst. So schrieb Friedrich Engels bereits im Jahr 1887:
„[…] kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer nie gekannten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen. (…) Die Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre, (…) und der Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen (…).“[13]
Dass technische Entwicklung, insbesondere jene der industriellen Revolution, durchaus Katalysator für einen politischen und gesellschaftlichen Systemwechsel sein kann und dieses auch war, soll an späterer Stelle genauer erörtert werden.
3.3 Remarques Darstellung des Kriegsgeschehens
Der Krieg wird in Remarques Roman als gegebene Tatsache dargestellt und von den Figuren als solche hingenommen und erduldet. Eine Analyse der politischen und sozialen Faktoren, welche zu diesem Zustand hinführten, fehlt fast völlig, die näheren Umstände werden von Seiten des Erzählers nicht reflektiert. Ebenso fehlt fast vollständig die Darstellung einer militärischen Kommandostruktur. Die Einsätze der Gruppe um die Hauptfigur Paul Bäumer scheinen ohne Befehlshaber stattzufinden, ihre Ziele werden, wenn überhaupt, nur indirekt wiedergegeben:
„Es soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, ob die feindliche Stellung überhaupt noch besetzt ist (S.117).“
Der Krieg erscheint als eine Naturgewalt, gewaltig, unentrinnbar und nicht analysierbar. Kampfhandlungen werden als eine Folge des Erleidens von Angriffen wahrgenommen, die Bedrohung bleibt anonym. Die kriegerische Aktivität kommt stets von außen, von einem, von der „Duval-Episode“ abgesehen, nicht näher individualisierten Kriegsgegner. Die Handlungen der Figuren beschränken sich auf reine Reaktion und Apathie:[14]
„Der Krieg ist eine Todesursache wie Krebs oder Tuberkulose, wie Grippe oder Ruhr. Die Todesfälle sind nur häufiger, verschiedenartiger und grausamer (S.149)“
3.4 Frontalltag und Kasernenhofdrill
Die Darstellung des Krieges in „Im Westen nichts Neues“ ist also eher mit der eines Naturphänomens denn der eines politischen Ereignisses vergleichbar. Das Individuum ist der Übermacht der Kriegsmaschinerie gnadenlos ausgeliefert, als Feind erscheint weniger die gegnerische Kriegspartei als der Krieg selbst.
Der Roman nennt einige Faktoren, welche den Soldaten das Überleben angesichts dieser Übermacht des Todes zu sichern imstande sind. Auch wenn in Remarques Werk der Drill des Kasernenhofs und Frontalltag einander scharf kontrastierend gegenübergestellt werden, schafft doch die militärische Ausbildung gewisse charakterliche Grundvoraussetzungen für den späteren Kriegseinsatz. Ziel des Drills ist ein Aufgeben der Persönlichkeit:
„Wir wurden zehn Wochen militärisch ausgebildet und in dieser Zeit entscheidender umgestaltet als in zehn Jahren Schulzeit (S.19).“
Auch wenn den Figuren die Einsicht in die Notwendigkeit der Übungen fehlt, Bäumer empfindet den Drill als „Dressur“, erlaubt die beschriebene charakterliche Transformierung den Figuren ein Überleben an der Front:
„Wir wurden hart, misstrauisch, mitleidlos, rachsüchtig, roh – und das war gut; denn diese Eigenschaften fehlten uns gerade.“
Auch wenn das Überleben letztendlich vom Zufall abhängt, schaffen die Brechung und Umstrukturierung der Persönlichkeit während der militärischen Ausbildung eine charakterliche Grunddisposition, welche die Überlebenschance der Soldaten zumindest erhöht:
„Wenn wir statt in dem festen Unterstand in einem der leichten Dinger säßen, wie sie neuerdings gebaut werden, lebte jetzt keiner mehr. Wir wären verschüttet oder tot.“ (S.66).
Dies zeigt sich in jenen Szenen, welche kontrastierend das Verhalten der Soldaten zeigen, welche diese Ausbildung nicht oder nur unvollständig durchlaufen haben. Sie verlieren die Kontrolle oder werden wahnsinnig:
„Einer reißt aus und läuft weg. Wir haben Mühe mit den beiden anderen. Ich stürze hinter dem Flüchtenden her und überlege, ob ich ihm in die Beine schießen soll – da pfeift es heran, ich werfe mich hin, und als ich aufstehe, ist die Grabenwand mit heißen Splittern, Fleischfetzen und Uniformlappen gepflastert. Ich klettere zurück.“ (S.66).
Unmittelbar im Anschluss an diese Schilderung spielen die Soldaten Skat. An dieser Stelle zeigt sich in besonderer Deutlichkeit, welchen Grad der mentalen Abstumpfung die Ausbildung sowie der langjährige Fronteinsatz bei den Soldaten hervorgerufen hat.
Die Ausbildung der Soldaten wurde vor und während des ersten Weltkriegs revidiert, um den Anforderungen des industrialisierten Stellungskrieges und der damit verbundenen Materialschlachten Rechnung zu tragen. Vor dem Ersten Weltkrieg, etwa während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, war die allgemeine Vorstellung von Krieg noch von offenen Feldschlachten und geordneten Schlachtformationen geprägt, in welchen der Soldat dem Feind heldenhaft und ritterlich gegenübertreten sollte. Dieses Ideal war in Zeiten des Stellungskrieges nicht länger praktikabel. So verschob sich während und nach dem Krieg das Ausbildungsziel des Soldaten von Tapferkeit und Heldenmut hin zur vollständigen Abhärtung, Emotionslosigkeit und grenzenlosen Belastbarkeit.
Die ursprüngliche Intention der Technik, die Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Menschen, ist hier ins Gegenteil verkehrt. Der Mensch passt sich der sich ihm entzogenen Technik an, welche er wiederum als Umwelt, gewissermaßen als Natur wahrnimmt.
Mentale Passivität und Primitivität sind reine Überlebensstrategien, ein höheres Maß an Reflexion über das eigene Schicksal würde unweigerlich zum Untergang führen:
„Das Grauen lässt sich ertragen, solange man sich einfach duckt – aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt“ (S.81).
Mehrfach vergleicht Remarque das Verhalten der Soldaten mit wilden Tieren oder „Menschentieren“, wobei die damit verbundene Aggression nicht zum Angriff, sondern zur Verteidigung des eigenen Lebens verwand wird:
„Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen Menschen, was wissen wir im Augenblick davon, dort hetzt mit Händen und Helmen der Tod hinter uns her, wir können ihm seit drei Tagen zum ersten Mal ins Gesicht sehen, wir können uns seit drei Tagen zum ersten Mal wehren gegen ihn, wir haben eine wahnsinnige Wut, wir legen nicht mehr ohnmächtig wartend auf dem Schafott, wir können zerstören und töten, um uns zu retten und zu rächen“ (S.67).
Erzwungene Passivität, nervliche Anspannung und Apathie entlädt sich an dieser Stelle in einem Blutrausch, welcher jedoch nicht auf einen konkreten Feind gerichtet ist, sondern einzig der Erhaltung des eigenen Lebens dient.[15]
Diese in der oben zitierten Passage beschriebene Wut resultiert nun wiederum aus einer gewissen Anonymisierung des Kriegsgeschehens, welche wiederum ein direktes Resultat der technischen Entwicklung, insbesondere der Kriegsmaschinerie, ist.
„Die Geschütze, die uns das Trommelfeuer herüberschicken, sehen wir nicht, die angreifenden Linien sind Menschen wie wir – aber diese Tanks sind Maschinen, ihre Kettenräder laufen endlos, wie der Krieg, sie sind die Vernichtung, […], eine Flotte brüllender, rauchspeiender Panzer, unverwundbare, Tote und Verwundete zerquetschende Stahltiere“ (S.154).
3.5 Beschreibung der Kriegsmaschinerie
Der Krieg ist, wenngleich künstlich erzeugt, gewissermaßen die natürliche Umwelt der Soldaten. Eine bedrohliche Natur, dem die Figuren hilflos ausgeliefert sehen, die sich der Analyse ihrerseits entzieht und die es zu ertragen und zu überleben gilt:
„Die Luft wird diesig von Geschützhauch und Nebel. Man schmeckt den Pulverqualm bitter auf der Zunge. Die Abschüsse krachen, daß unser Wagen bebt, das Echo rollt tosend hinterher, alles schwankt. […] Aber der dumpfe Hall der Einschläge dringt nicht herüber. Er ertrinkt im Gemurmel der Front. Kat horcht hinaus: „Diese Nacht gibt es Kattun.“ Wir horchen alle. Die Front ist unruhig.“ (S.35)
Die Front gleicht dieser Beschreibung nach einem lebendigen Wesen, die Ereignisse werden mit fatalistischer Gleichgültigkeit und Apathie hingenommen. Dabei greift Remarque bei der Schilderung der Fronterlebnisse wiederholt auf Analogien und Metaphern zurück, welche der Naturbeschreibung entlehnt sind.
„Jeder fühlt es mit, wie die schweren Geschosse die Grabenbrüstung wegreißen, wie sie die Böschung durchwühlen und die obersten Betonklötze zerfetzen. Wir merken den dumpferen, rasenderen Schlag, der dem Prankenhieb eines fauchenden Raubtieres gleicht, wenn der Schuß im Graben sitzt“ (S.63).
„Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muß auf das, was geschehen wird. Wir liegen unter dem Gitter der Granatbogen und leben in der Spannung des Ungewissen. Über uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoss kommt, kann ich mich ducken, das ist alles. Wohin es schlägt, kann ich weder genau wissen noch beeinflussen. Dieser Zufall ist es, der uns gleichgültig macht“ (S.60).
Diese Form der Verarbeitung des traumatisierenden Schreckens und der Anonymisierung des Tötens, welche wiederum Resultat der verbesserten Kriegstechnik, vor Allem der höheren Reichweite der Artillerie, ist, begünstigt und verstärkt die mentale Abstumpfung zusätzlich. Für den einfachen Frontsoldaten bleibt der Kriegsgegner die meiste Zeit über unsichtbar, die vergrößerte Reichweite der Geschosse führt dazu, dass diese im Bewusstsein der Soldaten als Naturphänomen erscheinen. Von einem Geschoss getötet zu werden erscheint als ebenso zufällig wie etwa durch einen Blitz erschlagen zu werden:
„Dazwischen orgeln aber auch die großen Kohlekästen, die ganz schweren Brocken durch die Nacht und landen weit hinter uns. Sie haben einen röhrenden, heiseren, entfernten Ruf wie Hirsche in der Brunst, und ziehen hoch über dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn“ (S.38).
[...]
[1] Peter L. Berger/ Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S.49f
[2] Arnold Gehlen: Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt, S.45f
[3] Josè Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Technik, S.14
[4] Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S.12
[5] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts, S.108ff
[6] Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S.13
[7] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19.Jahrhunderts, S.108ff
[8] Josè Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S.48
[9] Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S.24
[10] Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S.80
[11] ebd., S.83
[12] Günther Oesterle: Das Kriegserlebnis im für und wider: „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, S. 213ff
[13] Hubert Rüter: Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext, S.18
[14] Hubert Rüter: Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext, S.85ff
[15] Hubert Rüter: Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext , S.130ff
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- Florian Marthaler (Author), 2012, Ich versteh` nur Bahnhof, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214551
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