Ernst Cassirer (1874 - 1945), plakativ immer wieder als Neukantianer bezeichnet und in seinem Schaffen nicht selten auf seine Bände „Philosophie der symbolischen Formen“ reduziert, hat sich immer wieder mit Fragen der modernen Naturwissenschaften, insbesondere im Hinblick auf Mathematik und Physik befasst.
In seinem Werk „Zur modernen Physik“ von 1953 untersucht Cassirer im Kapitel V die Kompatibilität des Raum- und Zeitbegriffs des Kritischen Idealismus Kantischer Prägung und der Relativitätstheorie Einsteins.
Cassirer ist es nach Ansicht des Verfassers gelungen, im untersuchten Kapitel die grundsätzliche Kompatibilität und darüber hinaus auch den Zusammenhang des Raum- und Zeitbegriffs des kritischen Idealismus und der Relativitätstheorie seitens Kants und Einsteins aufzuzeigen. Immer wieder auf die Problematik des „Reinen Raums“, der „Reinen Zeit“ und der „Reinen Anschauung“ in der Begrifflichkeit Kants rekurrierend, erläutert Cassirer anhand etlicher Beispiele und Probleme aus der modernen Physik grundlegende Fragestellungen der Relativitätstheorie und stellt den Bezug zum Kritischen Idealismus her. Verdienst, aber auch Problematik der RT werden aufgezeigt.
Darüber hinaus thematisiert Cassirer auch potentielle Widersprüche zwischen Kant und Einstein, wobei es ihm in der Regel gelingt, deutlich zu machen, dass diese zumeist auf Missverständnissen oder oberflächlichen Betrachtungsweisen beruhen. Cassirer zeigt aber auch präzise die Stellen auf, wo genau Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Einstein bestehen, die auf den ersten Blick, nicht zuletzt durch unterschiedliches Vokabular, nicht ohne Weiteres erkennbar bzw. zu verorten sind. Als Beispiel sei hier etwa auf Cassirers Erörterung der Zusammenhänge zwischen „Reiner Anschauung“ und „Koinzidenz“ in Abschnitt 5 hingewiesen.
Insgesamt erschliesst sich, die Argumentation Cassirers dem Nicht-Mathematiker oder -Physiker nicht ohne Weiteres, die Erfassung der Aussagen des Textes bedarf gewisser Mühen, die aber nach Ansicht des Verfassers in jeder Hinsicht belohnt werden, nicht zuletzt deshalb, weil altvertrautes Kantsches Gedankengut durch Cassirer von einer eher unvertrauten Warte aus in die Vorhabe gestellt wird und so wieder erfrischend neu reflektiert werden kann.
INHALT
1. Zur Einleitung
2. Cassirers Voraussetzungen
3. Kants Entwicklung hinsichtlich der Raum-/Zeit- Problematik
4. Widerspruch zwischen Kant und Einstein ?
5. One Step Beyond
6. Die Koinzidenz
7. Verdienst der Relativitätstheorie
8. Hauptproblem der Relativitätstheorie
9. Relativitätstheorie, Empirismus und Positivismus
10. Zum Schluss
1. Zur Einleitung
Ernst Cassirer (1874 - 1945) , plakativ immer wieder als Neukantianer bezeichnet[1] und in seinem Schaffen nicht selten auf seine Bände „Philosophie der symbolischen Formen“[2] reduziert, hat sich immer wieder mit Fragen der modernen Naturwissenschaften , insbesondere im Hinblick auf Mathematik und Physik befasst.
In seinem Werk „Zur modernen Physik“ von 1953[3] untersucht Cassirer im Kapitel V[4] die Kompatibilität des Raum- und Zeitbegriffs des Kritischen Idealismus Kantischer Prägung und der Relativitätstheorie Einsteins.
2. Cassirers Voraussetzungen
Zu Beginn seiner Untersuchung betont Cassirer im Rückblick auf die vorangegangenen Kapitel noch einmal, dass Einsteins Relativitätstheorie[5] in erster Linie unter physikalischem Aspekt zu verstehen ist und warnt gleichzeitig vor einer vorschnellen Umdeutung in philosophische oder gar metaphysische Kategorien.[6] Die RT bedient sich ausschließlich mathematisch/ naturwissenschaftlicher Denkmittel, sucht aber über die reine Darstellung von Messergebnissen hinaus nach Klarheit über Formen und Bedingungen ihrer Messungen.[7]
Dies suggeriert, so Cassirer, zwar zunächst eine Ähnlichkeit mit der von der Transzendentaltheorie untersuchten Möglichkeit der Erfahrung, unterscheidet sich aber grundlegend davon, insofern es in der RT um empirischen Raum und empirische Zeit geht und nicht um reinen Raum und reine Zeit.
Einen empiristischen Zweifel an der Möglichkeit von reinem Raum und reiner Zeit lehnt Cassirer ab. Ihm geht es darum, und dazu leistet die RT der Philosophie einen wichtigen Dienst, jederzeit sauber zu unterscheiden, ob man, wenn von Raum und Zeit die Rede ist, von rein philosophischen Kategorien spricht oder von deren naturwissenschaftlichen Anwendungen[8] und empirischen Ausprägungen.
Kant selbst hat hinsichtlich der Raum- / Zeitproblematik durchaus einen Entwicklungsprozess durchlaufen.
3. Kants Entwicklung hinsichtlich der Raum-/Zeit- Problematik
Gegenüber der damals herrschenden Schulmeinung bezüglich des absoluten Raumes und der absoluten Zeit stand Kant zunächst durchaus auf relativistischer Position: 1758 greift Kant den Grundsatz der Relativität aller Bewegung auf und konstatiert, dass über Ruhe und Bewegung eines Körpers nur dann etwas gesagt werden kann, wenn man hinzufügt, im Verhältnis zu welchem anderen Körper er ruht oder sich bewegt.[9]
Allerdings ändert Kant diese Position zunächst wieder, indem er 1763 mit Euler für die Gültigkeit des Newtonschen Begriffes von absolutem Raum und Zeit eintritt.
Bereits 1770 vollzieht Kant aber dann im Zusammenhang seiner Dissertation eine entscheidende Wende, indem er dem Problem anstelle der physikalischen eine transzendentalphilosophische Basis gibt:
Kants Transzendentalphilosophie fragt nun nicht mehr in erster Linie nach der Realität von Raum und Zeit, sondern nach deren Bedeutung für den Aufbau unserer empirischen Erkenntnis. Raum und Zeit sind nicht mehr als Dinge, sondern als Erkenntnisquellen in den Blick genommen, als Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erfahrungen, Beobachtungen und Messungen. Diese Bedingungen können selbst nicht wieder in dinglicher Art und Weise angeschaut werden, da sie uns eben nicht als Gegenstände gegeben sind. Insofern können sie sich lediglich in Urteilen darstellen, die wir als notwendig und allgemein anerkennen müssen.
Das Sein von Raum und Zeit geht in ihrer Funktion auf.[10]
Zwar haben Raum und Zeit, insofern sie als Verknüpfungsschema empirisch Wahrgenommenes in Beziehungen von Neben- und Nacheinander setzen, gewissermassen empirische Realität, die aber nur in ihrer Gültigkeit für alle Erfahrungen besteht. Raum z.B. ist insofern lediglich die Möglichkeit äusserer Erscheinungen.
Auch die von Seiten der Psychologie immer wieder vorgebrachte Theorie, dass Raum und Zeit in der Psyche bereits vor jeglicher Erfahrung real existieren, ist daher aus transzendentalphilosophischer Sicht unhaltbar und obsolet. Der Sinn zeitlicher und räumlicher Ordnung ist nur im Geordneten fassbar.
[...]
[1] z.B. in ZEIT ONLINE, www.zeit.de/1991/42/was-ist-der-mensch/seite-2.de (14.3.2013)
[2] 3 Bände, Berlin 1923 - 1929
[3] Darmstadt 1953. Die vorliegende Abhandlung zitiert nach dem Reprint von 1994 (Darmstadt)
[4] S. 67 - 89
[5] ab hier mit in der Regel „RT“ abgekürzt
[6] S. 67
[7] S. 68
[8] ebd.
[9] S. 69
[10] S.70f
- Quote paper
- Michael Veit (Author), 2013, Der Raum- und Zeitbegriff des Kritischen Idealismus und die Relativitätstheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214249
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