Eine Satire, wie die von Karl Kraus, ist eine ganz bestimmte Textsorte. Beinahe jedes Wort beinhaltet Aussagen, die zugleich jeweils mehreres aussagen. „Das Lineare, das sich auf die Aussage konzentriert und jeden Nebensinn geschweige denn Hintersinn konsequent leugnet, ist, wie der schlechte Schachspieler, unfähig, Folgen vorauszusehen, die es nicht vorausgesehen hat.“
Das heißt, Kraus durchbricht auf sprachlicher Ebene diese lineare Struktur und schafft damit eine ganz eigene Struktur. Diese impliziert bei der Rezeption, potenziell gelegte Verweise auch als solche zu erkennen und lässt offen, womit sie assoziiert werden, woran sie anknüpfen, worauf sie sich beziehen und wozu sie überleiten. Das beinhaltet gleichermaßen die Schwierigkeit, das satirische Moment und die stoffliche Seite verhältnismäßig adäquat zueinander in Bezug zu setzen. Diese Gegebenheit zieht nach sich, dass einerseits wiedergegebene Textstellen den Modus des Indikativs beibehalten müssen, da jede Aussage seitens Kraus gleichzeitig mehrere Sinnhaftigkeiten beinhaltet, die ihrerseits in der Rezeption wiederum frei verknüpft werden können. Andererseits besteht die Gefahr, diese mehrfach sinnfälligen Aussagen in einer Weise zu erläutern, dass entweder lediglich eine bloße Eigeninterpretation wiedergegeben oder das Bild der satirischen Sprache und dessen Wirkungsabsicht in ihrer Ausführung zerstört wird.
Das Ziel und die Schwierigkeit dieser Arbeit soll nun sein, genau diese Gegebenheiten zu berücksichtigen und Kraus’ sprachlichen Stil so zu erörtern, dass Die demolirte Literatur auch als das dargelegt bleibt, was sie ist – eine Satire.
Dieser Begriff wirft nun eine weitere Fragestellung auf: Ist Kraus’ Sprache die einer Satire oder beinhaltet sie weitere Elemente, die eine eindeutige Zuschreibung nicht zulassen? An dieser Stelle erzielt diese Arbeit nicht, festzuschreiben, ob seine Skizze eine rein satirische ist oder als satirisch-polemisch zu gelten hat. Vielmehr wird an ausgesuchten Textstellen das Arsenal der satirischen Mittel – worin sich auch die polemische Wirkungsabsicht wiederfindet – berücksichtigt und aufgezeigt. Die Anwendung dieser mannigfaltigen Stilmittel lässt in dieser Skizze – allein anhand des Titels – nur eine Festschreibung zu: die repräsentative Darstellung einer Endsituation.
1. Einleitung
Eine Satire, wie die von Karl Kraus, ist eine ganz bestimmte Textsorte. Beinahe jedes Wort beinhaltet Aussagen, die zugleich jeweils mehreres aussagen. „Das Lineare, das sich auf die Aussage konzentriert und jeden Nebensinn geschweige denn Hintersinn konsequent leugnet, ist, wie der schlechte Schachspieler, unfähig, Folgen vorauszusehen, die es nicht vorausgesehen hat.“[1]
Das heißt, Kraus durchbricht auf sprachlicher Ebene diese lineare Struktur und schafft damit eine ganz eigene Struktur. Diese impliziert bei der Rezeption, potenziell gelegte Verweise auch als solche zu erkennen und lässt offen, womit sie assoziiert werden, woran sie anknüpfen, worauf sie sich beziehen und wozu sie überleiten. Das beinhaltet gleichermaßen die Schwierigkeit, das satirische Moment und die stoffliche Seite verhältnismäßig adäquat zueinander in Bezug zu setzen.[2] Diese Gegebenheit zieht nach sich, dass einerseits wiedergegebene Textstellen den Modus des Indikativs beibehalten müssen, da jede Aussage seitens Kraus gleichzeitig mehrere Sinnhaftigkeiten beinhaltet, die ihrerseits in der Rezeption wiederum frei verknüpft werden können. Andererseits besteht die Gefahr, diese mehrfach sinnfälligen Aussagen in einer Weise zu erläutern, dass entweder lediglich eine bloße Eigeninterpretation wiedergegeben oder das Bild der satirischen Sprache und dessen Wirkungsabsicht in ihrer Ausführung zerstört wird.[3]
Das Ziel und die Schwierigkeit dieser Arbeit soll nun sein, genau diese Gegebenheiten zu berücksichtigen und Kraus’ sprachlichen Stil so zu erörtern, dass Die demolirte Literatur auch als das dargelegt bleibt, was sie ist – eine Satire.
Dieser Begriff wirft nun eine weitere Fragestellung auf: Ist Kraus’ Sprache die einer Satire oder beinhaltet sie weitere Elemente, die eine eindeutige Zuschreibung nicht zulassen? An dieser Stelle erzielt diese Arbeit nicht, festzuschreiben, ob seine Skizze eine rein satirische ist oder als satirisch-polemisch zu gelten hat. Vielmehr wird an ausgesuchten Textstellen das Arsenal der satirischen Mittel – worin sich auch die polemische Wirkungsabsicht wiederfindet – berücksichtigt und aufgezeigt. Die Anwendung dieser mannigfaltigen Stilmittel lässt in dieser Skizze – allein anhand des Titels – nur eine Festschreibung zu: die repräsentative Darstellung einer Endsituation[4].
2. Karl Kraus: Autor und Satiriker
Karl Kraus bildet in seiner Prosa-Skizze Die demolirte Literatur zweierlei Dinge ab: die Gesellschaft, in der er lebt und den einzelnen Menschen Karl Kraus, der spricht und schreibt.[5]
Bereits der Titel seiner Skizze lässt erkennen, dass Kraus sich eines spezifischen sprachlichen Mittels bedient, um sich selbst zu positionieren und aus dieser Position heraus zu schreiben. Er verzichtet auf eine Erzähler-Instanz, die ihn als Autor und Menschen außen vor lässt. Mithilfe des ausgewählten sprachlichen Mittels gelingt es ihm dennoch, eine differenzierte Position einzunehmen. Indem er seinen persönlichen Standpunkt auf eine andere Ebene überträgt und er die Rolle des Satirikers einnimmt, grenzt er sich von jeglichen gesellschaftlichen Konventionen ab und wird so zugleich zum Widerpart seiner zeitgenössischen Gesellschaft[6]. Der Satiriker Karl Kraus steht sozusagen außerhalb und urteilt als eine alles überblickende Instanz, die in dieser Rolle unantastbar ist. Im Unterschied zu einer Erzählerfigur impliziert die Rolle des Satirikers aber stets die Intentionen und den Standpunkt der Person dahinter. Daher ist - wie eingangs erwähnt - der Mensch Karl Kraus, der spricht und schreibt, als die Person Karl Kraus zu sehen, der die satirische Sprache als sein Sprachrohr auswählt.
3. Die Funktion der satirischen Sprache
Setzt man nun beim Titel seiner Skizze an, beinhaltet dieser schon, worauf Kraus inhaltlich abzielt. Zugleich wird mit der Formulierung des Titels das stilistische Verfahren augenscheinlich. Mit der Wahl des Wortes demoliert bedient sich Kraus der rhetorischen Figur der Hyperbel und übertreibt ganz bewusst. Er beabsichtigt nicht, objektiv zu analysieren oder subjektiv zu werten. Mit der Wahl der satirischen Sprache fasst Kraus nur eines ins Auge – mit seiner Kritik zu richten und zu treffen.[7] Die Literatur ist seinem Titel nach weder eine Literatur, die gemessen an früher schlechter ist, noch eine Literatur, die in irgendeiner Weise verbessert werden kann. Seine Aussage ist definitiv, die aber trotzdem impliziert, dass diesem Zustand ein anderer vorangegangen sein muss. Die Literatur ist gegenwärtig 'zerstört', was zugleich eine Zeit voraussetzt, in der sie vollkommenen gewesen sein muss. Für Joachim Stephan ist „es unmittelbar einsichtig mit welch unaufhebbarer Notwendigkeit […] die Forderung besteh[e], daß die Abneigung, die der Wirklichkeit entgegengebracht [werde], aus dem Ideal entspring[e], das dieser entgegensteh[e].“[8]
Bereits knapp ein Jahrhundert zuvor hat Friedrich Schiller in seiner kulturphilosophischen Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung festgehalten, der moderne Dichter seiner Zeit könne auf den Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Ideal nur in begrenzter Weise reagieren. Etwa obliegt es ihm, die unvollkommene Wirklichkeit scherzend oder strafend in der Satire anzuprangern.[9] Im Unterschied zu Schillers begrifflich definierter Empfindungsweise, die der Dichtungsart der Satire zugrunde liegt,[10] findet sich in der gegenwärtig gängigen Vorstellung einer Satire lediglich das satirische Schema wieder. Dieses Schema konstituiert sich aus zwei antithetischen Gliedern, die bei Schiller mit den Begrifflichkeiten eines (utopischen) Ideals sowie der mangelhaften Wirklichkeit besetzt sind. Der zu kritisierende Mangel setzt bei ihm stets ein vorangegangenes und entgegengesetztes Ideal voraus. Diese ästhetische Kategorie Schillers ist bei Kraus, wie gesagt, nur noch strukturell auszumachen.[11] Wiederum auf den Titel bezogen, steht eine bessere Vergangenheit einer äußerst mangelhaften Gegenwart gegenüber, auf die er mit seinem Sprachrohr der Satire reagiert. Joachim Stephan bezeichnet dies als die „ethische Deckung durch irgendetwas, […] [die] für den Satiriker unerläßlich [sei]. Erst vermöge dieser Haftung des Autors [werde] die Satire zur gerechtfertigten Antithese ihres Gegenstandes“[12], begründet Stephan demzufolge die Funktion dieser Begrifflichkeit der ethischen Deckung. Kraus ist aber kein sentimentalischer Dichter, um erneut den Kontrast zu Schillers Prinzip zu betonen. Er bemängelt die Wirklichkeit nicht, indem er etwa „über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen“[13] reflektiert oder „elegisch dem verlorenen Ideal nachtrauer[t]“[14]. Vielmehr zeigt sich in seiner Satire der Wille, das gegenwärtig Unzulängliche mit seiner Sprache zu vernichten.[15] „Wien wird jetzt zur Grossstadt demolirt. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respectloser Spaten auch das ehrwürdige Café Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben.“[16]
Kraus eröffnet seine Skizze mit einem dialektischen Prozess[17] und setzt die alte Kaiserstadt Wien dem sich wandelnden Wien entgegen. Sprachlich determiniert er den gegenwärtigen Zustand als einen absoluten, denn Wien wird demoliert, die letzten Pfeiler der Erinnerung fallen und das Café Griensteidl wird dem Boden gleichgemacht werden. Die zunehmende Veränderung der Stadt beinhaltet gleichzeitig, dass etwas Bestehendes vernichtet wird.
Der Ausgangspunkt seiner Kritik an der – im Titel programmatisch gesetzten – 'zerstörten' Literatur ist also hier auszumachen. Mit der radikal negativen Wortwahl referiert Kraus hier auch stets auf den Titel, da etwas in irgendeiner Weise vollkommen zerstört wird. Die historisierend gestalteten Fassaden der Wiener Ringstraße oder architektonisch repräsentative Neubauten[18] leiten eine neue Epoche ein, wohingegen die ausklingende Epoche und jegliche mit ihr verbundene Erinnerungen unwiderruflich ausgelöscht werden. Die sprachliche Zerstörungsgewalt gipfelt darin, dass das personifizierte Café Griensteidl einem ebenso personifizierten handwerklichen Gegenstand gegenübergestellt wird. Beide werden mit antithetischen, menschlichen Eigenschaften versehen, wobei die gute Eigenschaft
– wiederum übertrieben erhöht – der Seite zugeordnet wird, die Kraus kritisiert. Hier stellt sich die Frage, ob Kraus ganz bewusst nicht das Adjektiv altehrwürdig gewählt hat. Dieses Wort überbietet den Ausdruck ehrwürdig nochmals und entspräche der satirischen Sprache noch mehr. In der kontextualen Bedeutung würde der pathetische Ausdruck aber ein Ideal bezeichnen und so aus dem satirischen Schema herausfallen, da Kraus dieses Café einstig durchaus wohlwollend[19] betrachtet hat. So bleibt mit seinem gewählten Wort die satirische Wirkungsabsicht erhalten und verdeutlicht seine gegenwärtige Einstellung zu diesem Kaffeehaus. Ein Café Griensteidl, wie er es sich vorgestellt hat, existiert nicht. Kraus erhöht seine Vorstellung nicht sondern lehnt das Gegebene rigoros ab. Der Spatenstich ist daher auch nur symbolisch zu sehen, da parallel zu den Veränderungen der Stadt Wien für Kraus gleichermaßen dieses Kaffeehaus zu einem Ort geworden ist, von dem er sich längst abgewandt hat. Folglich zeigt sich bereits in den ersten beiden Sätzen seiner Skizze, welche Funktion die überzogenen und endgültigen Formulierungen der satirischen Sprache haben. Kraus sieht sich einer Situation gegenübergestellt, die er nicht ändern kann, doch innerlich ist er nicht bereit, sich dieser Situation zu fügen. Als einzige Möglichkeit bleibt ihm somit nur die Sprache, die er als eine Waffe einsetzt, mit der er den – von ihm als untragbar empfundenen – Zustand konsequent ablehnt.
4. Die Anwendung satirischer Mittel
4.1. Café Griensteidl: Das literarische Verkehrszentrum
Im eröffnenden Teil seiner Skizze kommentiert Kraus diesen Zustand weiter im Text:
Ein hausherrlicher Entschluss, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Production wird grausam abgeschnitten. […] [D]as Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen, spielte sich in jenem Kaffeehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrscentrum zu präsentiren.[20]
In diesem Kontext offenbart sich ein weiteres Element, das der Satire zugrunde liegt. Es zeigt sich nämlich ein eindeutig ironischer Anstrich. In Verbindung mit den übertriebenen Worten sowie den kontrastierten Momenten verleiht das Ironische der Satire den Witzcharakter. Oberflächlich verliert die Aussage somit an Schärfe, doch inhaltlich verdeutlicht Kraus an dieser Stelle genau mit diesem Stilmittel, wogegen er sich richtet. Zunächst erscheint es so, als sei Kraus der bevorstehende Abriss des Kaffeehauses nicht gleichgültig. Er bedauert beinahe diesen endgültigen, von höherer Stelle bestimmten Entschluss, den er mit seiner Wortwahl hausherrlich zugleich als einen herrlichen, beinahe göttlichen darstellt. Die Wortwahl unsere Literatur suggeriert wiederum eine Betroffenheit seitens Kraus, die zugleich verdeutlicht, dass es sich dabei um eben diese Literatur handelt, die er kritisiert. Zudem konkretisiert er nun den Ausgangspunkt seiner Kritik an der gegenwärtig zerstörten Literatur, indem er ihn örtlich festlegt und bringt so den Anlass mit dem Gegenstand seiner Kritik zusammen. Analog zu den Veränderungen und dem Ende einer Epoche entfaltet sich „der bevorstehende Abriss des Café Griensteidl […] zum Sinnbild seiner […] Demontage der zeitgenössischen Literatur“[21]. Diesen Zusammenhang präzisiert Kraus, zumal er nun die Menschen, die unmittelbar dem Café zugehören, einbringt:
Dass in einem so exceptionellen Café auch die Kellnernatur einen Stich ins Literarische aufweisen musste, leuchtet ein. Hier haben sich die Marqueure in ihrer Entwicklung dem Milieu angepasst. […] Eine Reihe bedeutender Kellner, welche in diesem Kaffeehause gewirkt haben, bezeichnet die Entwicklung des heimischen Geisteslebens.[22]
Allein mit der Wortwahl exzeptionell hebt Kraus die scheinbar große Bedeutung dieses Kaffeehauses noch stärker hervor als würde er nur das, an sich schon, bedeutungsstarke Synonym außergewöhnlich verwenden. Mit den Begriffen Kellnernatur und dem altösterreichischen Ausdruck für einen Zahlkellner, den Marqueur, kommt ein weiteres Element hinzu, das eine Satire bedingt. Der Beruf des Kellners wird bei Kraus zu einem Typus, indem er ihn mit einer verallgemeinernden und belustigenden Bezeichnung versieht[23]. Obendrein stuft er den Kellner im allgemeinen Sinne auf einen Zahlkellner herab. Dieser Typus der Kellnernatur sowie die Entwertung des Kellners im Allgemeinen stehen zugleich für den gesellschaftlichen Wert des Kaffeehauses, den Kraus offensichtlich geringschätzt.
Ferner schafft er mit dem Austriazismus Marqueur einen eindeutigen Konnex zum Milieu Wiens[24] und verknüpft so erneut die Gesamtsituation mit dem konkreten Gegenstand, den er kritisiert. Seine Geringschätzung pointiert Kraus anschließend ironisch, indem die beruflichen Fertigkeiten eines Kellners der gegenwärtig literarisch-geistigen Tätigkeit der österreichischen Schriftsteller fachlich entsprechen.
Das ruft wiederum das Café Griensteidl als das, von Kraus eingangs so bezeichnete, literarische Verkehrszentrum ins Gedächtnis. Das literarische Schaffen, das dort stattfindet, zeigt keine Entwicklung im eigentlichen Sinne – vielmehr finden sich vielfältige literarische Richtungen, die rasch einander abwechseln[25]. Kraus repräsentiert das anschaulich, denn „Franz, der k. k. Hof-Marqueur hat eine Tradition geschaffen, welche heute von den Jungen über den Haufen geworfen ist“[26]. Im fortlaufenden Textabschnitt konkretisiert Kraus nun dieses Bild:
Franz […] erlebte es noch, wie der Naturalismus seinen Siegeslauf von Berlin in das Café Griensteidl nahm und […] von einigen Stammgästen mit Jubel aufgenommen ward. Seit damals gehört das Café […] der modernen Kunst. Eine neue Kellnergeneration stand bereit […] – sie verstanden es, mit der Zeit zu gehen, und genügten bald den Anforderungen einer gesteigerten Sensitivität. […] Bald war man mit dem consequenten Realismus fertig, und Griensteidl stand im Zeichen des Symbolismus. ‚Heimliche Nerven!‘ lautete jetzt die Parole [.][27]
4.2. Hermann Bahr
4.2.1. Überwindungen
Die anfänglich destruktive Endgültigkeit, mit der Kraus die Skizze eröffnet hat, verblasst zunehmend. Im Textverlauf wandelt sich das irreversible Charakteristikum zu einem, das geschäftige Dynamik und Abwechslung demonstriert. Im folgenden Abschnitt mündet dies schließlich in einen Höhepunkt, womit Kraus jetzt eine Brücke schlägt und konkret auf das zu sprechen kommt, was er so konsequent ablehnt:
Die ganze Literaturbewegung einzuleiten, die zahlreichen schwierigen Ueberwindungen vorzunehmen, nicht zuletzt, dem Kaffeehausleben den Stempel einer Persönlichkeit aufzudrücken, war ein Herr aus Linz berufen worden, dem es in der That bald gelang, einen entscheidenden Einfluss auf die Jugend zu gewinnen und eine dichte Schaar von Anhängern um sich zu versammeln.[28]
Etwas Neues einzuleiten und es zugleich wieder zu verwerfen, widerspricht sich. Hermann Bahr, der Herr aus Linz, leitet demnach keine Erneuerung der Literatur ein. Der Fokus ist im Kompositum Literaturbewegung auf das zweite Glied zu setzen und wörtlich zu nehmen.
Gleich seinen einführenden Worten in seinem Aufsatz zur Moderne und seine damit verbundene Überwindung des Naturalismus, bewegt Hermann Bahr die Literatur, indem er unentwegt sucht, ausprobiert und wieder verwirft:
Und ich wandere durch die sandige Ebene des Nordens. Und ich klomm nach dem ewigen Eise der Alpen. Und aus der großen Stadt floh ich in die Wüste pyrenäischer Schneefelder und ich irrte am Meere, wo sich die Flut bäumt. […] In die Bücher bin ich getaucht, was die Weisen verkündigen, und an den Herzen habe ich gehorcht, was die Sehnsucht schlägt. Überall habe ich gefragt, mit dieser bebenden, hungrigen Begierde. Und nirgends war Antwort.[29]
Bahr setzt sich mit dem gegebenen Alten auseinander, stellt sich dem aber nicht. Er wandert, erklimmt, taucht ein, horcht, fragt, irrt umher – verweilt aber nirgends. Er versucht alles, lässt es alsbald hinter sich und flieht. Daher sind diese Überwindungen tatsächlich zahlreich und schwierig, aber eben keine wirklichen Überwindungen. Abermals im wörtlichen Sinne leitet Bahr stets nur etwas ein, versucht sich daran und findet letztlich keine Antwort. Auch der Stempel einer Persönlichkeit ist nur ein Abdruck, den er nach Kraus metaphorisch dem Kaffeehausleben und dem damit verbundenen literarischen Schaffen aufzudrücken versucht. In diesem Abschnitt der Skizze ist Kraus’ Wortwahl somit auffallend eindeutig, doch das stilistische Verfahren verbirgt hinter jedem eindeutigen Wort einen anderen Sinn. Am Ende dieses Abschnitts wechselt er sein Verfahren, da er das Gegenteil schreibt, von dem was er meint. Das passiv ausgedrückte war berufen worden ironisiert er, da Bahr sich aktiv quasi selbst dazu berufen hat. Das gibt den nachfolgenden Worten einen etwas zynischen Unterton, da sie die Realität wiedergeben. Um auch dem entgegenzutreten, hat Kraus eben die Person Hermann Bahr – wie hier erläutert – in den vorangegangenen Zeilen als nicht ernst zu nehmend desavouiert, womit im Schluss des Absatzes wiederum der wörtliche Sinn verändert wird. Hermann Bahr hat es tatsächlich geschafft, Anhänger seiner Ideen zu finden. Sinnfällig zusammengefasst hat sich nach Kraus Bahr jedoch selbst zu etwas berufen, von dem er noch nicht weiß, was es ist und wo es hinführen soll. Er hat Ideen, die er nicht zu Ende führt sondern unentwegt gegen neue austauscht. Seine Schar von Anhängern wird so auf die gleiche Stufe mit dem hier gezeigten Bild von Bahr gestellt und ebenso desavouiert. Da Bahrs Persönlichkeit von Kraus bereits als ein bloßer Abdruck ausgemacht worden ist, gilt es demnach nicht viel, wenn er auf irgendjemanden Einfluss nimmt. Nach Kraus’ Formulierung gewinnt er sogar diesen Einfluss, womit er im wörtlichen Sinne lediglich Glück gehabt hat. Am Ende findet sich ein Bild von Bahr, als jemand, der quasi das große Los gezogen hat, junge Menschen um sich zu scharen, die leicht beeinflussbar sind. So lässt sich in diesem Textabschnitt konsequent ein gradueller Unterschied zu den vorhergehenden Abschnitten erfassen.
[...]
[1] Mike Rogers: Die Satire der Anspielung bei Karl Kraus und das Problem der Anmerkung. In: Gilbert J. Carr; Edward Timms (Hg.). Karl Kraus und die Fackel. Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte / Reading Karl Kraus. Essays on the reception of Die Fackel. München: Iudicium 2001, S. 183.
[2] Vgl. ebd., S. 185.
[3] Vgl. ebd., S. 185f.
[4] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache. Zu dem Werk von Karl Kraus. München: Anton Pustet 1964, S. 9.
[5] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache, S. 10.
[6] Vgl. ebd., S. 22.
[7] Vgl. ebd., S. 11.
[8] Ebd., S. 20.
[9] Vgl. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. Hrsg. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart: Reclam 2002, S. 137.
[10] Vgl. Ebd., S. 47.
[11] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache, S. 20.
[12] Ebd.
[13] Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 38.
[14] Ebd., S. 137.
[15] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache, S. 20.
[16] Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Mit einem Nachwort hrsg. v. Dieter Kimpel. Steinbach/Gießen: Anabas 1972, S. 5. ( = Reihe deutsche Satiren, Bd. 4)
[17] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache, S. 20.
[18] Vgl. Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. 2. Aufl. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 2007, S. 16. ( = Sammlung Metzler, Bd. 290)
[19] Vgl. ebd., S. 169.
[20] Karl Kraus: Die demolirte Literatur, S. 5.
[21] Dagmar Lorenz: Wiener Moderne, S. 172.
[22] Karl Kraus: Die demolirte Literatur, S. 6.
[23] Vgl. Joachim Stephan: Satire und Sprache, S. 17.
[24] Vgl. Ulrike Lang: Mordshetz und Pahöl. Austriazismen als Stilmittel bei Karl Kraus. Eine Analyse ausgewählter polemischer Schriften mit einem Wörterbuch. In: Johann Holzner u. A. (Hg.). Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Innsbruck: Institut für Germanistik 1992, S. 108. ( = Germanistische Reihe, Bd. 48)
[25] Vgl. Dagmar Lorenz: Wiener Moderne, S. 172.
[26] Karl Kraus: Die demolirte Literatur, S. 6.
[27] Ebd., S. 6f.
[28] Ebd., S. 8.
[29] Hermann Bahr: Die Moderne. In: Gotthart Wunberg (Hg.). Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Festschrift für Otto Friedrich Bollnow. Stuttgart u. A.: W. Kohlhammer, S. 35.
- Arbeit zitieren
- Silke Wallner (Autor:in), 2013, Karl Kraus: Die demolierte Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/214246
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