In dem Vorwort zu den Caractères schreibt La Bruyère „que ce sont les caractères ou
les moeurs de ce siècle que je décris”1. Er gibt offen an, dass er sich seine Eindrücke
vom Hof des Königs Louis XIV geholt hat, einem Ort, der als Ausgangspunkt für
Menschenbeobachtungen wie geschaffen war. Zugleich bemerkt er, dass seine
Eindrücke nicht auf diesen Hof oder Frankreich zu beschränken sind, sondern dass sie
vielmehr überregionalen Charakter besitzen. Seine Intension war es, „d’y peindre les
hommes en général”2, also allgemeinmenschliche bzw. soziale Typen zu malen und
dadurch erweitert er die Gültigkeit seiner Darstellungen noch um den Aspekt der
Überzeitlichkeit. Darauf möchte ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal
zurückkommen.
Die Wortwahl La Bruyères in diesem zuletzt zitierten Abschnitt weist auf eine
literarische Gattung hin, nämlich das literarische Portrait3, die er in den Caractères
neben anderen kurzen narrativen Formen verwendet hat. Damit reiht er sich am Ende
des 17. Jahrhunderts in eine lange Tradition ein, die in Frankreich bereits in der Mitte
jenes Jahrhunderts in Form von „jeux mondaines“4 gang und gäbe war. Denn das
Portraitschreiben wurde in den Salons der Adeligen als eine Form des „passe-temps“5
hoch geschätzt. [...]
1 La Bruyère: Les Caractères ou Les Moeurs de ce siècle.Saint-Amand, 2002, S.18, im folgenden zitiert als
Bruyère : Caractères.
2 Bruyère: Caractères. S. 18. Damit stellt er sich klar in die Tradition des theophrastischen Charakterportraits,
obwohl er auch, jedoch selten, zeitgenössische Individuen darstellt. Meist handelt es sich aber um Typen
ohne historische Vorlage. Vom zeitgenössischen Publikum wurden seine Portraits trotz der klaren
Stellungnahme im Vorwort als Schlüsselportraits gelesen. Vgl. hierzu: Thomas Koch: Literarische
Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. Tübingen, 1991, S.88, im folgenden zitiert als
Koch: Menschendarstellung.
3 Im folgenden soll, wenn von einem Portrait die Rede ist, stets das literarische Portrait gemeint sein.
4 Pierre Richard: La Bruyère et ses « Caractères ». Amiens, 1946, im folgenden zitiert als Richard : La Bruyère.
5 Dirk Van der Cruysse: Le Portrait dans les « Mémoires » du Duc de Saint-Simon. Paris, 1971, S. 35, im
folgenden zitiert als Cruysse: Portrait. Dieses Werk gibt einen besonders guten Überblick über die
unterschiedlichen Wurzeln des literarischen Portraits.
Gliederung
1.Einleitung
2.Betrachtungen zum Onuphre - Portrait von La Bruyère
2.1 Aufbau und Inhalt des Portraits
2.2 Onuphre- Tartuffe: „vrai faux dévot“ und „faux faux dévot“
3. Schluss
4. Bibliographie
5. Erklärung
1. Einleitung
In dem Vorwort zu den Caractères schreibt La Bruyère „que ce sont les caractères ou les mœurs de ce siècle que je décris”[1]. Er gibt offen an, dass er sich seine Eindrücke vom Hof des Königs Louis XIV geholt hat, einem Ort, der als Ausgangspunkt für Menschenbeobachtungen wie geschaffen war. Zugleich bemerkt er, dass seine Eindrücke nicht auf diesen Hof oder Frankreich zu beschränken sind, sondern dass sie vielmehr überregionalen Charakter besitzen. Seine Intension war es, „d’y peindre les hommes en général”[2], also allgemeinmenschliche bzw. soziale Typen zu malen und dadurch erweitert er die Gültigkeit seiner Darstellungen noch um den Aspekt der Überzeitlichkeit. Darauf möchte ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal zurückkommen.
Die Wortwahl La Bruyères in diesem zuletzt zitierten Abschnitt weist auf eine literarische Gattung hin, nämlich das literarische Portrait[3], die er in den Caractères neben anderen kurzen narrativen Formen verwendet hat. Damit reiht er sich am Ende des 17. Jahrhunderts in eine lange Tradition ein, die in Frankreich bereits in der Mitte jenes Jahrhunderts in Form von „jeux mondaines“[4] gang und gäbe war. Denn das Portraitschreiben wurde in den Salons der Adeligen als eine Form des „passe-temps“[5] hoch geschätzt.
Das Portrait war ebenfalls ein fester Bestandteil französischer Romane dieser und der vorangehenden Epoche.[6]
Abgesehen davon gab es seit Beginn des 17. Jahrhunderts gewisse Bräuche, Van der Cruysse spricht hier von „certaines coutumes diplomatiques“[7], die darin bestanden, dass die Botschafter Frankreichs geheime Berichte abfassen mussten, die unter anderem auch detaillierte Portraits der wichtigsten Persönlichkeiten der ausländischen Höfe, denen sie zugeteilt waren, enthielten.[8]
Das Portrait beeinflusste im 17. Jahrhundert folglich den gesellschaftlichen, den literarischen sowie auch den politische Bereich und war gewissermaßen omnipräsent.
Nach diesem kurzen historischen Überblick erscheint es mir wichtig, eine Definition des für diese Arbeit zentralen Begriffs „Portrait“ zu geben. Bei der folgenden Definition handelt es sich um eine mögliche, aber sicher nicht die einzig geltende Definition:
„[...]bedurfte ich einer Definition der Form, die das literarische
Portrait im Sinne und im typischen Gebrauch des 17. Jahrhunderts
abgrenzt [...]. Die Gesetzmäßigkeit [...] glaube ich zu erkennen in der
Geschlossenheit der Schilderung, in dem Bestreben, die Ganzheit
der Persönlichkeit darzustellen, und schliesslich in der direkten
Wiedergabe des Urteils über einen Menschen.“[9]
Diese drei für das Portrait als gesetzmäßig ausgewiesenen Faktoren, nämlich eine geschlossene Schilderung, die Darstellung einer Person in ihrer Ganzheit und ein direkt abgegebenes Urteil über den Dargestellten Menschen, sollen mir in dem ersten Teil der Betrachtung des Onuphre - Portraits als Leitfaden dienen. Dabei möchte ich durch besonders textnahe Arbeit die sich deckenden Momente der zitierten Definition mit dem Portrait hervorheben, ebenso die Unterschiede.
Der zweite Teil wird anhand zweier Textbeispiele aus dem Onuphre - Portrait herausarbeiten, worin die Unterschiede zwischen Onuphre und Molières Tartuffe liegen und diese im Fall von Tartuffe dramentheoretisch Begründen.
Die neuere Forschung hat sich intensiv mit den Beziehungen zwischen Molière und La Bruyère befasst. So trägt ein 2001 veröffentlichter Aufsatz von Michael S. Koppisch den vielsagenden Titel „Le dialogue de Molière et La Bruyère“[10] und im gleichen Band findet sich ein Aufsatz von Benedetta Papasogli, der das Onuphre - Portrait bearbeitet und dabei auch ausführlich auf Beziehungen und Differenzen zwischen Onuphre und Tartuffe eingeht.[11]
Wie zu Beginn schon erwähnt, fand La Bruyère am Hof des Grand Condé den Nährboden für seine Menschenbeobachtungen. Die einzelnen Individuen waren „dumm, lächerlich, verlogen, machtgierig, rücksichtslos“[12] und ihre Summe stellte die Gesellschaft dar, in der es oberstes Ziel war, eine höhere soziale Stellung im hierarchischen Gefüge zu erreichen.[13] La Bruyère kondensierte seine Eindrücke und ließ Menschentypen in seinen Portraits entstehen. Ein längeres- es umfasst doch immerhin fast drei Seiten- enthält als Menschentyp[14] den Heuchler (l’ hypocrite), den Scheinheiligen[15] im wahrsten Sinne des Wortes.
2.1 Aufbau und Inhalt des Portraits
Onuphre, so nennt der Erzähler seinen Menschentyp gleich zu Beginn, wird durch eine Schilderung seiner Lebensbedingungen, genauer gesagt, seines Nachtlagers, eingeführt. Man erfährt, dass dieser lediglich eine sehr grobe, wollne Zudecke besitzt. Doch bereits in der zweiten Satzhälfte, eingeleitet durch die adversative Konjunktion „mais“, wird der entstandene Eindruck revidiert: Onuphre liegt nämlich „sur le coton et sur le duvet“[16], also auf Baumwolle und Daunen. Im Grunde wird hier schon das Prinzip, nach dem ein Heuchler handelt, metaphorisch dargestellt.
Ein Heuchler möchte seine Umgebung täuschen, sein Handeln entspricht nicht seinen Gedanken. Er trägt eine Maske, um sich nicht zu verraten, so wie sich Onuphre eine grobe Zudecke überstülpt um nicht sein weiches Nachtlager preis- zugeben.
[...]
[1] La Bruyère: Les Caractères ou Les Mœurs de ce siècle.Saint-Amand, 2002, S.18, im folgenden zitiert als Bruyère: Caractères.
[2] Bruyère : Caractères. S. 18. Damit stellt er sich klar in die Tradition des theophrastischen Charakterportraits, obwohl er auch, jedoch selten, zeitgenössische Individuen darstellt. Meist handelt es sich aber um Typen ohne historische Vorlage. Vom zeitgenössischen Publikum wurden seine Portraits trotz der klaren Stellungnahme im Vorwort als Schlüsselportraits gelesen. Vgl. hierzu: Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. Tübingen, 1991, S.88, im folgenden zitiert als Koch: Menschendarstellung.
[3] Im folgenden soll, wenn von einem Portrait die Rede ist, stets das literarische Portrait gemeint sein.
[4] Pierre Richard: La Bruyère et ses «Caractères». Amiens, 1946, im folgenden zitiert als Richard: La Bruyère.
[5] Dirk Van der Cruysse: Le Portrait dans les «Mémoires» du Duc de Saint-Simon. Paris, 1971, S. 35, im folgenden zitiert als Cruysse: Portrait. Dieses Werk gibt einen besonders guten Überblick über die unterschiedlichen Wurzeln des literarischen Portraits.
[6] In diesem Zusammenhang sei auf die Portraits in l’Astrée (1607-1627) hingewiesen, die von den 3000 Seiten in etwa zwanzig einnehmen. Doch der wirkliche Ausgangspunkt des literarischen Portraits liegt in den zwei großen Romanen der Mlle de Scudéry, Le grand Cyrus und Clélie. Vgl. hierzu: Cruysse: Portrait. S. 30.
[7] Cruysse: Portrait. S. 30.
[8] Die bedeutensten Portraits diplomatischen Ursprungs enthält das Werk Relation de la Cour de France en 1690 von Ezechiel Spanheim. Vgl. hierzu: Cruysse: Portrait. S. 35.
[9] Diese Definition stammt von Paul Ganter und wurde zitiert aus: Cruysse: Portrait. S. 27f.
[10] Michael S. Koppisch: Le dialogue de Molière et La Bruyère. Aus: Jean Dagen (Hg.): La Bruyère. Le métier du moraliste. Paris, 2001, S. 25-33, im folgenden zitiert als Koppisch : Le dialogue.
[11] Benedetta Papasogli : Onuphre: l’intérieur et l’extérieur. Aus: Jean Dagen (Hg.): La Bruyère. Le métier du moraliste. Paris, 2001, S. 211-220, im folgenden zitiert als Papasogli: Onuphre.
[12] Gottfried Wäber: La Bruyère: Les Caractères. Ein Versuch zur dichterischen Schöpfung. S.513. In: Die neueren Sprachen 66 (1967), S.513-524, im folgenden zitiert als Wäber: Versuch.
[13] Vgl. hierzu: Wäber: Versuch. S. 513f.
[14] Dass es sich bei dem Portraitierten um einen Typen handelt, legt die Tatsache nahe, dass die dargestellte Person nur wenige Eigenschaften besitzt und dass sie nach den immer gleichen Grundsätzen handelt. Thomas Koch spricht auf Grund dieser Tatsache auch von „monomanische[n] Individuen“. Koch: Menschendarstellung. S. 96.
[15] In diesem Zusammenhang sei auf die wiederholte Verwendung des Begriffs „fausse dévotion“, also „falsche Frömmigkeit“, in den Fußnoten von La Bruyère hingewiesen. Vgl. hierzu: Bruyère: Caractères. S.325f.
[16] Bruyère: Caractères. S. 324.
- Arbeit zitieren
- Johanna Zeiß (Autor:in), 2003, Betrachtungen zum Onuphre-Portrait von La Bruyère, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21396
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