Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Themen Schulversagen und vorzeitiger Schulabbruch. Das Land Sachsen-Anhalt verzeichnete 2004 mit 12% bundesweit eine der höchsten Schulabbrecherquoten. Deshalb wurde das Programm „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ ins Leben gerufen. Dieses Programm („ESF-Programm“) wird wissenschaftlich begleitet und anhand von Interviews mit Programmbeteiligten evaluiert.
Die vorliegende Arbeit überprüft nun, wie Programmbeteiligte die Rahmenbedingungen und Implementierung, den Prozessverlauf und die Ergebnisse und Wirkungen des ESF-Programms wahrnehmen. Bevor diese Frage mithilfe der Experteninterviews beantwortet wird, wird als theoretische Grundlage genauer auf das Phänomen Schulversagen eingegangen.
Zudem werden Informationen über die Schulsozialarbeit als Form der Kooperation von Jugendhilfe und Schule geliefert. Es soll definiert werden, was Netzwerke sind, welche Aufgaben der Netzwerkkoordinator hat und was unter einzelfallbezogener Netzwerkarbeit zu verstehen ist. Ebenso werden Hintergründe zum ESF-Programm geliefert sowie dessen Programmziele und Programmbestandteile erläutert. Auch auf die wissenschaftliche Begleitung des Programms wird noch einmal genauer eingegangen.
Im empirischen Teil dieser Arbeit werden zunächst Grundlagen zum Experteninterview dargelegt und das Auswertungsverfahren nach Meuser und Nagel anhand der vorliegenden Interviews erläutert. Nachfolgend werden die Einschätzungen der Programmbeteiligten zu den Rahmenbedingungen und der Implementierung des Programms, zum Prozessverlauf und zu den Ergebnissen und Wirkungen des Programms dargelegt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Schulversagen - ein theoretischer Überblick
2.1 Definition
2.2 Bedingungsfaktoren von Schulversagen
2.3 Intervention
3. Schulsozialarbeit - Kooperation von Jugendhilfe und Schule
3.1 Grundlagen der Kooperation
3.2 Jugendhilfe und Schule
3.3 Schulsozialarbeit
3.4 Forschungsstand und Praxisberichte
4. Netzwerkarbeit
4.1 Was sind Netzwerke?
4.2 Aufgaben des Netzwerkkoordinators
4.3 Einzelfallbezogene Netzwerkarbeit
5. Das ESF-Programm und seine wissenschaftliche Begleitung
5.1 Hintergründe des ESF-Programms
5.2 Programmziele und Programmbestandteile
5.3 Wissenschaftliche Begleitung des ESF-Programms
6. Empirischer Teil
6.1 Erhebungsverfahren - Das Experteninterview
6.2 Auswertung der Experteninterviews nach Meuser und Nagel
6.3 Rahmenbedingungen und Implementierung
6.3.1 Start des Programms
6.3.2 Rahmenbedingungen im Bereich Schule
6.3.3 Rahmenbedingungen für bildungsbezogene Angebote
6.3.4 Konzept des Programms
6.3.5 Nachhaltigkeit und Weiterbestehen
6.4 Prozessverlauf
6.4.1 Ausübung der Schulsozialarbeit
6.4.2 Kooperation von Schulsozialarbeiter und Lehrpersonal
6.4.3 Ausübung der Netzwerkarbeit
6.4.4 Ausübung der bildungsbezogenen Angebote
6.5 Ergebnisse und Wirkungen
7. Fazit und Grenzen
8. Literatur
Anhang
Interview mit Frau Wiese - Schulsozialarbeiterin an einer Einzelschule
Interview mit Herrn Boss - Schulleiter einer am Programm beteiligten SchuleInterview mit Herrn Kreuz - Sozialpädagoge in einer JugendwerkstattInterview mit Nancy Grimm/ Jürgen Grimm - Netzwerkkoordinatoren der Stadt
1. Einleitung
In der Geschichte galt als gebildet, wer möglichst oft verschiedene Schulklassen wiederholt hatte. Heute ist das Gegenteil der Fall. Gibt es auch nicht mehr solch drakonische Strafen wie den Schulpranger, an den Schulversager gestellt wurden, so sind die Folgen von Schulversagen für den Lebensweg der Schüler, durch die immer stärker leistungsorientierte Entwicklung unserer Gesellschaft, doch heute gravierender als früher. Die Schullaufbahn und der Schulerfolg entscheiden über die künftige Biografie des Schülers, über dessen Lebenschancen und Lebenswandel. Schüler ohne Abschluss können in eine Außenseiterposition in der Gesellschaft geraten (vgl. Tupaika 2003, S.11, vgl. SchreiberKittl/Schröpfer 2002, S.5, vgl. Hurrelmann/Wolf 1986, S.1).
Umso wichtiger ist es daher, dem Schulversagen und vorzeitigen Schulabbruch entgegen zuwirken. Das Land Sachsen-Anhalt verzeichnete 2004 mit 12% bundesweit eine der höchstenSchulabbrecherquoten. Diese will das Land bis 2013 auf 8,6% senken (vgl. Olk/Speck 2008,S.5). Hierfür wurde das Programm „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zurSenkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ ins Leben gerufen, das eine Laufzeit von 2007 bis2013 hat und mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfond finanziert wird (vgl.www.schulerfolg-sichern.de, Stand 25.04.2010).
Dieses Programm, nachfolgend auch als ESF-Programm bezeichnet, wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert (vgl. Olk/Speck 2008, S.6). Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Begleitung wurden Experteninterviews mit Programmbeteiligten geführt, um deren subjektive Sicht auf das Programm und dessen Umsetzung einschätzen zu können (vgl. ebd., S.41f.). Auf diese Experteninterviews kann im Rahmen dieser Arbeit zurückgegriffen werden, um die Umsetzung sozialpädagogischer Arbeit am Beispiel dieses ESF-Programms zu überprüfen. Daraus ergibt sich folgende Fragestellung für diese Arbeit:
Wie nehmen die Programmbeteiligten die Rahmenbedingungen und Implementierung, den Prozessverlauf und die Ergebnisse und Wirkungen des ESF-Programms „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ in Sachsen-Anhalt wahr?
Bevor diese Frage mithilfe der Experteninterviews beantwortet wird, wird als theoretischeGrundlage genauer auf das Phänomen Schulversagen eingegangen, indem eine Definitionerfolgt, sowie Bedingungsfaktoren und Interventionsmöglichkeiten dargelegt werden.Nachfolgend werden Informationen über die Schulsozialarbeit, als Form der Kooperationvon Jugendhilfe und Schule geliefert. Hierfür werden die Grundlagen der Kooperation, dasVerhältnis von Jugendhilfe und Schule, das Verständnis von Schulsozialarbeit und der Forschungsstand sowie Praxisberichte aus diesem Bereich dargelegt. Im anschließenden Abschnitt zur Netzwerkarbeit wird definiert, was Netzwerke sind, welche Aufgaben derNetzwerkkoordinator hat und was unter einzelfallbezogener Netzwerkarbeit zu verstehen ist.Ebenso werden im darauf folgenden Abschnitt Hintergründe zum ESF-Programm geliefert,sowie dessen Programmziele und Programmbestandteile erläutert. Auch auf diewissenschaftliche Begleitung des Programms wird noch einmal genauer eingegangen. Imempirischen Teil dieser Arbeit werden zunächst Grundlagen zum Experteninterviewdargelegt und das Auswertungsverfahren nach Meuser und Nagel anhand der vorliegendenInterviews erläutert. Nachfolgend werden die Einschätzungen der Programmbeteiligten zuden Rahmenbedingungen und der Implementierung des Programms, zum Prozessverlauf undzu den Ergebnissen und Wirkungen des Programms dargelegt, bevor abschließend ein Fazitgezogen wird und Grenzen dieser Untersuchung aufgezeigt werden.
Ausschließlich aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wird bei Nennung von Personen oder Personengruppen in dieser Arbeit eine einheitliche Geschlechtsform verwendet.
2. Das Phänomen Schulversagen
Zunächst soll ein Überblick über das Thema Schulversagen gegeben werden, da die Vermeidung dieses Phänomens grundlegendes Ziel des ESF-Programms „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ ist. Da die Einschätzungen der Programmbeteiligten zur Umsetzung dieses Programms erarbeitet werden sollen, gilt es, diese Grundlage darzustellen, indem Schulversagen zunächst definiert wird, auf die Ursachen und Bedingungsfaktoren eingegangen wird sowie Interventionsmöglichkeiten dargestellt werden.
2.1 Definition
In der Fachliteratur findet sich eine Vielzahl von Begrifflichkeiten und Definitionsversuchen rund um das Phänomen Schulversagen. In den letzten Jahren lässt sich eine starke Entwicklung hin zu Themen wie Schulabsentismus, Schulverweigerung und Schulmüdigkeit erkennen, die eng mit dem Phänomen zusammen hängen (vgl. Olk 2008, S.11). Speziell zum Thema Schulversagen existiert in der neueren Literatur eher wenig.
In den verschiedenen Definitionsansätzen findet sich vielfach die Unterscheidung zwischenadministrativem und schülerspezifischem Schulversagen, wobei der Schwerpunkt meist aufder administrativen Form liegt (vgl. Tupaika 2003, S.13). Nach Hildeschmidt (1988) ist administratives, beziehungsweise formales, Schulversagen definiert als „nicht (mehr) tolerierbare Diskrepanz zwischen schulisch gesetzten Entwicklungsnormen und den Lernvoraussetzungen bzw. dem Leistungsstand von Schülern“ (ebd., S.13 nach Hildeschmidt 1998, S.990). Schülerspezifisches Schulleistungsversagen meint hingegen das Versagen aufgrund von verschiedenen Symptomen von Lern- und Verhaltensstörungen. Schülerspezifisches Schulleistungsversagen muss jedoch nicht zwangsläufig auch zu administrativem Versagen führen (vgl. ebd., S.13f.).
Im vorliegenden ESF-Programm geht es um die Bekämpfung des Schulversagens in Formdes Nicht-Erreichens formaler Abschlüsse, also um administratives Schulversagen. Bereitsim, dem ESF-Programm vorausgehenden, Pilotprojekt „Regionale Netzwerke gegenSchulversagen“ wurde von Olk (2008) eine Definition von Schulversagen entwickelt, dieebenso für das ESF-Programm und dessen wissenschaftliche Begleitung gelten soll undsomit auch als Definitionsgrundlage für diese Arbeit gilt. Danach liegt Schulversagen vor,wenn „ein Schüler oder eine Schülerin mit seinen oder ihren schulischen Leistungen deutlichhinter die durchschnittlichen Erwartungen an seine oder ihre jeweilige Klassenstufe undSchulform zurückfällt.“ (Olk 2008, S.24). Schulversagen ist somit eng verbunden mit demLehrerurteil, das von Lehrer zu Lehrer unterschiedlich ausfallen kann. Die Messung ist alsosubjektiv und nicht verlässlich. Die schulischen Mindestanforderungen sind nichtvergleichbar, da sie variieren (vgl. Tiedemann 1978, S.18).
Beim administrativem Schulversagen, werden verschiedene Formen des Versagens unterschieden: die Zurückstellung des Kindes vom Schuleintritt, Klassenwiederholungen, Abschulungen in eine niedrigere Schulform, Überweisung in eine Sonder- oder Förderschule und der verfehlte Schulabschluss durch Schulabbruch oder vorzeitigem Schulabgang nach der Vollschulzeitpflicht (vgl. Tupaika 2003, S.17).
In vielen Umfragen zum Thema Schulversagen werden geschlechtsspezifische Unterschiede verzeichnet, wobei die Mädchen weniger häufig versagen, als die Jungen (vgl. Olk/Speck 2008, S.14; vgl. Tiedemann 1985, S.33f.). Tupaika führt außerdem an, dass besonders Schüler von Sonderschulen vom Schulversagen gefährdet sind, sowie Schüler aus unteren sozialen Schichten (vgl. Tupaika 2003, S.27). Ebenso besonders betroffen sind Schüler mit Migrationshintergrund, wobei dieser Zusammenhang in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist (vgl. Olk/Speck 2008, S.15 nach Stanat 2006).
Der Forschungstand zum Phänomen Schulversagen weist nur wenige empirische Studien auf.In der Datenlage lässt sich, wie bei der Begrifflichkeit, eine Entwicklung hin zu denPhänomenen Schulverweigerung, Schulabsentismus, Schulschwänzen und Schulmüdigkeiterkennen, zu denen es in den vergangenen Jahren mehrere Studien gab (vgl. Olk/Speck 2008, S.13). Neben dieser mangelhaften Datenlage wird vor allem hinsichtlich des Ursache- Wirkungs-Gefüges von Schulversagen Forschungsbedarf gesehen (vgl. Olk 2008, S.23).
2.2 Bedingungsfaktoren von Schulversagen
In der Fachliteratur finden sich verschiedene Ansätze, Schulversagen zu begründen. Sie lassen sich darin unterscheiden, ob sie das Phänomen eher extern oder intern begründen. Die externe Begründung sieht den Schüler nur als Symptomträger und führt dessen Versagen auf problematische Beziehungsgefüge mit seiner Umwelt zurück. Hier trägt der Schüler keine Verantwortung für das Schulversagen. Dem gegenüber stehen interne Begründungen, die die Verantwortung für das Versagen vollständig beim Schüler sehen. Diese waren jedoch eher in der pädagogischen Geschichte verbreitet, reichen jedoch noch in die Alltagstheorien der beruflichen Praxis hinein (vgl. Tupaika 2003, S.14).
Existieren auch unterschiedliche Ansätze bezüglich der Bedingungsfaktoren von Schulversagen, so ist man sich in der aktuellen Fachdiskussion dennoch größtenteils einig, dass Schulversagen aus einem mehrdimensionalen, multifaktoriellen Bedingungskomplex entsteht (vgl. Olk 2008, S. 20 nach Stamm 2006, S.326). Demnach lässt es sich nicht auf einzelne Bedingungsfaktoren zurückführen, sondern entsteht durch das Zusammenwirken vieler Faktoren (vgl. ebd., S.27). Um eine Übersicht über diese zu erstellen, stellt sich das Phänomen als zu komplex dar, wodurch weitgehend Unklarheit über die genauen Ursachen von Schulversagen besteht (vgl. Tiedemann 1985, S.295). Sowohl individuelle, kontextuelle, interaktionelle Bedingungskonstellationen, als auch institutionelle, milieuspezifische und gesellschaftstrukturelle Faktoren nehmen ihren Einfluss. Die Schule spielt dabei eine wichtige Rolle (vgl. Olk/Speck 2008, S.17 nach Stamm 2006).
2.3 Intervention
Um gegen Schulversagen vorzugehen, bedient sich die Schule, so Tupaika (2003), fast nur der oben erwähnten Selektionsstrategien des administrativen Schulversagens, also der Zurückstellung, Klassenwiederholung oder Umschulung. Individuelle Förderung scheint dabei eher nachrangig (vgl. Tupaika 2003, S.29).
Im Falle des Schulabbruchs gibt es für die Jugendlichen verschiedene Möglichkeiten, demHauptschulabschluss nachzuholen, etwa automatisch durch den nachträglichen Abschluss derBerufsschule oder über den so genannten zweiten Bildungsweg in Volkshochschulen oderAbendschulen. Sie können auch in einem Berufsvorbereitungsjahr einen, demHauptschulabschluss gleichwertigen, Abschluss erwerben. Daneben existieren verschiedene Schulversuche und Modellprojekte, die den Schulversagern Chancen für die Zukunft bieten können (vgl. ebd., S.31f.).
Die Maßnahmen gegen Schulversagen müssen den Schüler, dessen Umwelt, aber auch dasSystem Schule in den Blick nehmen, da die Bedingungsfaktoren, wie zuvor dargestellt, sehrvielfältig sind. Schulversagen lässt sich als Karriere verstehen, die einen Anfang, einenVerlauf und eventuell einen Endpunkt hat. Somit muss eine Strategie gegen Schulversagenprimär-, sekundär- und tertiärpräventive Komponenten einschließen (vgl. Olk 2008, S.71).Maßnahmen gegen Schulversagen müssen also möglichst frühzeitig einsetzen, um eineVerfestigung der Prozesse und Verhaltensmuster zu verhindern. Es bedarf der Festlegungeindeutiger Indikatoren um die von Schulversagen bedrohten Schüler zu erkennen undHandlungsabläufe um das Schulversagen zu verhindern (vgl. ebd., S.195). Die Maßnahmengegen Schulversagen sollten besonderes Augenmerk auf die Phasen der Übergänge zwischenden Schultypen legen, in denen ein erhöhtes Risiko des Schulversagens besteht.
3. Schulzozialarbeit - Kooperation von Jugendhilfe und Schule
Eine wesentliche Maßnahme um Schulversagen im Rahmen des ESF-Programms zuverhindern, ist die Schulsozialarbeit, als engste Form der Kooperation zwischen Jugendhilfeund Schule. Somit ist dieses Thema wichtiger Bestandteil der Einschätzungen desProgramms in den zu untersuchenden Interviews. Nachfolgend werden Grundsätze für dieKooperation von Jugendhilfe und Schule dargelegt, das Verhältnis von Jugendhilfe undSchule beschrieben, Schulsozialarbeit definiert und Forschungsstand und Praxisberichteaufgezeigt.
3.1 Grundlagen der Kooperation
In der Fachliteratur und öffentlichen Diskussion findet sich übereinstimmend die Ansicht,dass eine Kooperation von Jugendhilfe und Schule absolut sinnvoll und notwendig ist (vgl.Olk/Speck 2009, S.910). Es wird gefordert, diese Zusammenarbeit, etwa durchZielvereinbarungen, verbindlich zu regeln (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka 2006, S.40).Dafür existieren bereits verschiedene Kooperationsansätze und -vereinbarungen sowiegesetzliche Richtlinien.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) legt im § 81 des SGB VIII ausdrücklich undverpflichtend die Zusammenarbeit der Jugendhilfe mit der Schule fest. Jedoch ist nichtdefiniert, wie solch eine Zusammenarbeit aussehen soll. Das Schulgesetz des LandesSachsen-Anhalt fordert im § 1 Abs. 1,2,4, 4a und §12 die Schulen auf, mit Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe und anderen Einrichtungen, deren Tätigkeit sich wesentlich auf die Situation junger Menschen auswirkt, zu kooperieren Die Zusammenarbeit wird hier empfohlen, ist jedoch keine Pflicht (vgl. Olk 2008, S.28ff.).
Das Kultusministerium, das Ministerium für Gesundheit und Soziales und der Kinder- undJugendring des Landes Sachsen-Anhalt e.V. haben 2006 eine „Vereinbarung undEmpfehlungen zur Kooperation zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe gem. SGBVIII §§ 11-13 im Land Sachsen-Anhalt“ unterzeichnet, die die Kooperation zwischen beidenSeiten verstärken soll und zu einer offiziellen Zielsetzung des Landes Sachsen-Anhalt macht(vgl. Olk S.31).
Es existieren mehrere solcher Kooperationsvereinbarungen zwischen Jugendhilfe und Schule, jedoch scheinen sie oftmals eher Absichtserklärungen zu sein und beinhalten weniger konkrete Festlegungen (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka 2006, S.138f.).
3.2 Jugendhilfe und Schule
Die Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist viel diskutiertes Thema in der Fachdebatteund hat auch gesellschafts- und bildungspolitische Relevanz. Auf Schule und Jugendhilfelastet somit ein hoher öffentlicher Druck zu kooperieren und sich zu verändern, jedoch stehendem in der Praxis die unterschiedlichen Strukturen der beiden Systeme entgegen (vgl. Deinet2001b, S.200).
Deinet (2001) bezeichnet beide Systeme als stark geschlossen und auf sich selbst bezogen(vgl. ebd., S.199). Voraussetzung für eine Kooperation ist jedoch, dass sie sichsozialräumlich öffnen (vgl. Deinet 2001a, S.11). Es fehlt ihnen an Kenntnissen über denjeweils anderen, so dass sie vom Gegenüber mehr erwarten, als dieser leisten kann. Sie sehensich gegenseitig nicht als Kooperationspartner, sondern suchen beim Anderen Hilfen, um daseigene System zu stabilisieren. Diese Voraussetzungen führen zu einem Ungleichgewicht inder Kooperation (vgl. ebd., S.15).
Jugendhilfe und Schule verfolgen Ziele, die sich ergänzen, nämlich die Aufwachsens- undEntwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen zu verbessern und haben beide die gleiche Adressatengruppe (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka 2006, S.54, vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.14). Durch diese Überschneidungen ist eine Konkurrenz zwischen beiden Professionen zu erwarten, wenn nicht die Bereitschaft zur Kooperation vorhanden ist (vgl. Speck 2009, S.100).
Jedoch verfolgen sie im Detail unterschiedliche Funktionen und Arbeitsaufträge, aus denenein unterschiedliches Selbstverständnis und unterschiedliche Handlungsmethoden der beidenProfessionen enstehen. In der Praxis führt dies zu Fehleinschätzungen des Anderen, aufgrund verfestigter Vorurteile, zu Missverständnissen und zu Konflikten (vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000, ebd., S.7).
Allerdings herrscht bereite Einigkeit über die Notwendigkeit der Kooperation beiderSysteme. Ihr Ziel, die Förderung der Kinder und Jugendlichen, können beide nicht ohne denAnderen erreichen (vgl. Steinmetz-Brand 2006, S.269f.). Soll die Kooperation erfolgreichsein, müssen sich beide über die gemeinsamen Aufgaben verständigen und Möglichkeitenfinden, ihre Ressourcen und Leistungen zu verknüpfen (vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000,S.14). Schule muss sich dafür nach innen, in ihren Strukturen gegenüber der Lebenswelt derSchüler und nach außen, gegenüber dem Sozialraum und außerschulischen Lernorten, öffnen(vgl. Olk/Speck 2008, S.24). Die Jugendhilfe muss, will sie einen lebensweltorientiertenAnsatz verfolgen, auch die Lebenslage als Schüler mit einbeziehen, da die Schule einzentrales Lebensfeld der Kinder ist und darf sich nicht nur auf die außerschulischen Bereichebeschränken (vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.8).
Bei erfolgreicher Kooperation der beiden Professionen verstärken sich deren Unterstützungsprozesse gegenseitig und die Arbeitsteilung bringt beiden Seiten Entlastung (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka 2006, S.140).
3.3 Schulsozialarbeit
In der Vergangenheit bezeichnete der Begriff Schulsozialarbeit alle Formen derZusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule, heute ist die Schulsozialarbeit jedoch eineigenständiges Angebot der Jugendhilfe (vgl. Olk/Speck 2009, S.913). Schulsozialarbeit istdemnach ein Arbeitsfeld an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Schule (vgl. Speck 2009,S.9) und stellt die engste Form der Zusammenarbeit der beiden Institutionen dar (vgl. ebd.,S.31). Heute ist man sich in der Fachdebatte einig, dass ein hoher Bedarf an Schulsozialarbeitbesteht. (vgl. Speck 2009, S.13).
In der Literatur finden sich jedoch unterschiedliche Definitionsversuche vonSchulsozialarbeit. Im Rahmen der Arbeiten zum ESF-Programm und somit auch alsGrundlage für diese Arbeit, wurde sich auf eine Definition von Schulsozialarbeit festgelegt,die diese als ein Angebot der Jugendhilfe beschreibt, „bei dem sozialpädagogischeFachkräfte kontinuierlich am Ort Schule tätig sind und mit Lehrkräften auf einergleichberechtigten Basis zusammenarbeiten, um junge Menschen in ihrer individuellen,sozialen, schulischen und beruflichen Entwicklung zu fördern, sowie dazu beizutragenBildungsbenachteiligungen zu vermeiden und abzubauen, Erziehungsberechtigte undLehrerinnen bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen sowie zu einer schülerfreundlichen Umwelt beizutragen.“ (Olk 2008, S.202, vgl. Speck 2009, S.34 nach Speck 2006, S.23).
Das ESF-Programm verfolg dabei einen integrativen Ansatz der Schulsozialarbeit, bei dem im außerschulischen Bereich, aber auch einzelfallbezogen mit den benachteiligten Jugendlichen gearbeitet wird. Die Maßnahmen der Schulsozialarbeiter beziehen sich dabei immer auf das Ziel des Programms, Schulversagen und vorzeitigen Schulabbruch zu vermeiden (vgl. Olk 2008, S.202).
Neben der Förderung der Kinder und Jugendlichen, soll Schulsozialarbeit auch dasprofessionelle Handeln der Lehrer und so das Gesamtsystem Schule beeinflussen (vgl.Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.179). Die Lehrer sollen für die Lebenswelten der Schüler undfür sozialpädagogische Fragestellungen sensibilisiert werden, sowie fachliche Fortbildungenund Anregungen zu sozialpädagogischen Themen wahrnehmen können. Ebenso sollen dieSchulsozialarbeiter die Erziehungsberechtigten mit einbeziehen (vgl. Speck 2009, S.53f.).
Eine partnerschaftliche Kooperation zwischen Lehrern und Schulsozialarbeitern ist für eineerfolgsversprechende Erreichung der Ziele des ESF-Programms notwendig. In der Praxiszeigt sich jedoch, dass das Arbeitsverhältnis oft durch ein Hierarchie- und Machtgefällegekennzeichnet ist oder die Lehrer die Schulsozialarbeiter als Konkurrenten wahrnehmen, sodass eine Kooperation auf Augenhöhe schwer umsetzbar ist (vgl. ebd., S.101). Oft existierengegenseitige Vorbehalte und Vorurteile zwischen Lehrern und Schulsozialarbeitern (vgl.ebd., S.96). Für beide Professionen stellt die Kooperation eine Herausforderung dar, da sieihre Grenzen und Gewohnheiten teilweise aufgeben müssen, jedoch kann sie beiden Nutzenbringen und die Perspektiven der Beteiligten erweitern (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka2006, S.61). Die Schulsozialarbeiter benötigen für ihre Arbeit an den Schulen außerdemgeeignete Räumlichkeiten, um vertrauliche Gespräche mit den Schülern oder ihre offenenAngebote durchführen zu können (vgl. Speck 2009, S.92). Der Schulsozialarbeiter kann einfreieres Verhältnis zu den Schülern aufbauen, so dass diese ihn eher als Vertrauensperson beiProblemen wahrnehmen. Lehrern sind an dieser Stelle, aufgrund des, von derLeistungsbeurteilung bestimmten, Verhältnisses zu den Schülern, Grenzen gesetzt (vgl.Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.125).
3.4 Forschungsstand und Praxisberichte
Wie oben dargelegt, wird die Kooperation von Jugendhilfe und Schule in der Theorieeinheitlich verlangt, in der Praxis wird jedoch vielfach von problematischen Beziehungenberichtet. Bisher gibt es kaum empirisch abgesichertes Wissen über die Kooperation vonJugendhilfe und Schule (vgl. Olk/Speck 2009, S.910). Hinsichtlich der Wirkung der Schulsozialarbeit liefern existierende Studien unterschiedliche und teils widersprüchliche Ergebnisse, die je nach befragter Akteursgruppe variieren. Die bisher nur ansatzweise dasPhänomen erfassenden und methodisch unzureichenden Studien kennzeichnen einForschungsdefizit in diesem Bereich (vgl. ebd., S.921). Gleiches gilt für den Mangel anzuverlässigen Daten zur Entwicklung und Verbreitung der Schulsozialarbeit (vgl. Speck2009, S.16).
In einem Modellprojekt zur Schulsozialarbeit, das 1996 in einem Landkreis in Sachsen-Anhalt durchgeführt wurde, berichteten die befragten Schulsozialarbeiter, dass es einegewisse Anlaufzeit benötigte, um den Kontakt zu den Schülern aufzubauen. Sie versuchtenzwar, in der Schule den Kontakt zu einzelnen Schülern aufzunehmen und durch Präsenz aufsich aufmerksam zu machen, besseren Zugang zu den Schülern fanden sie aber über dieoffenen niedrigschwelligen Angebote (vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.111f.). Außerdembeschrieben sie, dass sie sich gegenüber den Lehrern in einer strukturell schwächerenPosition befanden und durch die Begrenztheit des Projektes die Lehrer den Sinn dieserSchulsozialarbeit in Frage stellten. Sie waren selber unzureichend über ihre Aufgabeninformiert, suchten nach Orientierung im Feld und mussten nun auch noch ihre Funktion inder Schule rechtfertigen (vgl. Olk/Bathke/Hartnuß 2000, S.119f.).
Auch die Sozialpädagogen im Praxisforschungsprojekt „Coole Schule: Lust statt Frust am Lernen“, das 2002 an fünf Standorten einen Schulversuch umsetzte, um schulverweigernde Jugendliche wieder in das Bildungssystem zu integrieren (vgl. Faltermeier/Bylinski/Glinka 2006, S.12), gaben an, dass sie sich gegenüber den Schülern als Neue legitimieren mussten und mit den Lehrern konkurrierten, denen die Schüler einen höheren Stand in der Hierarchie zuschrieben (vgl. ebd., S.59). Auch berichteten sie davon, dass die Schüler versuchten, die Lehrer und die Schulsozialarbeiter gegeneinander auszuspielen, wenn sie merkten, dass diese nicht als stimmige Einheit auftraten (vgl. ebd., S.52).
In qualitativen Interviews der wissenschaftliche Begleitung des Modellprojektes „RegionaleNetzwerke gegen Schulversagen“, das in Vorbereitung auf das ESF-Programm durchgeführtwurde, zeigten sich unter den Schüler unterschiedliche Wahrnehmungen derSchulsozialarbeiter. Einige gaben an, dass sie die Angebote nicht nutzen, da sie dieSchulsozialarbeiter als eine Sanktionsinstanz sehen, zu der die Lehrer sie hinschicken, wennes zu Regelverstößen kam. Die Nutzung der Schulsozialarbeiter bedeutet also eineStigmatisierung für die Schüler. Diejenigen, die die Angebote der Schulsozialarbeit nutzen,definieren diese Rolle neu und beschreiben sie positiv. Die Schüler scheinen dieSchulsozialarbeit demnach nur aufgrund ihrer Zuschreibung in der Schule wenigerwahrzunehmen (vgl. Olk 2008, S.190).
Zur Nutzung der Schulsozialarbeit zogen Olk/Speck (2009) aus empirischen Befunden verschiedener Begleitforschungen zur Schulsozialarbeit verallgemeinerbare Ergebnisse. Hierzeigte sich, dass nur ein Teil der Lehrer und Schüler engeren Kontakt zu denSchulsozialarbeitern hat und nur sehr wenige Eltern erreicht werden. Je spezifischer einAngebot der Schulsozialarbeit auf ein bestimmtes Problem bezogen ist, desto geringer wardie Nutzungsquote der Schüler. Weiteres Ergebnis ist, dass vor allem Schüler mit höherensubjektiven Belastungen, geringerem Selbstbewusstsein, größeren sozialen Auffälligkeitenund ungünstigeren familiären Unterstützungsressourcen die Angebote der Schulsozialarbeitnutzen. Lehrer und Schüler zeigen sich als zufriedenen mit der Schulsozialarbeit, wobei sichim Vergleich der einzelnen Akteursgruppen zeigt, dass mehr Kontakt auch zu mehrZufriedenheit mit der Schulsozialarbeit führt (vgl. Olk/Speck 2009, S.914f.).
4. Netzwerkarbeit
Neben der Schulsozialarbeit und bildungsbezogenen Angeboten ist die Schaffung von 14Netzwerkstellen in Sachsen-Anhalt, zur Vernetzung der beteiligten Akteure undInstitutionen, eines der Hauptmodule zur Erreichung der Ziele des ESF-Programms. Somit istauch die Netzwerkarbeit Bestandteil der Tätigkeiten aller Programmbeteiligten und spielteine relevante Rolle in der Einschätzung des Programms durch die interviewten Akteure.Daher soll nachfolgend kurz dargelegt werden, was unter Netzwerken zu verstehen ist,welche Aufgaben die Netzwerkkoordinatoren verfolgen und wie einzelfallbezogeneNetzwerke funktionieren.
4.1 Was sind Netzwerke?
In allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen finden sich Debatten zu Netzwerken. Es wird reichlich nach ihnen verlangt. Jedoch gibt es keine einheitliche Definition, was ein Netzwerk ist (vgl. Bienzle u.a. 2007, S.9).
Wohlfahrt (2002) definiert Netzwerke ähnlich, als „eine spezifische, auf einen längeren Zeitraum hin angelegte Kooperation mehrerer Organisationen zur Erreichung gemeinsam festgelegter Ziele und zum Gewinn von Mehrwert für die einzelnen Beteiligten.“ (Bienzle u.a. 2007, S.10 nach Wohlfahrt 2002, S. 39).
Die in diesem Zusammenhang interessierenden Netzwerke beruhen auf den Vorgaben desESF-Programms, das diese Vernetzung von Bildungsinstitutionen zeitlich begrenzt fördert.Ziel ist es auch, dass die so entstehenden Netzwerkstrukturen nach Beendigung desProgramms 2013 weiter bestehen können. Die vorliegenden Netzwerke sind demnach zeitlich auf eine relativ kurze Förderungsphase begrenzt, wodurch ein erhöhter Druck auf die Arbeit entsteht. Die organisatorische Grundlage ist eher fragil und die zeitlichen und finanziellen Ressourcen sind begrenzt (vgl. ebd., S.28).
Bei den Netzwerken die die Netzwerkstellen im Rahmen des ESF-Programms aufbauen sollen, handelt es sich um funktionale Netzwerke, die themenbezogen sind und alle für das Thema, in diesem Fall die Verhinderung des Schulversagens und des vorzeitigen Schulabbruchs, relevanten Akteure einer Region vernetzt (vgl. Olk 2008, S.212).
In den Netzwerken können die Akteure Kompetenzen und Erfahrungen austauschen, woraussie gegenseitigen Nutzen ziehen können (vgl. Bienzle u.a. 2007, S.37). Eine „Win-winSituation“ für alle Beteiligten wird angestrebt (vgl. ebd., S.71) Jedoch müssen die Beteiligtenauch einen Teil ihrer Autonomie aufgeben, um diesen zusätzlichen Nutzen durch dasNetzwerk zu erlangen (vgl. Olk 2008, S.41 nach Olk/Klein 2006, S.11). Die Netzwerkebedeuten für sie einen höheren Arbeitsaufwand und somit eine Zeitverknappung durch diezusätzlichen Aufgaben und Verpflichtungen (vgl. ebd., S.53 nach Schulenburg 2002, S. 7).Der Netzwerkakteur wird nur so lange in einem Netzwerk bleiben, so lange der Nutzen dieseKosten übersteigt (vgl. ebd., S.211).
4.2 Aufgaben des Netzwerkkoordinators
In den 14 Netzwerkstellen gegen Schulversagen im Land Sachsen-Anhalt werden, meist einoder zwei, Netzwerkkoordinatoren eingesetzt, die die Aufgabe haben, die für dieBekämpfung von Schulversagen relevanten Akteure der Region zu vernetzten.Der Netzwerkkoordinator plant, organisiert und überwacht die Netzwerktätigkeiten. Dabeimuss er sich flexibel auf wechselnde Anforderungen einstellen können. Idealerweise ist erein erfahrender Fachmann, der bereits Kontakte zu den relevanten Akteuren aufgebaut hatund von diesen geschätzt und respektiert wird. Die Unterstützung seiner Institution ist vongroßer Bedeutung. Auch diese sollte in dem Arbeitsfeld Erfahrungen aufweisen können (vgl.Bienzle u.a. 2007 S.57ff.).
Der Netzwerkkoordinator hat die Aufgabe, Arbeitskreise zu organisieren, in denen die gegenseitigen Erwartungen, Ziele und Arbeitsformen der verschiedenen Akteure kommuniziert werden, um Konflikte oder das Fehlen von Informationen zwischen den Beteiligten zu vermeiden (vgl. Olk 2008, S.55).
Da die Akteure nur solange in einem freiwilligen Netzwerk verbleiben, solange sie für sicheinen höheren Nutzen daraus erzielen, als sie Aufwand investieren, ist es wichtig, dass derNetzwerkkoordinator den Nutzen für die einzelnen Akteure sichtbar macht und die Kosten sogering wie möglich gehalten werden (vgl. Bienzle u.a. 2007, S.71; vgl. Olk 2008, S.211).
4.3 Einzelfallbezogene Netzwerkarbeit
Bisher ging es in diesem Abschnitt um funktionale Netzwerke im Rahmen der Arbeit derNetzwerkstellen des ESF-Programms. Daneben existieren störungsbezogene Netzwerke, diein Einzelfällen relevant sind. Hier vernetzt der so genannte Case Manager Akteure, die einspezifisches Problem eines Einzelfalls bewältigen sollen. Nach Erfüllung dieser Aufgabe löstsich das Netzwerk wieder auf (vgl. Olk 2008, S.91f.). Im Zusammenhang des ESF-Programms ist der Case Manager meist der Schulsozialarbeiter in den Einzelschulen. DasSchulversagen der Schüler entspringt individuellen Problemlagen und muss daher ineinzelfallbezogener Netzwerkarbeit bearbeitet werden. In den Einzelschulen müssenInformations- und Rückmeldesysteme installiert werden, die absichern, dass Fälle vonSchulversagen wahrgenommen und an zuständige Stellen weitergeleitet werden, die dann infestgelegten Verfahren ein störungsbezogenes Netzwerk aufbauen und umsetzen und diepassenden Akteure für das Erreichen der Ziele finden. Es bedarf klar geregelterHandlungsroutinen für diese Abläufe. In diesem Case Management sind die verschiedenenFachkräfte mit ihren Spezialisierungen beteiligt, so dass ein Netzwerk aus verschiedenenUnterstützungsleistungen entsteht, um das Problem des Schülers zu lösen (vgl. ebd. S.57f.).Diese Aufgaben kann Schulsoziarbeit alleine nicht bewältigen. Daher ist die Funktion derSchulsozialarbeiter an den Schulen vielmehr eine vernetzende, damit Schule sich öffnen kannund Kooperationen entstehen können (vgl. ebd., S.94).
5. Das ESF-Programm und seine wissenschafltiche Begleitung
Nach diesem theoretischen Einblick in wesentliche Themenfelder, auf die sich die Arbeit der Interviewten und somit deren Einschätzungen der Umsetzung des Programms beziehen, soll nun ein kurzer Überblick über das ESF-Programm „Projekte zur Vermeidung vom Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ in Sachsen-Anhalt gegeben werden. Dabei wird auf die Umstände seiner Schaffung eingegangen, auf die Bestandteile und Ziele des Programms und auf dessen wissenschaftliche Begleitung, in deren Rahmen die vorliegenden Experteninterviews geführt wurden.
5.1 Hintergründes des ESF-Programms
Strukturfonds haben die Funktion, durch Kofinanzierungen von Kapital- undHumankapitalinvestitionen die Unterschiede im Lebenstandard zwischen den Bevölkerungender EU zu verringern. Einer von vier existierenden Strukturfonds ist der Europäische Sozialfonds, abgekürzt ESF, der das Ziel hat, die europäischen Beschäftigungsstrategien zu unterstützen, was auch über das Bildungssystem erreicht werden soll (vgl. Europäischer Rechnungshof 2006, S.9).
Dem vorliegenden ESF-Programm voraus ging die Übereinkunft des Europäischen Rates in Rahmen der Lissabon-Agenda von 2000, dass die Mitgliederstaaten den Prozentsatz der Jugendlichen, die vorzeitig die Schule verlassen, bis 2010 mindestens halbieren sollen, was eine Reduzierung von 19,3% auf höchstens 10% bedeutet (vgl. ebd. S.4).Sachsen-Anhalt verzeichnete 2004 eine Schulabbrecherquote von 12%, wobei Jungen und Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders betroffen waren. Im Bundesvergleich wies das Land eine der höchsten Raten der Schüler auf, die ohne Abschluss der Sekundarstufe I die Schule verlassen. Bis 2013 will das Land eine Quote von 8,6% erreichen und diesen Rückgang nachhaltig sichern (vgl. Olk/Speck 2008, S.5).
Dies wurde im Landtag von Sachsen-Anhalt diskutiert und auch im Koalitionsvertrag vonCDU und SPD von 2006 als eine zentrale Aufgabe der Koalition aufgegriffen (vgl.Koalitionsvertrag von CDU und SPD 2006, S.19). Es wurde vereinbart, ein Programm zurSchulsozialarbeit zu entwickeln und finanzielle Ressourcen aus ESF-Mitteln im Kontext vonProgrammen zur Vermeidung von Schulverweigerung zu beantragen (vgl. Olk/Speck 2008,S.7).
Aufbauend auf diesen Zielvorgaben hat das Ministerium für Gesundheit und Sozialeszusammen mit dem Kultusministerium das ESF-Programm „Projekte zur Vermeidung vonSchulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ für die Strukturfondsperiodevon 2007 bis 2013 ins Leben gerufen. Zur Verfügung stehen 59 Millionen Euro, die fürMaßnahmen zur Senkung der Schulabbrecherquote und der Quote derJahrgangswiederholungen genutzt werden sollen. Das Programm begann am 01.01.2009 unddauert bis 2013 an (vgl. www.schulerfolg-sichern.de, Stand 25.04.2010, 21.39).
Dem Programm voraus ging das Modellprojekt „Regionale Netzwerke gegen Schulversagen“ in den Regionen Schönebeck und Stendal, in dem Untersuchungen zu effektiver Netzwerktätigkeit durchgeführt wurden (vgl. Olk 2008, S.7). Weitere Erfahrungen konnten durch das Projekt „Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe - Schulsozialarbeit in Schulen Sachsen-Anhalts“ von 1998 bis 2003 in 70 Schulen des Landes gesammelt werden. Hierbei ging es um die Gelingensbedingungen einer erfolgreichen Kooperation von Jugendhilfe und Schule (vgl. Olk/Speck 2008, S.24). Den, an der wissenschaftlichen Begleitung dieser beiden Projekte Beteiligten, unterliegt auch die Leitung der wissenschafltichen Begleitung des vorliegenden ESF-Programms.
Auch die Projekte aus dem BMFSFJ-Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ wurden in die aktuelle ESF-Förderperiode übrführt und können somit ihre Arbeit fortsetzen(www.zweitechance.eu, Stand 26.04.2010).
5.2 Programmziele und Programmbestandteile
Das ESF-Programm verfolgt vier festgelegte Ziele:
§ Es sollen 14 regionale Netzwerkstellen gegen Schulversagen im Land Sachsen-Anhalt installiert werden.
§ Das Programm soll jährlich 48.000 Schüler erreichen und somit ungefähr 15% derSchüler des Landes. Dieses Ziel soll bis 2009 schrittweise erreicht werden.§ Die Quote der Schüler ohne Hauptschulabschluss, die so genannteSchulabbrecherquote, soll von 12% auf 8,6% reduziert werden.
§ Die Zahl der Jahrgangswiederholungen soll im Vergleich zum Schuljahr 2004/2005halbiert werden (vgl. Olk/Speck 2008, S.28).
Um diese Ziele umzusetzen wird eine Strategie, bestehend aus drei Modulen, verfolgt. Imersten Modul sollen 14 regionalen Netzwerkstellen gegen Schulversagen aufgebaut werden,mit in der Regel einem Netzwerkkoordinator, der eingesetzt wird. Im zweiten Modul wird anden Schulen ein bedarfsorientiertes sozialpädagogisches Unterstützungsangebot in Form vonSchulsozialarbeit installiert, das mit den Netzwerken kooperieren soll (vgl. Operationelles Programm ESF Sachsen-Anhalt 2007, S.107). Im Jahr 2008 sollten circa 100
Schulsozialarbeitsprojekte begonnen werden, 2009 sollten etwa 150 existieren und 2010 etwa170. Die Schulsozialarbeiter sind für die Schule die Verbindung zur regionalenNetzwerkstelle, um Ergebnisse aus der Netzwerkarbeit in die Einzelschule weiterzugeben(vgl. Olk 2008, S.203). Das dritte Modul umfasst bildungsbezogene Angebote, dieschulintern, schülübergreifend oder außerhalb von Schule angesiedelt sein können, sowiegezielte Lehrerfortbildungen, die dazu dienen sollen, gefährdete Schüler zu identifizieren, inden Netzwerkstrukturen zu arbeiten und Handlungskompetenzen zu verbessern. Es wurdedavon ausgegangen, dass jährlich circa 200 dieser bildungsbezogenen Maßnahmen umgesetztwerden (vgl. vgl. Operationelles Programm ESF Sachsen-Anhalt 2007, S.107). DieseAngebote bieten den Schulen zusätzliche Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten, umSchulversagen zu bekämpfen (vgl. Olk 2008, S.206; vgl. Olk/Speck 2008, S.28).
Zur Umsetzung der oben genannten vier Hauptziele verfolgen die drei Module spezielleAufgaben. Die Netzwerkstellen sollen ein regionales Konzept und Unterstützungssystemgegen Schulversagen entwickeln und dieses mithilfe der Vernetzung der örtlichen Akteure nachhaltig umsetzen. Die bedarfsorientierte Schulsozialarbeit soll zur Integration und Förderung der Schüler beitragen um soziale Benachteiligung und individuelleBeeinträchtigungen auszugleichen und zu überwinden und so den vorzeitigen Schulabbruchzu verhindern. Durch die bildungsbezogenen Angebote sollen Schüler, Lehrer und Schulenangesprochen werden und Einzelfallintervention, präventive Ansätze und regionaleStrukturen verankert werden, um die Schulabbruchsquote zu senken (vgl. Olk/Speck 2008,S.32).
5.3 Wissenschaftliche Begleitung des ESF-Programms
Um das vorliegende ESF-Programm zu steuern und die Feinheiten abzustimmen, wird es wissenschaftlich begleitet. Diese Begleitung unterliegt der Leitung von Prof. Dr. Thomas Olk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Dr. Karsten Speck von der Universität Potsdam.
Ergebnis dessen soll eine Evaluation der Ziele und Wirkungen, sowie die Überprüfung der Effizienz und Qualität des Programms sein. Außerdem sollen die Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Kooperation der beteiligten Akteure nach 2013 erarbeitet werden (vgl. Olk/Speck 2008, S.6). Feinziele der wissenschaftlichen Begleitung sind die Untersuchung der Effektivität und Effizienz des Programms, der Passung von Bedarf, Erwartungen und Zielen und der Rahmenbedingungen und Implementierung sowie des Prozessverlaufs und der Schlüsselprozesse (vgl. Olk/Speck 2008, S.33f.).
Diese Überprüfung der Umsetzung und Erreichung der Programmziele erfolgt inunterschiedlichen Modulen. Von Interesse im Zusammenhang mit dieser Arbeit, ist das ersteModul der wissenschaftlichen Begleitung, in dem qualitative und quantitative Erhebungenvorgenommen werden. Unter anderem sollen qualitative Fallstudien in vier ausgewähltenRegionen durchgeführt werden. Hierfür wurden Ende 2009, und werden nochmals 2011, dieNetzwerkkoordinatoren und Netzwerkmitglieder, die Schulsozialarbeiter, die Schulen unddie Projektträger mit bildungsbezogenen Angeboten in den jeweiligen Regionen befragt.Geplant sind insgesamt 28 Experteninterviews oder Gruppendiskussionen, um so dieRahmenbedingungen und die Implementierung, den Prozessverlauf und die Ergebnisse undWirkungen aus der subjektiven Sicht der Programmbeteiligten einschätzen zu können (vgl.Olk/Speck 2008, S.41f.).
6. Empirischer Teil
Im nachfolgenden empirischen Teil sollen vier Experteninterview mit Beteiligten des ESF-Programms aus einer kreisfreien Stadt in Sachsen-Anhalt verglichen und ausgewertetwerden, um aus den Aussagen Aufschluss darüber zu erlangen, wie sie dieRahmenbedingungen und Implementierung, den Prozessverlauf und die Ergebnisse undWirkungen des ESF-Programms „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zurSenkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ in Sachsen-Anhalt wahrnehmen. Hierfür sollzunächst das Erhebungsverfahren beschrieben werden, wobei der Expertenbegriff und dasExperteninterview näher dargestellt wird. Anschließend wird erläutert, welcheBesonderheiten bei der Auswertung zu beachten sind, bevor die einzelnenAuswertungsschritte nach dem Verfahren von Meuser und Nagel anhand der vorliegendenInterviews nachvollzogen werden. Es folgt eine Beschreibung und Interpretation derInterviews hinsichtlich verschiedener Schwerpunkte.
6.1 Erhebungsverfahren - Das Experteninterview
Auf die, im vorherigen Abschnitt erwähnten, Experteninterviews, die Ende 2009 im Rahmender wissenschaftlichen Begleitung für Fallstudien von vier Regionen erhoben wurden (vgl.Olk/Speck 2008, S.42), konnte für diese Arbeit zurückgegriffen werden, so dass vierExperteninterviews aus einer kreisfreien Stadt in Sachsen-Anhalt vorliegen, um mithilfedieser die Rahmenbedingungen und die Implementierung, den Prozessverlauf und dieErgebnisse und Wirkungen aus der subjektiven Sicht der Programmbeteiligten darlegen zukönnen.
Folgende Interviews liegen vor und sind im Anhang zu finden, wobei die Maskierung der Interviews im Rahmen dieser Arbeit beibehalten wurde:
§ Interview mit Frau Wiese - Schulsozialarbeiterin an einer Einzelschule
§ Interview mit Herrn Boss - Schulleiter einer am Programm beteiligten Schule
§ Interview mit Herrn Kreuz - Sozialpädagoge in einer Jugendwerkstatt
§ Interview mit Nancy Grimm/ Jürgen Grimm - Netzwerkkoordinatoren der Stadt
Diese Interviews wurden ausgewählt, da die verschiedenen Positionen der Programmbeteiligten versprechen, möglichst kontrastierende Einschätzungen aus verschiedenen Perspektiven zum Programm zu erhalten.
Vorgegangen wurde in Form eines Leitfadeninterviews, also eines nicht-standardisiertenInterviews, bei dem den Interviewten offene Fragen zu den, für die wissenschaftlicheBegleitung interessierenden, Themen gestellt wurden. Experteninterviews setzen einen Leitfaden voraus, da sie gezielte Erkenntnisse über die Tätigkeiten der Experten erfassen sollen. Der Leitfaden soll jedoch bei der Interviewführung flexibel gehandhabt werden (vgl.Meuser/Nagel 1994, S.184; vgl. Gläser/Laudel 2009, S.107; vgl. Meuser/Nagel 2003, S.483).Anhand der geführten Interviews ist ersichtlich, dass dies der Fall war. Der Leitfaden wurdeoffen und flexibel dem jeweiligen Interviewten angepasst und entsprechend der jeweiligenSchwerpunkte der Arbeit oder besonders interessierender Aspekte im Laufe des Interviews,variiert.
Der Experte soll als Interviewpartner Spezialwissen über das jeweils zu erforschende Themaliefern (vgl. Gläser/Laudel 2009, S.12). Dieses Expertenwissen hat er durch die Ausübungbestimmter Funktionen erworben, so dass nur Personen in dieser Funktion darüber verfügen(vgl. Meuser/Nagel 1994, S.180). Der Forscher verleiht den Personen, abhängig vomjeweiligen Erkenntnisinteresse und der Forschungsfrage, den Expertenstatus (vgl.Meuser/Nagel 2005, S.37; vgl. Meuser/Nagel 2003, S.483; vgl. Meuser/Nagel 1991, S.443).Bogner und Menz (2009) definieren den Experten als eine Person, die über technisches,Prozess- und Deutungswissen verfügt, das sich auf ein spezifisches Handlungsfeld bezieht, indem sie in relevanter Weise agiert. Es handelt sich also zum Grossteil um Handlungs- oderPraxiswissen (vgl. Bogner/Menz 2009b, S.73). Auf die Auswertung solches Sonderwissenüber die Umsetzung des ESF-Programms zielt die Fragestellung der Arbeit ab. DiesesWissen können nur die Programmbeteiligten liefern, wodurch diese als Experten zukennzeichnen sind und somit Experteninterviews vorliegen.
Der Experte dient dem Interviewer als Medium für dieses Sonderwissen und ist nicht dasObjekt der Untersuchung (vgl. Gläser/Laudel 2009, S.12). Dennoch sind sie meist Teil desHandlungsfeldes und somit auch Teil der interessierenden Sachverhalte, beziehungsweise deszu lösenden Problems (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.443, vgl. Meuser/Nagel 1994, S.182).Das Experteninterview gilt in der empirischen Sozialforschung als randständiges, wenigstrukturiertes Verfahren zur Erhebung von Hintergrundinformationen oder zur Exploration.Auch in der Methodenliteratur wird es im Vergleich zu anderen Methoden eher wenig bis garnicht erwähnt. Meist wird es auch nicht als eigenständiges Verfahren mit eigenemErhebungs- und Auswertungsverfahren dargestellt (vgl. Meuser/Nagel 1994, S.191; vgl.Meuser/Nagel 2003, S.482). In der Methodendiskussion ist das Experteninterview umstrittenund wenig anerkannt. Es wird als schmutziges Verfahren bezeichnet, das sich weder demqualitativen noch den quantitativen Paradigma eindeutig zuordnen lässt und das je nachUntersuchungsinteresse in seiner Offenheit und Strukturiertheit variiert (vgl. Trinczek 2009,S.225). In der Forschungspraxis wird es, im Vergleich zu dieser fachlichenVernachlässigung, jedoch wesentlich mehr eingesetzt, ob als eigenständiges Verfahren oder in einem Methodenmix. Es ist weit verbreitet, methodisch aber wenig reflektiert (vgl. Meuser/Nagel 2003, S.482, vgl. Meuser/Nagel 1991 S.441). Meuser und Nagel (2009) behaupten sogar, das Experteninterview sei eines der am häufigsten eingesetzten Verfahren der empirischen Sozialforschung (vgl. Meuser/Nagel 2009, S.35).
Unter dem Begriff des Experteninterviews finden sich in der Literatur jedoch auchverschiedene Verfahren, Konzepte und Versuche, ihm eine theoretisch-methodologischeFundierung zu geben. Wohl am populärsten ist der qualitativ orientierte Ansatz von Meuserund Nagel (1991), der auch Grundlage für die Auswertung der vorliegenden Interviews seinsoll.
6.2 Auswertung der Experteninterviews nach Meuser und Nagel
Bei der Auswertung der Experteninterviews sollen, allen Expertenaussagen gemeinsame, Erkenntnisse, Wissensstände und Deutungsmuster erarbeitet werden. Die Aussagen müssen im Kontext der Funktion und der Handlungsbedingungen des Experten betrachtet werden (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.452f.).
Wir können jedoch nicht kontrollieren, ob der interviewte Experte die völlige Wahrheit sagt.Man muss davon ausgehen, dass es sich um beschönigte Versionen handelt (vgl.Meuser/Nagel 1991, S.466). In diesem Zusammenhang ist der so genannte „Stakeholder-Effekt“ zu erwähnen, der bei der Auswertung der Interviews zu berücksichtigen ist. DieExperten sind Bestandteil des, mithilfe der Interviews untersuchten, Programms. Sie sindsomit von der Untersuchung betroffen und haben ein besonderes Interesse an denErgebnissen der Auswertung. Die wissenschaftliche Begleitung, in deren Rahmen dieInterviews durchgeführt wurden, kann somit als Kontrollorgan wahrgenommen werden,wodurch die Antworten verzerrt oder Sachverhalte positiver oder negativer dargestelltwerden, als sie eigentlich sind. Die Interviewten können durch diese Situation auch wenigerbereit sein, Auskunft zu geben (vgl. Wroblewski/Leitner 2009, S.260). Nehmen sie dasInterview als eine Art Prüfungsgespräch wahr, können sie auch dazu neigen, sich vor demInterviewer zu rechtfertigen oder Probleme zu verschweigen (vgl. ebd., S.266). Ein weitererEffekt, der bei Interviews auftreten kann, ist der Katharsiseffekt, bei dem der Interviewte dieBefragung nutzt, um die eigene berufliche Unzufriedenheit zu kompensieren, wodurch ervom Thema abweichen kann und die Rolle des Experten sich wandelt zu der Rolle derPrivatperson (vgl. Abels/Behrens 2009, S.169). Die Ergebnisse der Interviews könnenaußerdem durch Reaktivität, also durch die Reaktion des Interviewten auf die Art derFragestellung oder den Interviewer, verändert werden. Es gibt diverse Formen derAntwortverzerrung in Interviews, von der Verweigerung einer Antwort, über die sozial erwünschte Antwort, bis zu Verzerrungen durch die Umstände der Interviewsituation oder Reaktionen auf die Auftraggeber der Untersuchung (vgl. Schnell/Hill/Esser 2005, S.353f.). All diese Effekte können die Daten der Interviews verändern und sind daher bei der Auswertung zu beachten.
Nachfolgend soll nun die Auswertung der vier Interviews, anhand der Auswertungsschritte nach dem Verfahren von Meuser und Nagel, erläutert werden. Dieses Verfahren läuft in sechs Schritten ab: der Transkription, der Paraphrasierung, dem Bilden von Überschriften, beziehungsweise dem Kodieren, dem thematischen Vergleich, der soziologischen Konzeptualisierung und der theoretischen Generalisierung.
Zunächst wurde das Interview vom Tonband transkribiert. Dies betrifft meist nicht diegesamte Aufnahme, sondern nur die Abschnitte, die relevant sind für die Forschungsfrage(vgl. Meuser/Nagel 1991, S.455). Für diese Arbeit lagen die vier Interviews durch diewissenschaftliche Begleitung des Programms komplett transkribiert vor.Im zweiten Schritt, der Paraphrasierung, wurden, in anderen Worten, die Aussagen desExperten wiedergegeben. Anhand der Forschungsfrage erfolgte dies in thematischenEinheiten, aber nach der Chronologie des Gesprächs. So wurde das Material verdichtet,Themen getrennt und Relevanzen herausgearbeitet (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.456f.). In derParaphrasierung der vorliegenden Interviews wurden so, die für die Fragestellung relevanten,Texteinheiten ausgewählt und in ihren Kernaussagen wiedergegeben.
Anschließend wurden für die Paraphrasen der einzelnen Interviews Überschriften gebildet. Sprach eine Passage mehrere Themen an, konnten auch mehrere Überschriften vergeben werden. Dies geschah für jedes Interview einzeln und in der Terminologie des Interviewten. Die Textteile wurden danach innerhalb jedes Interviews thematisch nach den Überschriften geordnet (vgl. Meuser/Nagel 1991, 457f.).
Beim thematischen Vergleich wurden die Passagen der verschiedenen Interviews untereinander verglichen. Passagen zu gleichen Themen wurden zusammengebracht und die Überschriften wurden vereinheitlicht, jedoch blieben diese immer noch textnah (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.459).
Bei der anschließenden soziologischen Konzeptualisierung wurde sich von den Texten undderen Terminologie abgelöst und die Überschriften in soziologische Begrifflichkeitenübertragen. Es entstanden so Kategorien des gemeinsamen Wissens der Interviewten (vgl.Meuser/Nagel 1991, S.462). Die einzelnen Überschriften wurden dabei Kategorienzugeordnet, die sich aus der Fragestellung ergaben. So entstanden die drei Oberkategorien:Rahmenbedingungen und Implementierung, Prozessverlauf, sowie Ergebnisse undWirkungen. Die vereinheitlichten Überschriften wurden zu Unterkategorien. Unter
Rahmenbedingungen und Implementierung finden sich die Unterkategorien Start des Programms, Rahmenbedingungen im Bereich Schule, Rahmenbedingungen für bildungsbezogene Angebote, Konzept des Programms und Nachhaltigkeit und Weiterbestehen. Unter der Oberkategorie Prozessverlauf wurden die Themen Ausübung der Schulsozialarbeit, Kooperation von Schulsozialarbeitern und Lehrpersonal, Ausübung der Netzwerkarbeit und Ausübung der bildungsbezogenen Angeboten untergeordnet. Zu den Ergebnissen und Wirkungen gab es verhältnismäßig wenige Äußerungen durch die Interviewten, so dass diese Oberkategorie nicht weiter aufgespaltet wurde.
In der theoretischen Generalisierung wird sich von den Interviews gelöst und an die Theorie angelehnt. Es werden empirisch generalisierte Ergebnisse gezogen. (vgl. Meuser/Nagel 1991, S.463f.). Im Rahmen dieser theoretischen Generalisierung sollen nachfolgend, anhand der vorher festgelegten Kategorien, die einzelnen Aussagen der Interviewten dargelegt werden, interpretiert werden und untereinander verglichen werden, um daraus allgemeine Ergebnisse zur Einschätzung des ESF-Programms zu erhalten..
6.3 Rahmebedingungen und Implementierung
Um die Einschätzung der Rahmenbedingungen und der Implementierung des ESF-Programms durch die Programmbeteiligten zu untersuchen, wurden die Unterkategorien Startdes Programms, Rahmenbedingungen im Bereich Schule, Rahmenbedingungen fürbildungsbezogene Angebote, Konzept des Programms sowie Nachhaltigkeit undWeiterbestehen gebildet, zu denen nachfolgend die Aussagen der Akteure betrachtet werden.
6.3.1 Start des Programms
Zum Start des Programms beschreibt die Schulsozialarbeiterin, dass Probleme auftraten, da die Schule nicht als Ansprechpartner zur Verfügung stand und die Räumlichkeiten zunächst nicht zugänglich, aber auch nicht geeignet waren, als sie mit der Arbeit beginnen wollte. Es bedurfte viel Aufwand im Vorfeld, um die eigentliche Arbeit zu beginnen. Sowohl Schüler als auch Lehrer nahmen sie am Anfang kaum wahr. Die Strukturen, um arbeiten zu können, erarbeitete sie sich daher selbst und machte sich und ihre Angebote bekannt.
Der Schulleiter beschreibt, dass der Start des Programms zu langwierig war, da das Antragsverfahren so lange dauerte und so die Schulsozialarbeiter erst nach 1,5 Jahren an den Schulen waren. Sie hatten einen früheren Start eingeplant.
Der Sozialpädagoge gibt an, dass der Start des Programms sehr lange dauerte und er gehörthatte, dass es Probleme mit der Finanzierung gab. Die Konzepterstellung mit der Schulebeschreibt er als sehr gut, ebenso die Zusammenarbeit mit den Lehrern und Schulleitern von Beginn des Programms an. Probleme gab es, wie er gehört hatte, bei der Besetzung von Stellen, da man kein passendes Personal fand und in einer Schule auch mit den Räumlichkeiten.
Die Netzwerkkoordinatorin berichtet, dass dem Start des Programms ein langerVerwaltungsprozess vorausging, wodurch es sehr lange dauerte. Da alle Beteiligten, obwohlsie sehr motiviert waren und die Arbeit bereits geplant hatten, nun warten mussten, schätztsie den Start als nicht optimal ein. Als das Programm dann mit Verzögerung begann, dauertees eine Weile, sich wieder für die Arbeit zu motivieren. Auch der Netzwerkkoordinatorbestätigt, dass seine Motivation aufgrund der Wartezeit verschwunden war und es einegewisse Zeit brauchte, bis er sich wieder motiviert und in die Arbeit eingedacht hatte. DieSchulsozialarbeitsprojekte haben seiner Meinung nach gut begonnen. Zu den meistenSchulen bestanden bereits Kontakte aus vorheriger Zusammenarbeit, welche sie genutzthaben, um die Schulsozialarbeit erfolgreich einzuführen. Zu Beginn der Arbeit haben sie sichan allen Schulen der Stadt vorgestellt. Das Engagement der Schulleiter und Lehrer beschreibtdie Netzwerkkoordinatorin als sehr unterschiedlich. Sie erwähnt außerdem, dass mehrereBerufsanfänger in den neuen Stellen besetzt wurden, die sich erst noch im Arbeitsfeldorientieren mussten.
Die Schulsozialarbeiterin hatte somit Probleme beim Beginn der Arbeit. Sie traf auf das starkgeschlossene und auf sich selbst bezogene Schulsystem (vgl. Deinet 2001b, S.199), dasszunächst wenig offen für die sozialpädagogische Arbeit war. Solche Voraussetzungenkönnen zu einem Ungleichgewicht in der Kooperation führen (vgl. ebd., S.15) und die Arbeitund Zielerreichung des ESF-Programms behindern, wie im Kapitel zur Schulsozialarbeitausführlicher dargelegt wurde. Hinzu kamen der Mangel an passenden Räumlichkeiten, dieVoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit und Umsetzung der Angebote derSchulsozialarbeiter ist (vgl. Speck 2009, S.92). Hier zeigten sich Probleme beim Installierender Schulsozialarbeit in der Schule, die jedoch von den anderen Akteuren nicht bestätigtwerden. Diese beschreiben, wie der Sozialpädagoge und die Netzwerkkoordinatoren, dass dieSchulsozialarbeitsprojekte gut in der Schule angekommen sind oder die Zusammenarbeit mitden Akteuren in der Schule von Beginn an gut lief. Fraglich ist hier, ob es sich bei denBeschreibungen der Schulsozialarbeiterin um Probleme in einem Einzelfall oder einerEinzelschule handelt, die nicht verallgemeinerbar sind oder ob die anderenProgrammbeteiligten diese Probleme nicht direkt mitbekommen, da sie nicht so sehr imSystem Schule involviert sind, wie die Schulsozialarbeiterin.
Sowohl der Netzwerkkoordinator als auch der Sozialpädagoge bestätigen, dass es zu Beginndes Programms Probleme gab, passendes Personal zu finden und man auf teilweise auf Berufsanfänger zurückgriff, die sich erst noch im Arbeitsfeld orientieren mussten. Dies stellt ein erhöhtes Risiko für den reibungslosen und schnellen Beginn der Arbeit und der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure dar. Solche Programme müssen auch für Fachleute mit langjähriger Berufserfahrung attraktiv gestaltet werden, etwa durch längere Laufzeiten und vielversprechendere Perspektiven.
Einig sind sich die Programmbeteiligten weitgehend darin, dass der Start des Programms insofern problematisch war, als dass er sich stark verzögerte und durch denVerwaltungsaufwand zu lange andauerte. Wie die Netzwerkkoordinatoren berichten, führtdies zu einer Verringerung der Motivation der Beteiligten, die negative Auswirkungen aufdie Arbeit und die weiteren Investitionen der Akteure in das Programm haben kann.Allgemein lässt sich festhalten, dass sich Ansätze für Probleme der Zusammenarbeit vonSchulsozialarbeitern und Lehrern bereits zum Beginn des ESF-Programms zeigten, diejedoch anhand der vorliegenden geringen Anzahl an Interviews, in denen sichunterschiedliche Aussagen der Programmbeteiligten finden lassen, nicht über den Rahmendieser Einzelschule verallgemeinerbar sind. Eindeutiger ist jedoch, dass bei der Umsetzungsolcher sozialpädagogischen Arbeit in Programmen der Start besser vorbereitet sein muss,beziehungsweise der Verwaltungsaufwand geringer gehalten werden muss, damit es nicht zusolchen Verzögerungen kommt, die sich negativ auf die folgende Arbeit und Motivation derProgrammbeteiligten auswirken kann.
6.3.2 Rahmenbedingungen im Bereich Schule
Bezüglich der Rahmenbedingungen im Bereich Schule gibt die Schulsozialarbeiterin an, dass sie Aggressionen und Kämpfe unter den Lehrern, aber auch mit den Schülern wahrnimmt. Sanktionen sind hier Mittel, um Macht und Positionen zu verdeutlichen. Bei solch einem Umfeld sieht sie den Nutzen der Einzelfallhilfe in Frage gestellt.
Damit Schulversagen nicht so schnell zur Karriere wird, dürfe man, so der Schulleiter, dieSchüler nicht so früh in Sieger und Verlierer teilen. Auch sollte man die Schüler nicht allzuschnell in Förderschulen überweisen, anstatt zu versuchen, sie zu integrieren. Für sich siehter jedoch keine Möglichkeiten, an diesen Stellen entgegen zu wirken, vor allem nicht in demeinen Jahr Berufsvorbereitung, in dem die Schüler bei ihm sind. Schule soll den Schülernaußerdem mehr Angebote für den Freizeitbereich bieten, um so die Gemeinschaft zu fördern.Der Sozialpädagoge wünscht sich als Strukturveränderung in der Schulefächerübergreifenden Unterricht, stellt das Sitzenbleiben in Frage und äußerst sich für dieIntegration der Förderschüler. Die Behörden sollen außerdem die Lehrer motivieren undunterstützen, damit diese nicht überfordert sind. Außerdem sollen Lehrer freier über den Unterrichtsstoff entscheiden können und mehr Verantwortung und Wertschätzung der Arbeit entgegengebracht bekommen. Das schlechte Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit gilt es zu verbessern.
Die Netzwerkkoordinatoren machen Schulerfolg unter anderem davon abhängig, dass dieLehrer erfolgreich sind und sich geschätzt und respektiert fühlen. Da die Probleme an denSchulen unterschiedlich sind, kann man auch nicht einheitlich gegen Schulversagenvorgehen. Verschiedene Modelle mit der Problematik an den Schulen umzugehen solltenakzeptiert sein, damit die Schulen ihren individuellen, für den Einzelschüler erfolgreichen,Weg beschreiten können.
Die interviewten Programmbeteiligten äußerten somit, dass es Bedarf an Veränderungen derRahmenbedingungen in der Schule gibt. So vermutet die Schulsozialarbeiterin, durch dieproblematischen Umstände in der Schule, eine Behinderung der sozialpädagogischenMaßnahmen. Auch der Schulleiter sieht Veränderungen in der Struktur der Schule alsNotwendigkeit, um gegen Schulversagen vorzugehen. Die Programmbeteiligten scheinensomit das Verständnis zu haben, dass Schulversagen auch in der Institution Schule begründetist und dort etwas verändert werden muss, um erfolgreich gegen dieses Phänomenvorzugehen. Somit gehen sie einher mit der, in der Schulversagensforschung verbreitetenAnsicht, dass Schulversagen aus einem mehrdimensionalen, multifaktoriellenBedingungskomplex entsteht, bei dem auch die Schule ein wichtiger Faktor ist, derSchulversagen bedingt (vgl. Olk 2008, S.20 nach Stamm 2006, S.326). Es lässt sichschlussfolgern, dass die Programmbeteiligten, für eine erfolgreiche Bekämpfung vonSchulversagen, Bedarf darin sehen, dass die Rahmenbedingungen der Schule verbessertwerden. Sozialpädagogische Maßnahmen zur Bekämpfung von Schulversagen müssen somitauch die Schule und deren Struktur als Bedingungsfaktoren beachten.
6.3.3 Rahmenbedingungen für bildungsbezogene Angebote
Zu den Rahmenbedingungen der bildungsbezogenen Angebote äußert dieSchulsozialarbeiterin, dass grundsätzliches Interesse ihrerseits an diesen Angeboten besteht,ihr jedoch der Aufwand, die Gelder zu beantragen, dafür zu hoch ist. Für die Anträge hat sieneben der regulären Arbeit keine Zeit. Bei kurzfristigen Projekten ist dieses aufwendigeVerfahren auch nicht geeignet, da es zu lange dauert, bis Anträge bewilligt und Gelder bereitgestellt werden.
Der Schulleiter sieht bei den bildungsbezogenen Angeboten keine Probleme, gibt aber an, dass zu diesem Thema eine Reflexion erst noch erfolgen muss.
Der Sozialpädagoge berichtet, dass die bildungsbezogenen Angebote wenig genutzt werden und bisher nur wenige Anträge gestellt wurden. Sie selber haben keinen gestellt, da das Verfahren zu aufwendig war und neben der Schulsozialarbeit dafür bisher keine Zeit war.Die Netzwerkkoordinatoren schätzen die bildungsbezogenen Angebote in der Theorie als sehr sinnvoll ein, da so auch diejenigen, die nicht direkt am ESF-Programm beteiligt sind, die Möglichkeit haben, solche Angebote zu nutzen. In der Praxis bemängeln sie jedoch das zu aufwendige Antragsverfahren mit dessen langen Bewilligungszeiten. Diese Rahmenbedingungen beschreibt die Netzwerkkoordinatorin als sehr unzuverlässig. Die Angebote werden durch den hohen abschreckenden Verwaltungsaufwand nicht nachgefragt, obwohl sie in der Theorie als sehr gut befunden werden.
Hinsichtlich der Rahmenbedingungen der bildungsbezogenen Angebote zeigt sich ein relativeindeutiges Bild unter den Programmbeteiligten. Das Beantragungsverfahren erfordert einenzu hohen Aufwand, weist zu lange Bewilligungszeiten auf und ist unzuverlässig. Daherwerden die bildungsbezogenen Angebote bisher wenig genutzt, obwohl sie einen der dreiSchwerpunkte des Programms darstellen. Allgemein bedeutet dies, dass bei solchenProgrammen die Akteure vor den sozialpädagogischen Angeboten zurückschrecken, wennder Aufwand den potenziellen Nutzen zu übersteigen scheint. Daher müssen solcheAntragsverwahren schnell, simpel und effektiv sein, so dass die Beteiligten damit flexibelarbeiten können und nicht durch den abschreckenden zusätzlichen Verwaltungsaufwandbehindert werden.
6.3.4 Konzept des Programms
Bezüglich des Konzepts des ESF-Programms findet die Schulsozialarbeiterin es problematisch, dass solche Programme von außen an die Schule herangetragen. Sie können nur funktionieren, wenn sie von Grund auf im Schulsystem verankert sind.Nach Meinung des Schulleiters braucht es noch mehr Schulsozialarbeiter. Es muss andere Personalschlüssel geben, da es bisher zu viel Arbeit mit zu vielen Schülern für eine Person pro Schule ist. Die Schulsozialarbeit sollte auch mehr in den unteren Klassen und im Übergangsbereich von der Grundschule zur Sekundarschule präsent sein. Wichtig ist für ihn auch, die Eltern besser zu erreichen und in die Verantwortung zu ziehen. Dies sollte bei dem Versuch, Schulversagen zu verhindern, mehr berücksichtigt werden und die Schulsozialarbeiter sollten auch hierfür eingesetzt werden.
Der Sozialpädagoge wünscht sich ebenso einen stärkeren Fokus darauf, wie man die Elternerreichen kann, da er dort den Ursprung vieler Probleme sieht. Für ihn hat die Netzwerkstellezu wenig Stellen für die Anzahl der Schulen, die sie betreut. In der Netzwerkstelle hätte er gerne einen Vertreter der Kommune oder jemanden aus dem Kultusministerium gesehen, da der Fokus ihm so zu sehr auf der Jugendhilfe liegt und zu wenig auf dem System Schule. Er sieht es als problematisch, dass es bereits sehr viele Angebote gibt, in denen die Akteure eingebunden sind und es somit schwer ist, neue Partner für Netzwerke zu finden. Es existieren zu viele voneinander unabhängige Netzwerke.
Der Netzwerkkoordinator hält die Verringerung der Schulabbrecherquote und dieVermeidung des vorzeitigen Schulabbruchs für schulinterne Abläufe, auf dieSchulsozialarbeiter und Netzwerkstellen keinen Einfluss haben. Die Arbeit derSozialpädagogen wird somit an einem Ziel gemessen, dass nicht in ihrem Handlungsfeldliegt. Sie können lediglich die Rahmenbedingungen sicherstellen und Hilfen geben, aber daseigentliche Ziel liegt in der Kompetenz der Schule. Hier sieht er ein grundsätzliches Problemim ESF-Programm. Für die Netzwerkkoordinatorin bedeutet Schulerfolg nicht die Senkungder Quote auf festgeschriebene Zahlen, sondern den Schülern zu ermöglichen, bestmöglicheAbschlüsse zu bekommen, die Schule als erfolgreich zu erleben und zu vermitteln, dass sieetwas erreichen können. Dies sind die Dinge, die sie beeinflussen können. Sie beschreibtaußerdem, dass sie, aufgrund der 1,5 Stellen und der hohen Anzahl an zu betreuendenSchulen, in ihren Möglichkeiten sehr eingeschränkt sind und auf ressourcentechnische undpersonelle Grenzen stoßen. Die Netzwerkkoordinatoren betrachten es als sinnvoll, diebildungsbezogenen Angebote zu verwalten und zu vermitteln, da sie so die Schulen nachihren Bedarfen fragen können und ihnen auch direkt etwas bieten können. Sie plädieren füreine stärkere Regionalisierung solcher Angebote. Der Netzwerkkoordinator sieht ein Problemdarin, dass die Programme nur kurze Förderperioden von ein bis drei Jahren haben und dieSchulen die Motivation verlieren, mit solchen Projekten der Jugendhilfe zusammen zuabreiten, da so ständig Beziehungen abbrechen und man sich immer wieder auf neueeinlassen muss. Ohne dieses Problem zu lösen, werden Schulen und Jugendhilfe sich nichtauf gleicher Augenhöhe begegnen können, da der Schule immer vermittelt wird, dass derPartner sich nach einer bestimmten Zeit entzieht und sie alleine dastehen.
Mehrere Programmbeteiligte empfinden die Personalschlüssel als zu gering, für dieAnforderungen der Arbeit. Die Interviewten machen somit auf einen größeren Bedarf anPersonal, um den Anforderungen der Arbeit im ESF-Programm gerecht zu werden,aufmerksam.
Der Schulleiter betont, dass die Arbeit der Schulsozialarbeiter auch im Übergangsbereichzwischen Grund- und Sekundarschule verankert sein soll und geht somit einher mit der, inder Fachliteratur mehrfach vertretenden Ansicht, dass bei der Intervention von Schulversagen besonderes Augenmerk auf die Phasen der Übergänge zwischen den Schultypen gelegt werden soll, da in diesen ein erhöhtes Risiko für Schulversagen besteht (vgl. Olk 2008, S.72). Der Schulleiter und der Sozialpädagoge sprechen sich außerdem dafür aus, einen stärkeren Fokus auf die Elternarbeit zu legen, die im ESF-Programm bisher nicht ausreichend beachtet wurde, um gegen Schulversagen vorzugehen. Dies geht wiederum einher mit dem mehrdimensionellen multifaktoriellen Bedingungskomplex, auf den Schulversagen zurückgeführt wird und in dem auch das familiäre Umfeld der Schüler einen Faktor für Schulversagen darstellt. Wenn Schulversagen erfolgreich bekämpft werden soll, müssen die Eltern stärker eingebunden werden (vgl. Olk 2008, S.20 nach Stamm 20006, S.326). Hier äußern die Beteiligten ein Defizit im Konzept des Programms.
Die Netzwerkkoordinatoren halten die Verringerung der Schulabbrecherquote und die Verhinderung von Schulversagen, als Ziele des ESF-Programms, für Vorhaben die nur die Schule umsetzen kann und die die Schulsozialarbeiter und Netzwerkkoordinatoren nicht beeinflussen können, an denen ihre Arbeit jedoch gemessen wird. Ihrer Arbeit haben sie ein eigenes Verständnis von Schulerfolg zugrunde gelegt. Hier zeigt sich, dass sich die Programmbeteiligten teilweise von den Zielen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Konzepts des ESF-Programms distanzieren.
Die Netzwerkkoordinatoren sehen Sinn darin, die Verwaltung der bildungsbezogenen Angebote zu übernehmen, um bei Bedarf aktiv Angebote vermitteln zu können. Solch eine stärkere Regionalisierung der bildungsbezogenen Angebote könnte dazu beitragen, dass dieses bisher wenig genutzte Modul des Programms erfolgreicher wird. Die Akteure könnten somit das abschreckende Antragsverfahren umgehen, das sie als Grund für die wenige Nutzung der Angebote angaben.
Durch die vielen Projekte, die bereits vor dem ESF-Programm in diesem Arbeitsfeldexistierten und in denen die Akteure bereits eingebunden sind, stellt es sich als schwierigerdar, neue Partner für dieses Programm zu finden. Die Angebote stehen unstrukturiertnebeneinander. Hier wird die Arbeit der Netzwerkstelle erschwert. Außerdem verringern diekurzen Förderperioden der Programme die Motivation der Schulen, Kooperationeneinzugehen, da sie die Partnerschaften nicht als andauernd erleben. Hier zeigt sich eingrundsätzliches Problem solcher Programme. Die unstrukturierte Vielfalt verschiedenerAnsätze und die kurzen Förderperioden behindern die effektive Arbeit derProgrammbeteiligten.
6.3.5 Nachhaltigkeit und Weiterbestehen
Die Schulsozialarbeiterin fragt sich, was geschieht, wenn das Programm beendet ist. Sie siehtihre Aufgabe auch darin, den Lehrern Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln und Kontaktezu Institutionen der Jugendhilfe herzustellen, damit diese, nach Beendigung des Programms,auf dieses Wissen zurückgreifen können und eine nachhaltige Wirkung entsteht. Hierfürversucht sie Strukturen aufzubauen, die weiter bestehen können, wenn ihre Arbeit im ESF-Programm beendet ist. Daneben ist es wichtig für sie, zusammen mit anderen BeteiligtenMöglichkeiten zu erarbeiten, Teile des Programms weiter bestehen zu lassen.
Auch der Schulleiter plädiert dafür, Wege zu finden, das ESF-Programm zu verlängern, daetwa die Beendigung der Schulsozialarbeit in der Schule ein Loch hinterlassen würde, das dieLehrer nicht füllen können. Denkbar wäre für ihn, solche Maßnahmen zu einem Standard zumachen. Für die Nachhaltigkeit soll die Arbeit im Programm außerdem regelmäßig reflektiertund verbessert werden.
Dies ist auch die Ansicht des Sozialpädagogen, der meint, man müsse gut angelaufene Programmpunkte ausbauen und bei den weniger erfolgreichen abwägen, ob es sich lohnt, diese weiter zu führen. Ebenso ist er dafür, Wege zu finden, das Programm weiter zu finanzieren. Er hofft darauf, dass das Programm erfolgreich ist und somit seitens der EU die Notwendigkeit gesehen wird, es weiter bestehen zu lassen.
Auch die Netzwerkkoordinatorin stellt sich die Frage, wer sich um das Thema Schulversagen kümmert, wenn das ESF-Programm beendet ist. Sie waren sich mit anderen Akteuren einig, dass ihre Netzwerkarbeit sich nur lohnt wenn sie mindestens zehn Jahre andauert. In der jetzigen kurzen Förderperiode können lediglich die Akteure zusammengebracht und eine Idee für die Zukunft entwickelt werden. Auch fragen sie andere Beteiligte, wie es weiter geht, wenn das Programm 2013 beendet ist.
Unter den Programmbeteiligten sind das Weiterbestehen und die Nachhaltigkeit desProgramms also durchaus ein Thema. So stellen sie sich, oder ihnen andere Akteure, dieFrage, wie es nach 2013 weiter gehen soll. Die Schulsozialarbeiterin ist bemüht, in ihrerArbeit Strukturen aufzubauen, die zu einer nachhaltigen Wirkung des Programms führen,indem sie fortbestehen, wenn sie ihre Arbeit beendet hat. Sowohl sie als auch der Schulleiterund der Sozialpädagoge halten es für wichtig Möglichkeiten zu finden, das Programm weiterbestehen zu lassen und liefern teilweise konkrete Vorstellungen hierfür. Der Schulleiter gibtan, dass der Schule nach Beendigung des Programms die Schulsozialarbeit merklich fehlenwürde und nicht ersetzbar wäre. Diese scheint sich demnach in der Schule etabliert zu habenund merkbare Unterstützung zu liefern. Die Netzwerkkoordinatoren sehen in ihrer jetzigenArbeit, durch die kurze Förderperiode des Programms, eine sehr eingeschränkte Wirkung.
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- Quote paper
- Ricarda Albrecht (Author), 2010, Wie wird sozialpädagogische Arbeit im ESF-Programm „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs“ in Sachsen-Anhalt umgesetzt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213726
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