Der Aufsatz beschreibt im Sinne der teilnehmenden Beobachtung eigene Erfahrungen des Verfassers mit dem Kern-Schamanismus, die er 2012 bei einem Basis-Seminar der "Foundation for Shamanic Studies Europa" gesammelt hat. Im Anschluss daran versucht er, den Kern-Schamanismus aus kultur- und geisteswissenschaftlicher Sicht in den Blick zu nehmen. Schließlich wendet er sich der Frage zu, was man aus theologischer Sicht über diese Variante des Schamanismus sagen kann.
Paul Uccusic, Geschäftsführer der Foundation for Shamanic Studies Europa, antwortet auf diesen Aufsatz mit einigen Anmerkungen und Anregungen im Sinne eines eröffneten Dialogs.
Inhaltsverzeichnis
Kern-Schamanismus aus theologischer Sicht
1. Einleitung
1.1 Interesse
1.2 Anfängliche Zweifel
2. Eigene Erfahrungen
2.1 Was ist Kern-Schamanismus?
2.2 Das Basis-Seminar
2.3 Die Gruppe
2.4 Erlernte Techniken
2.4 Meine Erlebnisse
2.4.1 Allgemeine Eindrücke
2.4.2 Reise in die untere Welt
2.4.3 Krafttier-Tanz
2.4.4 Lakota-Steineorakel
2.5 Warum der Schamanismus hierzulande erfolgreich ist
2.6 Rückblick auf das Basis-Seminar
3. Multidisziplinäre Annäherungen
3.1 Die westliche Vorliebe für den Wachzustand
3.2 Was der Kern-Schamanismus nach eigenem Verständnis (nicht) ist
3.3 Deutungsmöglichkeiten
3.3.1 Aus ethno-psychologischer Sicht
3.3.2 Aus islamisch-philosophischer Sicht
3.3.3 Aus abendländisch-ästhetischer Sicht
3.4 Ergebnissicherung
4. Schamanismus aus theologischer Sicht
4.1 Kann ein Christ Kern-Schamanismus betreiben?
4.2 Die Frage nach dem Offenbarungscharakter der schamanischen Reise
4.3 Seelsorgerliches Gefahrenpotential?
4.4 Was Christen vom Schamanismus lernen können
4.4.1 Wiederentdeckung der Imagination
4.4.2 Wirkungen des Glaubens
4.4.2.1 Imagination und Heilung
4.4.2.2 Schamanisieren als geistlicher Übungsweg
4.4 Was Schamanen von der christlichen Theologie lernen könnten
5. Schluss
Antwort von Paul Uccusic, Geschäftsführer der Foundation for Shamanic Studies Europa
1. Einleitung
1.1 Interesse
Gegenwärtig lässt sich im Bereich alternativer Heilweisen und nicht-institutioneller religiöser Angebote eine Zunahme der Begriffe „Schamanismus“, „schamanisch“ oder „schamanistisch“ wahrnehmen. Was steckt dahinter? Wie kann man das, was dort angeboten bzw. in Anspruch genommen wird, aus wissenschaftlich-theologischer Sicht verstehen?
Um diesen Fragen nachzugehen, beschreibe ich im Folgenden beispielhaft ein Basis-Seminar der „Foundation for Shamanic Studies“ (im Wissen darum, dass es noch viele andere Varianten des Schamanismus gibt, die hier keine Beachtung finden) mit Hilfe der ursprünglich aus der Ethnologie stammenden Methode der „teilnehmenden Beobachtung“. Dann nähere ich mich den gewonnenen Erkenntnissen aus multidisziplinärer Sicht an, um auf die Frage „Womit haben wir es hier zu tun?“ eine vorläufige Antwort zu geben. Schließlich nehme ich eine theologische Perspektive ein und frage, was man aus dieser Sicht über den Kern-Schamanismus, wie ich ihn kennen gelernt habe, sagen kann.
1.2 Anfängliche Zweifel
Nachdem ich mich zum Zweck der teilnehmenden Beobachtung zu einem Basis-Kurs für „Kern-Schamanismus“ angemeldet hatte, spürte ich anfängliche Zweifel: Kann „man“ als Christ „einfach so“ schamanischen Rituale oder Techniken praktizieren?
Die Antwort auf dieser Frage hängt ja u.a. von der Frage ab, ob es sich bei dieser Form des Schamanismus um eine religiöse Veranstaltung handelt – und genau darin war ich mir zunächst nicht sicher, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit dem Thema „Schamanismus“ noch keine Erfahrungen gemacht, und in der Literatur sind zur Frage, ob „der“ Schamanismus eine Religion sei, sehr unterschiedliche Ansichten zu finden.
2. Eigene Erfahrungen
Für welches Angebot sollte ich mich entscheiden? Schamanische Ausbildungen und Anbieter gibt es mittlerweile sehr viele: Vom 2-Tages-Kurs bis hin zur mehrjährigen Ausbildung in kleinen oder großen Gruppen, von der Nordsee bis zum Alpenraum – das Angebot ist groß. Es gibt auch Schamanen, die sich nicht im Internet präsentieren und keine Werbung für sich machen; sie halten eben dies für ein Qualitätsmerkmal ihres Schamanentums.
Aber wofür entscheiden, wenn man einen ersten Eindruck gewinnen möchte? Bei der Recherche stieß ich in Internet-Foren immer wieder auf den sogenannten Kern-Schamanismus, der v.a. Anfängern empfohlen wird.
2.1 Was ist Kern-Schamanismus?
Also meldete ich mich für ein Basis-Seminar der „Foundation for Shamanic Studies“ an. Die besagte Foundation wurde 1987 von dem US-amerikanischen Anthropologen Michael Harner gegründet, der sich seit den 1960er Jahren mit schamanischen Kulturen und Phänomenen weltweit beschäftigt hat.[1] Die Foundation bietet relativ viele Ausbildungseinheiten[2] im Bereich des „Neoschamanismus“ an, des „neuen“ Schamanismus also, der nicht in traditionellen, indigenen Kulturen, sondern in westlich geprägten Kontexten praktiziert wird.
Harner war es, der das Konzept des „Core Shamanism“, zu deutsch „Kern-Schamanismus“, begründete: Er ging davon aus, die gemeinsame Grundlage vieler verschiedener schamanischer Traditionen darstellen und diesen Schamanismus dann im Sinne einer „Technik“ einfach und schnell an Menschen in westlich geprägten Gesellschaften weitergeben zu können. Kennzeichnend für den Kern-Schamanismus ist[3]:
1. Die weitgehende Entkleidung des Schamanismus von allen konkret-lokalen religiösen Vorstellungen (während in indigenen schamanischen Traditionen die religiösen Vorstellungen der Gemeinschaft in der Regel eine wichtige Rolle spielen)
2. Die Vorstellung, schnell und einfach die „schamanische Technik“ lehren und lernen zu können, etwa in einem zwei-tägigen Seminar (während es in traditionellen schamanischen Kulturen oft viele Jahre dafür braucht)
3. Der individuelle Einsatz der schamanischen Technik mit dem Ziel der Selbsterkenntnis, der Selbsthilfe oder der Heilung anderer (während die Arbeit des Schamanen in traditionellen schamanischen Kontexten oft in die Gemeinschaft als Ganze eingebunden ist)
4. Die Vorstellung, dass jeder Mensch grundsätzlich die Techniken des Schamanismus lernen kann (während es in vielen traditionellen schamanischen Kulturen eher wenige Menschen sind, die Schamane oder Schamanin werden)
5. Die Einführung standardisierter Begriffe und Vorstellungen, um über Schamanismus zu sprechen:
- Mit dem Begriff „nichtalltägliche Wirklichkeit“ (NAW) wird eine Wirklichkeit benannt, die es neben der „alltäglichen Wirklichkeit“ (AW) geben soll. Diese Welt stellt man sich in vielen schamanischen Traditionen als dreigliedrig vor: Es gibt eine untere, eine mittlere und eine obere Welt. Obere und untere Welt sind zeitlos, in der mittleren Welt verläuft die Zeit in gewohnter Weise. Hier, in der mittleren Welt, „überschneiden“ sich gleichsam die NAW und die AW.
- In der NAW gibt es „spirits“. Zum einen sind das die dem Schamanen wohlgesonnenen (von Ausnahmen abgesehen) Krafttiere, Lehrer, Helfer und andere Wesen der unteren und oberen Welt, die stets hilfreich sind und jederzeit um Rat gefragt werden können. Zum anderen sind es Wesen der NAW aus der mittleren Welt wie Pflanzengeister, Nixen, Zwerge, Ortsgeister usw., die in der Regel nur gegen eine Gegenleistung hilfreich sind. Alle diese spirits stehen für „Kräfte“, die das Leben des Schamanen oder des Klienten beeinflussen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Da man denjenigen, der sich schamanischer Techniken bedient, in nicht-traditionellen Kulturen nicht wirklich als „Schamanen“ bezeichnen kann, nennt man ihn im Kern-Schamanismus „shamanic practitioner“, zu deutsch etwa: „schamanisch Tätiger“. Harner schreibt dazu: Der Status Schamane „kann Ihnen nur von denjenigen bestätigt werden, denen Sie hinsichtlich Lebenskraft und Heilung zu helfen versuchen. Mit anderen Worten: Anerkannter Erfolg bei schamanischer Arbeit bestätigt, ob Sie tatsächlich ein Schamane geworden sind.“[4]
6. Als zentrale „Technik“ des Kern-Schamanismus gilt die schamanische Reise in „Trance“. (Was es damit auf sich hat, werden wir anschließend untersuchen.) Wichtig ist, dass diese Reise im Kern-Schamanismus von den monotonen Schlägen einer Trommel (und evtl. Rassel) eingeleitet und begleitet wird.
7. Als wichtigste Aufgabe gilt im Kern-Schamanismus das Heilen (während Schamanen und Schamaninnen in traditionellen Kontexten durchaus auch destruktive, krankmachende und kriegerische Aufgaben übernehmen konnten und können).
8. Auch die „Ausrüstung“, die zur schamanischen Arbeit benötigt wird, ist im Kern-Schamanismus gewissermaßen standardisiert und auf technische Aspekte reduziert: Man benötigt eine Trommel (evtl. Rasseln), eine Decke und ein Tuch zum Verdecken der Augen. (Im Unterschied dazu sind die Ritualgegenstände und Requisiten traditioneller Schamanen oft sehr kostbar, aufwändig hergestellt und mit reicher Symbolik und Ritualistik verknüpft.)
Mit einem Wort: Der Kern-Schamanismus beansprucht, die schamanische Technik „an sich“ ohne das „Beiwerk“ traditioneller Kulturen und Weltanschauungen vermitteln zu können. Den dort erforderlichen langen Ausbildungszeiten, teuren Utensilien und vielen komplizierten Ritualen wird die Funktion einer „Hemmschwelle“ attestiert, die letztlich dem Machterhalt des Schamanen dienen sollen, aber wenig zum „Schamanisieren“ selbst beitragen (so Paul Uccusic während des Basis-Seminars, s.u.).
Wichtig ist schließlich der Umstand, dass sich der Kern-Schamanismus selbst als „empirisch“ orientiert versteht, denn „tatsächlich verlässt sich der Schamane hauptsächlich auf Erfahrungen aus erster Hand, auf die Sinne, um Wissen zu erlangen.“[5] Dabei ist zu bedenken, dass hinter diesem empirischen Selbstanspruch die grundsätzliche Entscheidung steht, dass das, was man im schamanischen Bewusstsein erfährt, keine Fantasie ist: „Der Meisterschamane sagt niemals zu Ihnen, dass etwas, das Sie erfahren haben, nur Fantasie sei.“[6]
2.2 Das Basis-Seminar
Das Basis-Seminar, zu dem ich mich angemeldet hatte, fand vom 24.-25.2.2012 in den Räumen des „Zentrums für heilenden Klang“ in München-Sendling statt. Geleitet wurde es von Paul Uccusic, dem Direktor der „Foundation for Shamanic Studies Europa“, zusammen mit seiner Frau Roswitha. Für die beiden Tage wurde eine Seminargebühr von 140,00 € erhoben.
Paul Uccusic, der v.a. das Wort führte (seine Frau Roswitha schaltete sich ab und zu ins Gespräch ein, v.a. bei Rückfragen; sie ist „Koordinatorin“ der Foundation), war sichtlich routiniert. Er erklärte die Techniken mit verständlichen Worten, beantwortete alle Fragen und war trotz seines Alters (laut Selbstauskunft war er zum Zeitpunkt des Seminars 75 Jahre alt) sehr agil.
Mit der Theorie haben wir uns nicht lange aufgehalten, nach einer kurzen Vorstellungsrunde ging es direkt ans Trommeln. Allen psychologisierenden Fragen der Teilnehmenden (und das waren nicht wenige) entzog sich Uccusic konsequent, indem er uns den Rat gab, nicht so viel zu denken (denn der Schamanismus sei ganz einfach) und indem er auf das hohe Alter des Schamanismus (nach dem Dafürhalten einiger ca. 20-30.000 Jahre) im Gegensatz zum jungen Alter der Psychologie (ca. 150 Jahre) verwies: Er sähe keine Notwendigkeit, „spirits“ und andere schamanische Phänomene psychologisch zu deuten. Schamanismus würde auch ohne Psychologie funktionieren.
Methodisch gesehen bot das Seminar wenig Aufregendes. Der Ablauf war stets der gleiche: Nach einer konkreten Übung/Reise konnten einige aus der Gruppe freiwillig im Großplenum von ihren Eindrücken erzählen oder Fragen stellen. Ein Austausch in kleineren Gruppen war nicht vorgesehen, weiterführende Diskussionen kamen nicht auf, alternative Methoden der Gruppenarbeit wurden nicht angeboten, Moderationsmaterialien nicht verwendet. Die Rückfragen des Leiters waren ebenfalls routiniert: „Was habt ihr erlebt?“ und: „War es angenehm?“
Zwei (männliche) Helfer, die sich am Anfang als zur Foundation gehörend vorgestellt hatten, ergriffen während des Seminars zu keiner Zeit das Wort. Lediglich in den Pausen konnte man mit einem von ihnen ins Gespräch kommen. Ihr Handlungsauftrag beschränkte sich anscheinend darauf, die Trommeln zu schlagen.
2.3 Die Gruppe
Die Gruppe selbst (insgesamt waren es 26 Personen, drei weitere angemeldete Teilnehmende sind nicht erschienen) bestand überwiegend aus Frauen, etwa ein Drittel davon waren Männer. Einige junge Menschen waren dabei, die meisten waren mittleren oder fortgeschrittenen Alters. Unter den Teilnehmenden befanden sich nicht wenige aus dem therapeutischen (Krankenschwestern, ein Arzt, eine Psychologin) oder pädagogischen Bereich (Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen). Aus dem institutionell-religiösen Bereich war ich der einzige Vertreter. In der Vorstellungsrunde stellte ich mich als evangelischer Pfarrer und Theologe mit besonderem Auftrag für religiöse und geistige Strömungen vor.
Manche der Teilnehmenden waren sichtlich auf der Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen. Eine Teilnehmerin etwa fragte immer wieder nach Erfahrungen mit der Droge Ayahuasca (wobei Paul Uccusic davon abriet); einige Teilnehmende brachten einen breiten Erfahrungshintergrund mit (von Reiki bis zur Rückführungstherapie); anderer wiederum erzählten von ihrer Suche nach Identität, Selbsterkenntnis oder Hilfe.
Als Paul Uccusic relativ zu Beginn des Seminars die Frage stellte: „Wer glaubt an Geister – dass es sie wirklich gibt?“ (so war ungefähr der Wortlaut) meldeten sich geschätzte 80% der Teilnehmenden.
2.4 Erlernte Techniken
Das Seminar-Programm war dicht. So blieb wenig Zeit, das Erlebte im Plenum detailliert auszubreiten und zu besprechen. Insgesamt 12 Themen konnte ich in diesen zwei Tagen identifizieren. Nicht alle wurden praktisch erprobt, z.T. wurden dazu nur einige theoretische Ausführungen an die Hand gegeben.
Konkret vollzogen wurde (1.) das Trommeln als eine eigene erste Übung, (2.) die Reise in die untere Welt, (3.) der Krafttier-Tanz, (4.) das Lakota-Steineorakel, (5.) das Holen eines Krafttiers für andere, (6.) die Reise in die obere Welt und (7.) ein Ritual namens „Geister-Kanu“ der Pomo-Indianer. Über die Extraktion einer krankmachenden Kraft, über Kraftobjekte, Kraftorte, Fernbehandlungen und Seelenverlust/Seelendiebstahl wurde theoretisch informiert.[7]
2.4 Meine Erlebnisse
Die Forschungsmethode, auf die ich in meiner Arbeit oft zurückgreife, bezeichnet man als „teilnehmende Beobachtung“. Sie wurde in der Ethnologie entwickelt und umfasst eben diese zwei Tätigkeiten: Man nimmt teil und beobachtet dabei. Zur teilnehmenden Beobachtung gehört außerdem, die eigenen Erfahrungen und Beobachtungen aufzuschreiben und darüber nachzudenken. Daher werde ich im Folgenden einige allgemeine Eindrücke wiedergeben und dann drei der erlebten Techniken aus meiner Sicht näher beschreiben.
2.4.1 Allgemeine Eindrücke
Zunächst möchte ich das Gefühl und das Erleben der schamanischen Reise, wie ich sie erlebt habe, so gut wie möglich in Worte fassen. Während die Trommel geschlagen wird (für eine Dauer von ungefähr 15 bis 25 Minuten), liege ich mit geschlossenen Augen auf einer Decke. Schnell stellt sich ein Bewusstseinszustand ein, der in diesem Kontext als „Trance“ bezeichnet wird. Da der Begriff Trance oft fälschlicherweise mit Stichwörtern wie „Kontrollverlust“ und „Dämmerbewusstsein“ assoziiert wird[8], gilt es, diesen Begriff hier näher zu bestimmen:
Das Wort „Trance“ stammt vom lateinischen Wort „transire“ ab und bedeutet „hinübergehen“ oder „überschreiten“. Die Trance ist – das zeigen viele Untersuchungen – zunächst einmal ein völlig normaler und meist wacher Bewusstseinszustand, den jeder Mensch mehrmals täglich erfährt und als völlig normal erlebt – nur gebrauchen wir dafür in der Regel nicht das Wort Trance. Wer etwa beim Zugfahren über ratternde Gleise ins Gedankenlose abschweift, ist genau genommen für kurze Zeit in Trance (wenn auch in einer anderen Form der Trance als während der schamanischen Reise, insofern als das Schweben im Gedankenlosen nur wenig mit der zielgerichteten Aufmerksamkeit während des Schamanisierens zu tun hat).
Den Trance-Zustand während der schamanischen Reise erlebe ich als völlig wach.[9] Die schamanistische Trance war also für mich ein wacher Bewusstseinszustand. Ich war mir jederzeit darüber im Klaren, wo ich bin (ich liege auf einer Matte) und dass ich in Trance bin – anders als im Traum, während dessen man sich in der Regel nicht der Tatsache bewusst ist, dass man träumt (außer man beherrscht die Technik des „luziden Träumens“). Ich hatte also ein Gefühl der Kontrolle über mich und über das, was mit mir geschieht. Auch ändert sich in diesem Zustand das eigene Zeitgefühl. In Trance kann die Zeit sehr schnell oder sehr langsam vergehen.
Auf der Reise selbst kamen mir viele Gedanken, Wörter, Sätze und v.a. Bilder ins Bewusstsein. Sie formten sich zu einer Landschaft, von der ich persönlich sagen würde, dass sie vor meinem inneren Auge, also in meiner Imagination, entstand. Ich sah ihre Farben, hörte ihre Klänge, konnte riechen, fühlen, schmecken. Dabei hatte ich das Gefühl, mit dieser Landschaft absichtsvoll interagieren zu können: Wenn ich mir etwas vorstellen wollte, erschien es auch – und zugleich entstand manches von dem, was ich wahrnahm, ohne dass ich mir dessen bewusst war, es entstehen lassen zu wollen. Mein „westlicher“ Verstand sagte mir: Alles, was du siehst, kommt aus deiner Psyche, aus deinem Unterbewusstsein. (Was davon zu halten ist, werde ich noch erörtern!) Und gleichzeitig fühlte sich diese Welt echt an; sie war zudem sehr unterhaltsam, wenn nicht sogar abenteuerlich, denn es geschahen auf der Reise ganz und gar unerwartete Dinge; und das Erleben war sehr emotional: ich erlebte alle Gefühle intensiver als sonst, sei es Freude, Dankbarkeit, Ehrfurcht, Ermutigung oder Furcht.
Natürlich stellte sich uns als Teilnehmenden anschließend die Frage: War das, was ich gerade erlebt habe, wirklich eine schamanische Reise oder einfach nur ein gewöhnlicher Tagtraum? Als die Frage an Paul Uccusic gerichtet wurde, machte er auf die Unterschiede zwischen einer schamanischen Reise und einem Tagtraum aufmerksam: Die schamanische Reise verfolgt (1.) immer einen Zweck und führt (2.) zu einem konkreten Ergebnis, während ein Tagtraum oft ziellos ist. Beim Schamanisieren geht man (3.) für die Reise in die untere Welt durch eine Art „Tunnel“ bzw. für die Reise in die obere Welt durch eine Art „Trennschicht“ zwischen den Welten, während dieses Moment beim Tagtraum fehlt. Die schamanische Reise enthält außerdem oft (4.) überraschende Momente, während der Tagtraum meist eher vorhersehbar verläuft. Diese Merkmale unterscheidet die schamanische Reise eben von den meisten Tagträumen.
2.4.2 Reise in die untere Welt
Die erste Reise, die wir unternahmen, führte uns in die untere Welt. Mit der Richtungsangabe „unten“ ist im Kern-Schamanismus keine besondere symbolische Qualität oder Aussage verknüpft. Untere und obere Welt sind nicht mit Hölle und Himmel gleichzusetzen, es sind eher Kriterien zur Differenzierung und damit zur Orientierung in der NAW (so wie wir im Alltag etwa zwischen rechts und links unterscheiden). In manchen schamanischen Kulturen gäbe es auch mehrere untere oder obere Welten, also weitere Orientierungsansätze, wie uns erklärt wurde.
Die Reise in die untere Welt begann damit, einen Ort in der (imaginierten) Natur zu finden, der sich als Ausgangspunkt für die Reise eignete. Sei es ein Ort, den man schon einmal besucht hat (selbst wenn es ihn jetzt nicht mehr geben sollte), oder ein Ort, den man sich vorstellt, der aber in der AW nicht existiert.
An diesem Ort wurde nach einem Zugang nach unten gesucht: Sei es, dass man in einen Brunnen hinabkletterte, im Meer in die Tiefe tauchte, in eine Höhle hinabstiegt o.ä. Meistens bewege man sich dabei durch eine Art von Tunnel. Dieses Tunnelerlebnis sei entscheidend dafür, sich sicher sein zu können, in die unteren Welt zu reisen.
Am Ende des Tunnels öffnete sich mir eine Landschaft, ich betrat also die untere Welt. Ich sah Wiesen und Wälder, Berge, Flüsse und Seen, Tiere und Pflanzen. Besonders sollte dabei auf die Tiere geachtet werden: Welches Tier nähert sich mir oder verhält sich ungewöhnlich? Möglicherweise handelt es sich dabei um mein „Krafttier“. Wenn ich unsicher bin, kann ich das Tier fragen, ob es mein Krafttier ist (überhaupt könne man mit allen Wesenheiten der NAW kommunizieren, also auch mit Pflanzen, Steinen, Flüssen usw.). Solange die Trommel geschlagen wird, habe ich Zeit, mich weiter umzusehen und mit den „spirits“ zu sprechen. Als Regel wurde uns mit auf den Weg gegeben, dass Insekten und Spinnen niemals Krafttiere seien.[10]
[...]
[1] http://www.shamanicstudies.net/foundation/index.asp Stand: 29.2.2012.
[2] Zwischen März und September 2012 etwa sind es 39 Basis-Seminare,
vgl. http://www.shamanicstudies.net/seminare/seminare.asp#tabanfang Stand: 29.2.2012.
[3] Für das Folgende: Galina Lindquist: Shamanic Performances on the Urban Scene. Neo-Shamanism in Contemporary Sweden. Stockholm University - Department of Social Anthropology, Stockholm 1997.
[4] Michael Harner, Der Weg des Schamanen. Das praktische Grundlagenwerk zum Schamanismus, München, 2009, 26.
[5] Ebd. 83.
[6] Ebd. 82.
[7] Alle diese Techniken werden bei Harner beschrieben, siehe dort.
[8] Harner versucht diesen Begriff daher zu vermeiden, vgl. ebd. 87.
[9] So beschreibt es auch Harner, ebd. 88f.
[10] Nach Harner handelt es sich dabei um schädliche, krankmachende Eindringlinge, ebd. 166ff.
- Arbeit zitieren
- Haringke Fugmann (Autor:in), 2013, Kern-Schamanismus aus theologischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211775
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