Diese Feststellung mag vielleicht auch einer der Gründe dafür sein, warum das Thema „Brecht und der Marxismus“ so kontrovers in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit einem der bedeutensten Dichter und Dramatiker des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde – und auch immer noch wird. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet nun: Welche „Begriffe und Bezüge“ sind es, die dazu führen, dass 46 Jahre nach Brechts Tod immer noch keine Einigkeit darüber herrscht, in welchem Verhältnis Brecht zum Marxismus stand bzw. was dieses Verhältnis ausmacht? Und was lässt dieses Thema auch nach Jahrzehnten immer noch „ambivalent und fragwürdig“ erscheinen?
Schon 1971 brachte Grimm das Problem der Brechtforschung auf den Punkt: „Denn daß Brecht Marxist oder gar, nach seiner eigenen Definition, ein ‚parteiloser Bolschewik’ war, pfeifen die Spatzen von den Dächern; zu klären wäre, ‚wie Brecht Marxist war’.“2 Aber auch diese Frage ist nicht unproblematisch. Erscheint sie doch als etwas zu trivial, da offen bleibt, welcher Brecht, bzw. welche Phase seines Lebens gemeint ist. Auch wirft sie eine Vielzahl von abstrusen und widersprüchlichen Seiten des Dichters auf.3 Diese gehen wiederum einher mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. mit dem ‚schwarzen Freitag’ und der Inflation) in unterschiedlichen Ländern (Deutschland, den Ländern des Exils und seiner späteren Wahlheimat – der DDR) und unterschiedlichen politischen Systemen (Monarchie, Demokratie, Faschismus und Sozialismus). Auch spiegelt das Leben Brechts historisch höchst interessante, d.h. nervöse und stürmische „Epochen“ (das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, den real existierenden Sozialismus der DDR sowie den ‚Kalten Krieg’) wider, die ihn in seiner Entwicklung als Mensch und Künstler beeinflusst haben. Dynamik und Veränderung sind wesentliche Merkmale des Dichters, wie sich aus seinem Gedicht Vom armen B. B. entnehmen lässt: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“4
Neben den genannten Rahmenbedingungen ist ferner von entscheidendem Interesse, was denn überhaupt der Begriff Marxismus beinhaltet, welchen Umfang er annehmen kann und in welchem Zusammenhang – bezüglich der Person Brechts – er verwendet wird.
[...]
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
I. Einleitung
1. Fragwürdiges
2. Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise
3. Zur Ausgangslage und dem Wesen der Arbeit
II. Eine Lehre, die Lernen voraussetzt – Der Marxismus
1. Begriff
2. Quellen
3. Wesentliche Bestandteile und Werke
3.1 Dialektischer und Historischer Materialismus
3.2 Manifest der kommunistischen Partei
3.3 Das Kapital
4. Rezeption, Wirkung, Umsetzung
III. Brechts erste Berührungen mit marxistischen Ideen – Politische Motivation oder Abenteuer?
1. Brecht im Arbeiter- und Soldatenrat
2. Auf der Suche nach dem Weg
3. Brecht und die USPD
4. Zwischen Ideal und Wirklichkeit
IV. Darum hinein in das marxistische Studium. Marxistisches Wissen zeigt den Weg! – Brecht und die Marxistische Arbeiterschule (MASCH)
1. Von der Begeisterung zum Studium
2. Entstehung und Gründung der MASCH in Berlin
3. Ziele und Aufgaben der MASCH
4. Entwicklung der MASCH
V. Brecht im Spannungsfeld innermarxistischer Kontroversen
1. Lenin
2. Rosa Luxemburg
3. Karl Korsch
4. Fritz Sternberg
5. Erwin Piscator
6. In welcher Form wurde Brecht marxistisch beeinflusst?
VI. Ein Didaktiker des Marxismus ? – Der Einfluß des Marxismus auf Brechts zeitgenössisches Theater
1. Die Phasentheorie
2. Die Lehrstücke als politisch-ästhetische Experimente
2.1 Die Lehrstückphase
2.2 Der Hintergrund der Entstehung
2.3 Die Theorie der Lehrstücke
3. Die Maßnahme – Marxistisches Lehrstück oder Lehrstück des Marxismus?
3.1 Methodische Vorüberlegung zur Analyse und Deutung
3.2 Eigener Ansatz eines Deutungsversuchs der Maßnahme
3.2.1 Die Bühne als Lehr- und Lernort
3.2.2 Die Bühne begann zu erzählen
3.2.3 Epische Elemente als Mittel zur Strukturierung der Lerninhalte
3.2.4 Zur Kommunikation im Stück
3.3 Uraufführung
3.4 Reaktionen
3.5 Neuere Forschungsergebnisse und weiterführende Diskussion
VII. Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse
Literatur- und Quellenverzeichnis
Versicherung gem. § 18 (6) DiplPO
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Karl Marx im Gespräch mit französischen Arbeitern
Abbildung 2: Wahlplakat der USPD
Abbildung 3: Programm der MASCH für das Schuljahr 1928/29
Abbildung 4: Unterricht in der MASCH
Abbildung 5: Die Phasentheorie
Abbildung 6: Uraufführung der Maßnahme (1)
Abbildung 7: Uraufführung der Maßnahme (2)
I. Einleitung
1. Fragwürdiges
„Die Themenformulierung ‚Brecht und der Marxismus’ erweckt den Eindruck der Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Begriffe und Bezüge. Bei näherem Hinsehen wird indes rasch einsichtig, daß an diesem Thema eigentlich alles eher ambivalent und fragwürdig ist.“[1]
Diese Feststellung mag vielleicht auch einer der Gründe dafür sein, warum das Thema „Brecht und der Marxismus“ so kontrovers in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit einem der bedeutensten Dichter und Dramatiker des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde – und auch immer noch wird. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet nun: Welche „Begriffe und Bezüge“ sind es, die dazu führen, dass 46 Jahre nach Brechts Tod immer noch keine Einigkeit darüber herrscht, in welchem Verhältnis Brecht zum Marxismus stand bzw. was dieses Verhältnis ausmacht? Und was lässt dieses Thema auch nach Jahrzehnten immer noch „ambivalent und fragwürdig“ erscheinen?
Schon 1971 brachte Grimm das Problem der Brechtforschung auf den Punkt: „Denn daß Brecht Marxist oder gar, nach seiner eigenen Definition, ein ‚parteiloser Bolschewik’ war, pfeifen die Spatzen von den Dächern; zu klären wäre, ‚ wie Brecht Marxist war’.“[2] Aber auch diese Frage ist nicht unproblematisch. Erscheint sie doch als etwas zu trivial, da offen bleibt, welcher Brecht, bzw. welche Phase seines Lebens gemeint ist. Auch wirft sie eine Vielzahl von abstrusen und widersprüchlichen Seiten des Dichters auf.[3] Diese gehen wiederum einher mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. mit dem ‚schwarzen Freitag’ und der Inflation) in unterschiedlichen Ländern (Deutschland, den Ländern des Exils und seiner späteren Wahlheimat – der DDR) und unterschiedlichen politischen Systemen
(Monarchie, Demokratie, Faschismus und Sozialismus). Auch spiegelt das Leben Brechts historisch höchst interessante, d.h. nervöse und stürmische „Epochen“ (das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, den real existierenden Sozialismus der DDR sowie den ‚Kalten Krieg’) wider, die ihn in seiner Entwicklung als Mensch und Künstler beeinflusst haben. Dynamik und Veränderung sind wesentliche Merkmale des Dichters, wie sich aus seinem Gedicht Vom armen B. B. entnehmen lässt: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“[4]
Neben den genannten Rahmenbedingungen ist ferner von entscheidendem Interesse, was denn überhaupt der Begriff Marxismus beinhaltet, welchen Umfang er annehmen kann und in welchem Zusammenhang – bezüglich der Person Brechts – er verwendet wird. Bezieht sich die Bezeichnung ‚marxistisch’ auf philosophische oder auf ökonomische Inhalte, bezeichnet sie eine Ideologie, die aus den Werken Marx` als Gesamtheit hervorgeht, oder bezieht sie sich jeweils kontextbezogen auf ganz spezielle Werke bzw. Lehren, wie z.B. Das Kapital oder das Kommunistische Manifest. Und in welcher Relation wird diese Bezeichnung bezüglich Brecht verwendet? Ist der Begriff ‚marxistisch’ als absolut zu sehen oder ist er Ergebnis einer Interpretation?
Auch hier drängt sich wiederum die Frage auf, wie der Begriff Marxismus von dem des Bolschewismus, Leninismus, Sozialismus und Kommunismus abgegrenzt wird. Diese Begriffe werden in den Brecht-Biographien zum Teil mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verwendet, obwohl im alltäglichen Sprachgebrauch nicht selten Uneinheitlichkeit bezüglich ihrer Verwendung besteht. Aber gerade bei einer Untersuchung auf diese Merkmale hin ist es notwendig, dass eine begriffliche Eindeutigkeit besteht. Denn sicherlich hat die erwähnte „Ambivalenz“ und „Fragwürdigkeit“ auch hier ihren Ursprung. Aus diesen Gründen ist auch die in der Brechtforschung teilweise herrschende Disharmonie nicht verwunderlich.
Auch unter anderen Aspekten, die das Leben des Dichters betreffen, treten deutlich Differenzen hervor. Beispielsweise wenn es darum geht, Aussagen zu machen, welche Erlebnisse den Dichter dermaßen (politisch) geprägt haben, dass diese einen nicht unerheblichen Einfluss auf sein Werk gehabt haben. So gibt es – um nur ein kleines Beispiel anzuführen – Brechtforscher, die behaupten, dass die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs sowohl Brecht als Menschen als auch sein Werk maßgeblich beeinflussten. Andere hingegen relativieren diese Ansicht, ja versuchen sogar, sie ad absurdum zu führen, indem sie diese Erlebnisse verhöhnen. Sie sprechen Brechts Erlebnissen – falls er sie denn auch so erlebt habe – nicht die Grausamkeit ab; sie bezweifeln jedoch das Maß der Betroffenheit Brechts, seine unmittelbare Beteiligung an den genannten Ereignissen.[5]
Ein weiterer Beweggrund für die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Brecht und der Marxismus’ ist die Vielfalt, die es in sich birgt. So kann das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln betracht werden. Je nach Art der zu untersuchenden Gegenstände kann der Betrachtungsschwerpunkt auf der Biographie des Dichters, auf der Entstehung seiner Werke, also auf den Bedingungen, unter denen sein Werk entstanden ist, liegen. Aber auch das dichterische Werk an sich oder seine Rezeption kann von vorrangigem Interesse sein. Jan Knopf – einer der renommiertesten deutschen Brecht-Forscher – weist zum Beispiel in seiner jüngsten Gesamtdarstellung explizit darauf hin, dass ihn „in erster Linie nicht das Leben des Autors selbst [interessiert], wichtiger sind vielmehr die Bedingungen, unter denen er sein Werk geschaffen hat.“[6]
Diese Vorgehensweise – die Spezialisierung auf einen Gesichtspunkt – hat zwar durchaus ihre Vorteile, birgt allerdings auch die Gefahr, dass durch solch eine Aufspaltung auf Spezialthemen wichtige Zusammenhänge des Ganzen nicht, oder nur schwer nachzuvollziehen sind, und durch die verengte Sichtweise ein verfälschtes Bild entstehen kann. Zu solchen Spezialgebieten kann auch die Konzentration auf einen bestimmten Zeitraum, einen Lebensabschnitt Brechts gehören. Zwar soll in der vorliegenden Arbeit auch eine Konzentration auf den Zeitraum der Weimarer Republik erfolgen, da dies die Epoche ist, in der sich Brecht zum Marxisten entwickelt hat. Allerdings wird – besonders im biographischen Teil (Kapitel III) – eine relativ großzügige Gliederung bevorzugt, um übergreifende Komplexe miteinander verbinden zu können.
Reinhold Grimm bringt die oben angerissenen Probleme, die bei der Beschäftigung mit dem Thema ‚Brecht und Marxismus’ entstehen können, auf den Punkt und warnt davor, „Brechts kommunistische Wendung allzu rasch und bequem erklären zu wollen. Auf keinen Fall kann man den Dichter, wie Martin Esslin und andere dies möchten, in das Prokrustesbett eines simplen psychologischen Mechanismus zwängen. Die Motive, die Brecht bewogen haben, sind vielfältig.“[7] Auch Müller äußert sich diesbezüglich ähnlich und betont, „daß Brecht nicht einfach auf eine bestimmte Richtung des Marxismus festzulegen ist“[8].
Der Hinweis auf die Vielfalt der Motive, die Brecht bewogen haben, soll nicht nur den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden sondern zugleich als eine Art ‚Leitbild’ dienen, möglichst umsichtig das Thema zu behandeln, vielfältige Ansichten darzustellen und kritisch zu hinterfragen. Freilich wird es kaum möglich sein, eine lückenlose, vollständige Darstellung darüber zu liefern, in welchem Verhältnis Brecht tatsächlich zum Marxismus stand. Die Arbeit soll jedoch ein Versuch sein, Fakten und Forschungsergebnisse zu einem ‚neuen’ Bild zusammenzutragen, um vielleicht eine ‚andere’ Wahrheit zu Tage zu fördern; denn – wie Sigmund Freud bemerkte – „die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen.“[9]
2. Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise
In Kapitel II befasse ich mich mit einigen wesentlichen Aspekten des Marxismus. Bei einem solch komplexen Thema wie ‚Marxismus’ ist es im Rahmen einer solchen Arbeit nicht möglich einen umfassenden Überblick über die Theorien des Marxismus zu geben. Dies wird auch nicht bezweckt. Das Kapitel soll vielmehr einführen in jene Thematik, mit der sich Brecht seit den späten zwanziger Jahren intensiv auseinander setzte. Es soll die Entwicklung des Dichters, der ohne Zweifel durch den Marxismus geprägt wurde, verstehbar machen und die (politischen) Intentionen, die seinem Werk zugrunde liegen, verdeutlichen.
Da der Marxismus aus mehreren Theorien besteht und im Laufe der Zeit unterschiedlichen ideologischen Strömungen unterworfen war, tritt er in der Realität in mannigfachen Ausprägungen zu Tage, z.B. in Form von Parteien und Organisationen, die sich auf ihn beziehen. In Kapitel III wird daher untersucht, in welcher Beziehung Brecht zu solchen marxistisch-orientierten Organisationen stand. Dabei wird seine Rolle im Arbeiter- und Soldatenrat ebenso von Interesse sein, wie sein Verhältnis zur USPD.
Eine herausragende Stellung unter den marxistischen Institutionen nimmt die Marxistische Arbeiterschule (kurz MASCH) ein, die von etwa 1925 bis 1933 ‚marxistische’ Bildungsarbeit in ganz Deutschland, insbesondere in Berlin, wo sie ihren Ursprung hat, leistete. An dieser der KPD sehr nahestehenden Institution trieb Brecht nicht nur seine soziologischen und marxistischen Studien voran, hier erhielt auch seine Theaterarbeit wesentliche Impulse, zum Beispiel durch Erwin Piscator und Hanns Eisler, die als Lehrer an der MASCH tätig waren und dort auch Seminare hielten. Meines Wissens nimmt die Verbindung Brechts zur MASCH in der Brecht-Forschung nur eine untergeordnete Rolle ein, ja sie wird sogar regelrecht ignoriert. Zwar wird in vielen Biographien auf Brechts Teilnahme an Veranstaltungen der MASCH hingewiesen, jedoch wird sich nicht näher mit ihr auseinandergesetzt. Dies soll im Kapitel IV dieser Arbeit geschehen.
Insbesondere in den 1920er Jahren wurden innerhalb der kommunistischen Bewegung marxistische Theorien kontrovers diskutiert. Einer der bekannteren deutschen marxistischen Intellektuellen war der Jurist, Politiker und Philosoph Karl Korsch, der als einer der wichtigsten Bezugspersonen Brechts zur marxistischen Intellektuellen gilt, ja sogar als sein „Lehrer“ in Sachen Marxismus schlechthin gilt. Aber nicht nur Korsch allein prägte den Dichter. Die Personen, die Brecht außerdem noch beeinflussten, die Frage, wie sie ihn beeinflussten und zu welcher Richtung innerhalb des Marxismus er tendierte, sollen Gegenstand des Kapitel V sein.
Die Arbeit schließt ab mit dem umfangreicheren Kapitel VI, dem die Frage zugrunde liegt, wie das dramatische Werk Brechts und seine Theaterarbeit vom Marxismus beeinflußt wurde. Hauptaugenmerk liegt auf der Phase der Lehrstücke (etwa 1928 bis 1935). In dem Zusammenhang werden soziologische Hintergründe dieser Phase näher beleuchtet und der Zusammenhang zu Brechts Theatertheorie, insbesondere der Lehrstücktheorie, hergestellt. Nach der Auseinandersetzung mit der Theorie der Lehrstücke, beschäftige ich mich mit dem (Lehr-) Stück Brechts, welches wohl am meisten Aufsehen erregt hat und zugleich als sein „marxistisches Gesellenstück“[10] gilt: Die Maßnahme. Dort werden auch neuere Forschungsergebnisse und Probleme angesprochen und diskutiert.
3. Zur Ausgangslage und dem Wesen der Arbeit
Die Literatur über Bertolt Brecht ist schon seit Jahren unüberschaubar geworden. Zu den verschiedensten Themen und Spezialgebieten, die sich mit Brecht und/oder seinem Werk befassen, liegen umfassende Biografien, Monographien, Sammelbände, Untersuchungen etc. vor. Insbesondere zum 100 jährigen Geburtstag des Dramatikers und Dichters, im Jahre 1998, erschien eine Fülle neuer Bücher. Mittlerweile erschien sogar das von Jan Knopf herausgegebene fünfbändige Brecht-Handbuch[11], welches das vorhergehende zweibändige Einzelwerk ersetzt. Hervorzuheben ist auch die Brecht-Chronik von Hecht[12]. Sie ist, mit einem Umfang von über 1300 Seiten, wohl eine der präzisesten Chroniken, die je über einen deutschen Autor verfasst wurde. Die wichtigste Leistung (besonders für die Brecht-Forschung) stellt wohl die seit drei Jahren abgeschlossene neue Werkausgabe[13] dar, die seit 1988 erschien.
Aufgrund der zahlreichen neuen Beiträge, die zu Brechts Werk in den letzten Jahren erschienen sind, hieße es Eulen nach Athen tragen, eine weitere Arbeit zu verfassen, die sich mit dem Werk Brechts unter rein ästhetischen und inhaltlich-poetischen Aspekten beschäftigt; dazu existiert bereits eine Vielzahl hervorragender Arbeiten. Die vorliegende Arbeit verfolgt vielmehr das Ziel, die Bedingungen, unter denen das Werk entstanden ist – insbesondere den Einfluss des Marxismus auf die Person Brechts sowie sein Werk –, zu untersuchen und in dem Zusammenhang Antworten auf folgende Fragen zu finden:
- Wie ist Brecht Marxist geworden?
- Warum ist er Marxist geworden?
- Wer hat ihn (politisch) beeinflusst?
- Welche Positionen (innerhalb der marxistischen Bewegung) vertrat er?
- Wie wirkte sich der marxistische Einfluss auf sein Werk aus?
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt somit zu einem überwiegenden Teil im literatursoziologischen Bereich.
II. Eine Lehre, die Lernen voraussetzt. – Der Marxismus
„Vom Marxismus[14] zu reden ergibt eigentlich keinen Sinn, da der Begriff heute eher als wissenschaftspolitischer Kampfbegriff denn als Charakterisierung einer gesellschafts- oder politikwissenschaftlichen Theorie Verwendung findet und eine heterogene und in sich widersprüchliche Vielzahl theoretischer Ansätze und darauf gegründeter politi-scher Positionen zusammenzufassen sucht.“[15]
Die von Stammen zu recht resümierte Fragwürdigkeit und Ambivalenz des Themas ‚Brecht und Marxismus’ aufgrund fehlender „Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Begriffe und Bezüge“[16] ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass schon der Begriff ‚Marxismus’, wie Esser feststellt, seine eigentliche Funktion – nämlich die der Charakterisierung einer bestimmten Theorie – im (allgemeinen) Sprachgebrauch weitestgehend verloren habe und eine Rede von ihm daher „eigentlich keinen Sinn“ ergebe. Will man sich mit dem Thema ‚Brecht und Marxismus’ auseinander setzen, ist es von immenser Bedeutung, dass man zuvor klärt, wie denn dieser so weitreichende Begriff in Hinblick auf die Person Brechts im konkreten Einzelfall Verwendung finden soll. Tut man dies nicht, macht es auch wenig Sinn über ‚Brecht und Marxismus’ zu reden, „dann kommt das auf ein ödes Gespräch heraus“[17].
Die Theorie des Marxismus ist „ein Element der ästhetischen Theorie“ Brechts und äußerst wichtig für das Verständnis und die Interpretation seiner Dichtung.[18] Daher will ich im Folgenden dieses weite Feld des Marxismus ein wenig eingrenzen und versuchen, mit groben Pinselstrichen seine wichtigsten Inhalte zu skizzieren[19], um im weiteren Verlauf dieser Arbeit – nämlich dann, wenn mögliche Zusammenhänge und Beziehungen zwischen Brecht bzw. seinem Werk zu diesen Theorien aufgezeigt werden sollen – Rückschlüsse ziehen und Parallelen oder Abweichungen aufzeigen zu können; auch wenn dies beim Thema ‚Brecht’ als schier aussichtsloses Unterfangen gilt, denn
wenn sich die Brecht-Forschung in den letzten Jahren in etwas einig war, dann ist es die Widersprüchligkeit, die der Dichter in sich birgt.
Zunächst wird der Begriff Marxismus definiert. Sodann werden die Quellen, aus denen er sich zusammensetzt, dargestellt. Anschließend wird eine kleine Darstellung wichtiger Bestandteile und Werke des Marxismus gegeben. Den Abschluss bildet ein kurzer Rückblick auf die Wirkung des Marxismus in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. (In Hinblick auf Brecht sei hier auch schon auf das Kapitel V hingewiesen, welches sich eingehender mit der Marxismusdebatte der zwanziger Jahre beschäftigt und der Frage nachgeht, wie sich die innermarxistischen Kontroversen auf ihn und seine Arbeit auswirkten.)
1. Begriff
Der Begriff ‚Marxismus’ bezeichnet die Gesamtheit aller Lehren und Theorien von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895), sowie alle Ansätze und Richtungen, die sich auf diese positiv beziehen und weiterführen bzw. auf ihnen aufbauen. Mit dem Beginn der sich daraus entwickelnden „’Schulbildung’ entstanden auch die ersten inner-marxistischen Kontroversen um die Frage, was als der eigentliche Gehalt der marxschen Theorie anzusehen sei.“[20] Diese Auseinandersetzungen sind sowohl auf theoretische als auch auf politische Streitfragen zurückzuführen. Trotzdem lassen sich gewisse gemeinsame Übereinstimmungen in den Vorstellungen feststellen: „Der Schwerpunkt der internen marxistischen Diskussionen liegt heute nicht mehr so sehr auf dem Gebiete der Politischen Ökonomie, sondern in der Sozialphilosophie, Anthropologie, politischen Taktik und auf anderen Gebieten, [...]“[21]
Wie schon erwähnt, ist die Verwendung des Begriffs ‚Marxismus’ im allgemeinen Sprachgebrauch problematisch, da er eine einseitig wertende Funktion einnimmt und zudem eher negativ besetzt ist. Der Begriff bezieht sich jedoch im wesentlichen auf drei Lehren – philosophische, politisch-soziale und ökonomische – bzw. fasst diese zusammen, da der Marxismus auch seinen Ursprung in diesen drei Bereichen hat.
2. Quellen
Marx schuf im 19. Jahrhundert eine gewaltige Philosophie, die weitreichenden Einfluß auf das gesellschaftliche, politische und ökonomische Denken nahm, bis weit hinein ins 20. Jahrhundert die politische und wirtschaftliche Landschaft prägte und – wie es scheint – auch im Zeitalter zunehmender Globalisierung neue Aktualität erfährt. Er bediente sich dabei mehrerer unterschiedlicher Quellen, die er bearbeitete, gedanklich formte, weiterführte und aus denen schließlich die Lehre des ‚Marxismus’ entsprang. So blieb er „nicht beim Materialismus des 18. Jahrhunderts stehen, er entwickelte die Philosophie weiter. Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der deutschen klassischen Philosophie und besonders des Hegelschen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuerbachs geführt hatte.“[22] In seiner berühmten Schrift Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus wertet Lenin die Lehre Marx’ als „die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat.“[23]
Eine eminent wichtige Quelle für Marx war, wie bereits erwähnt, die Philosophie Hegels, von dem er zwar die Prinzipien der Dialektik und das dynamisch-evolutionäre Denken übernahm, doch im Gegensatz zu Hegel, der die Welt idealistisch interpretiert, versteht Marx die Wirklichkeit als einen Prozess, in dem die Umwelt prägend auf den Menschen einwirkt und dieser sich in tätiger Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Natur befindet.[24]
Eine weitere Quelle bilden die französischen Sozialisten, unter denen C.H.D. Saint-Simon (1769–1825) und C. Fourier (1772–1837) eine herausragende Stellung ein-nehmen. Doch entgegen den Ansichten der französischen Sozialisten (Utopischen oder Frühsozialisten), die wie Marx die Abschaffung des Privateigentums fordern, behauptet Marx jedoch „gemäß dem Historischen Materialismus die notwendige Entwicklung zum Kommunismus“ und schafft in Verbindung mit seiner Philosophie die Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus.[25]
„Alsbald kamen verschiedene sozialistische Lehren auf, [...]. Doch der ursprüngliche Sozialismus war ein utopischer Sozialismus. Er kritisierte die kapitalistische Gesell-schaft, verurteilte und verfluchte sie, träumte von ihrer Vernichtung, phantasierte von einer besseren Ordnung und suchte die Reichen von der Unsittlichkeit der Ausbeutung zu überzeugen.
Der utopische Sozialismus war jedoch nicht imstande, einen wirklichen Ausweg zu zeigen. Er vermochte weder das Wesen der kapitalistischen Lohnsklaverei zu erklären noch die Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus zu entdecken, noch jene gesellschaftliche Kraft zu finden, die fähig ist, Schöpfer einer neuen Gesellschaft zu werden.“[26]
Die „Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus“ werden in Marx’ Hauptwerk Das Kapital herausgearbeitet und deutlich aufgezeigt. Es „ist der Erforschung der ökono-mischen Struktur der modernen, d.h. der kapitalistischen Gesellschaft gewidmet.“[27] Grundlage dafür bilden Marx’ sorgfältige ökonomische Studien der klassischen englischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo – die dritte Quelle des Marxismus. „Marx setze ihr Werk fort. Er begründete diese Theorie exakt und entwickelte sie folgerichtig.“[28]
3. Wesentliche Bestandteile und Werke
Im Folgenden werden die wichtigsten Bestandteile der marxschen Theorie sowie die wichtigsten Werke vorgestellt, die auch später im Hinblick auf Brechts Studium des Marxismus und seiner Auseinandersetzung mit ihm eine nicht unbedeutende Rolle spielen.
3.1 Dialektischer und Historischer Materialismus
„Die Philosophie des Marxismus ist der Materialismus.“[29] Der Historische Materialismus stellt eine Umsetzung von Hegels Geschichtsphilosophie dar, bekommt aber durch Marx eine völlig andere Prägung, indem er Hegels Geschichtsphilosophie das religiöse Moment entzieht, sie stattdessen auf ökonomische Tatsachen bezieht und somit zeigt, „wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.“[30] Marx zeigt in seiner Weiterentwicklung und Bereicherung der deutschen klassischen Philosophie, wie sich gesellschaftliche und ökonomische Begebenheiten in der menschlichen Geschichte bedingen.
„Die wichtigste dieser Errungenschaften ist die Dialektik, d. h. die Lehre von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt, die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt. Die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaft – das Radium, die Elektronen, die Verwandlung der Elemente – haben den dialektischen Materialismus von Marx glänzend bestätigt, entgegen den Lehren der bürgerlichen Philosophen mit ihrer ständig ‚neuen’ Rückkehr zum alten und faulen Idealismus.“[31]
Der Historische Materialismus kann als Sonderfall des Dialektischen verstanden werden. Ein wesentlicher Aspekt des Historischen Materialismus – „eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens“[32], wie Lenin bemerkt – ist der Bezug zur gesellschaftlichen Realität, die Anteilnahme am politischen Geschehen und das Hervorbringen neuer philosophisch-soziologischer Erkenntnisse, wie beispielsweise die Theorie der „ökonomischen Basis“ und des „Überbaus“. Grundlegend ist also eine Beschäftigung mit materiellen, tatsächlichen Gegebenheiten – und nicht, wie in der Hegelschen Philosophie, mit abstrakten, imaginären Ideen: „Der Wille zum politischen Handeln erzwingt die Abkehr vom ‚Mystizismus’ Hegels zur objektiven Realität.“[33]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Karl Marx im Gespräch mit französischen Arbeitern 1844
In dem Zusammenhang wird deutlich, wie der bekannte Ausspruch Marx’ aus der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zu verstehen ist: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“[34] Die Religion ist danach für die Selbstentfremdung des Menschen mitverantwortlich, da sie „das verkehrte Weltbewusstsein eines Wesens, das in einer verkehrten Welt lebt“[35] sei. Mithin könne der Mensch auch nicht zu seinem ‚wahrhaftigen’ Dasein finden, da er sein ‚Selbstverwirklichungspotential’ in eine fremde – nämlich die göttliche, religiöse – Sphäre verlege. „War die Religion noch für Feuerbach ein anthropologisch- einzelmenschliches Problem, so ist sie für Marx jetzt ein sozialpathologisches Phänomen.“[36] Von der bloßen Kritik der Religion wendet Marx seinen Blick auf die realen ökonomischen und gesellschaftlichen Begebenheiten, auf die tatsächlichen Probleme; und dies kann als ein wesentliches Merkmal seiner Philosophie verstanden werden – sie ist handlungsorientiert, hat die Intention und den Willen zur Veränderung. „Deutlich ist zu erkennen, wie bei Marx der philosophische Gedanke, einmal zur ‚praktischen Energie’ geworden, danach drängt, die bloß theoretische Kritik zu transzendieren und sich politisch-praktisch zu konkretisieren“[37], wie folgender Ausspruch verdeutlicht: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“[38] Das praktische Moment, welches dieser Philosophie immanent ist, das Eingreifen in das bestehende System mit der Absicht, es Marx’ Wirkungsabsichten entsprechend verändern zu wollen, kommt auch in der elften seiner sogenannten Thesen über Feuerbach, in denen sich Marx von dessen ‚anschauendem Materialismus’ abgrenzen will, zum Ausdruck: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[39] Doch wo soll diese Veränderung ansetzen? Die Antwort findet sich in einem Brief Friedrich Engels an Joseph Bloch vom 21. September 1890, in welchem die auf einer „materialistischen Geschichts-auffassung“[40] basierenden Ideen des sich dialektisch vollziehenden gesellschaftlichen Wandels kurz dargestellt werden:
„[...] Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestim-mende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. [...] Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten [...] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. [...][41]
3.2 Manifest der kommunistischen Partei
Das Manifest wurde in gemeinschaftlicher Arbeit von Marx und Engels in der Zeit von Dezember 1847 bis Januar 1848 verfasst und erstmalig im Februar 1848 in London unter dem Titel Manifest der kommunistischen Partei veröffentlicht. Den Auftrag zu seiner Erstellung gab der Bund der Kommunisten[42].
Bei dieser Schrift handelt es sich um ein pragmatisch orientiertes Parteiprogramm, mit dessen Hilfe das politische Handeln der Kommunisten legitimiert und ihr notwendiges politisches Handeln auf der Grundlage einer historischen Gesellschafts-analyse begründet werden sollte. Somit stellte es „den Drehpunkt von sozialistischer Utopie und Geschichtsanalyse dar.“[43] Von den Verfassern selbst wurde es als „agitatorische Hilfestellung“ zur Erreichung der Revolution des Proletariats ver-standen.[44] Und es war in der Tat notwendig, den Menschen die Ansichten und Ziele des Kommunismus darzulegen und zu begründen, warum eine durch das Proletariat herbeigeführte Revolution vollzogen werden müsse. Daher wurde beschlossen, „daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen.“[45]
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassen-kämpfen.“[46] Mit dieser auf ihrer historisch-dialektischen Anschauung beruhenden Feststellung leiten Marx und Engels ihre Ausführungen über die Entstehung der Bourgeoisie ein und zeigen verschiedene Entwicklungsstadien der Klassengegensätze in der Geschichte auf, die in Kämpfen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten und schließlich in „einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete[n] oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“[47] Insbesondere wird auf die Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus eingegangen, wodurch jedoch die Klassenunterschiede nicht aufgehoben, sondern „nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt“ worden seien.[48] Diese neuen Bedingungen sind hervorgerufen durch den im Kapitalismus vorherrschenden Monetarismus, einhergehend mit fortwährenden technischen Innovationen, da die Bourgeoise nicht ohne eine fortwährende Erneuerung der Produktionsmittel bestehen kann: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“[49] Das Zusammenspiel dieser Faktoren – Kapitalakkumulation und technische Entwicklung – schaffen einen universellen Markt der „Produktion und Konsumtion“. Überaus bemerkenswert ist, dass Marx und Engels schon sehr früh die sich abzeichnenden ökonomischen Tendenzen erkannten und eine zukünftige Ent-wicklung der Volkswirtschaften im Hinblick auf die internationalen Verflechtungen prognostizierten. So haben sie die weltweiten ökonomischen Verflechtungen der einzelnen Staaten bzw. Volkswirtschaften, die wir heute unter dem Begriff ‚Globalisierung’ zusammenfassen, scharfsinnig erkannt:
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“[50]
Die „bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse“ und die „bürgerlichen Eigentumsverhältnisse“ seien, wie im Manifest dargestellt wird, die Ursachen dafür, dass sich die Gesellschaft auf zwei Klassen reduziere, in der sich auf Seiten der Bourgeoise die Akkumulation des Kapitals und auf der anderen Seite die Verelendung der Arbeiter zum Proletariat vollziehe. Und eben sie – „die modernen Arbeiter, die Proletarier “ werden es auch sein, die der Bourgeoise „den Tod bringen“.
Das Manifest endet mit den berühmten Worten: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “[51]
Unter literarischen Gesichtspunkten ist Marx und Engels „ein großer Wurf“ mit dem Manifest gelungen, was besonders auf die verwendeten rhetorischen Elemente, wie dem „Wechselspiel von aufrüttelnden Parolen und kühler Sachlichkeit, lapidaren Formu-lierungen [...] und präzis angelegter Analyse, direkter Anrede der Gegner, Frage und Antwort zu den Beschuldigungen und farbiger Invektive“, zurückzuführen ist.[52]
3.3 Das Kapital
Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, wie der Titel des von Marx ursprünglich auf sechs Teile veranschlagten Werks vollständig lautet, ist das „umfassende wissenschaftliche Fundament zum ‚revolutionären Sozialismus’“[53]. Marx arbeitete gut dreißig Jahre an diesem Werk und es kann als sein Lebenswerk, „das Herzstück seiner gesamten Theorie“[54] bezeichnet werden, das er jedoch nie vollständig abschloss. Er selbst konnte nur den ersten Teil (Der Produktionsprocess des Kapitals) – entstanden ab 1850, erschienen 1867 – herausgeben. Die anderen drei Teile edierte sein Freund und Mitarbeiter Friedrich Engels auf der Grundlage von Marx’ Niederschriften und Manuskripten aus den 1860er und 1870er Jahren.[55] „Das äußerst komplexe Corpus dieser Schriften, bestehend aus publizierten und unpublizierten Arbeiten, aus Frag-menten und Exzerpten wird im gesamten Umfang wohl erst im Rahmen der neuen historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (neue MEGA) überschaubar und interpretierbar werden.“[56]
Wie oben schon erwähnt, bilden Marx’ Studien der klassischen englischen Ökonomie, die Lehren von Adam Smith und David Ricardo, eine wichtige Quelle seiner kritischen Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse, die auf einem philosophischen Fundament fußt und in deren Zentrum er den Menschen sieht. „Dadurch unterscheidet sich Marx von den klassischen Nationalökonomen seiner Zeit, die zwar von den wirtschaftlichen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft ausgehen, diese aber letztlich nicht ‚begreifen’ können, weil sie sich nicht auf das ihr zugrundeliegende menschliche Wesen zurückzuführen vermögen.“[57]
Eine der zentralen Aussage, die von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelt wird, ist die Mehrwerttheorie, durch die insbesondere der Warencharakter der Arbeit hervorgehoben wird. Die Mehrwerttheorie stellt die wissenschaftlichen Grundlage dar, mit der nachgewiesen werden soll, dass in der kapitalistischen Produktionsweise ein Ausbeutungsverhältnis vorliegt, welches durch die Aneignung des Mehrwerts durch den Unternehmer entsteht. Die Entstehung von Mehrwert wird von Friedrich Engels in einer Rezension des ersten Bandes des Kapitals für das Demokratische Wochenblatt vom 28. März 1868 wie folgt charakterisiert:
„Der Kapitalist stellt seinen Arbeiter nun an die Arbeit. In einer bestimmten Zeit wird der Arbeiter soviel Arbeit geliefert haben, als in seinem Wochenlohn repräsentiert war. Gesetzt, der Wochenlohn eines Arbeiters repräsentiere drei Arbeitstage, so hat der Arbeiter, der montags anfängt, am Mittwochabend dem Kapitalisten den vollen Wert des gezahlten Lohnes ersetzt. Hört er dann aber auf zu arbeiten? Keineswegs. Der Kapitalist hat seine Wochen arbeit gekauft, und der Arbeiter muß die drei letzten Wochentage auch noch arbeiten. Diese Mehrarbeit des Arbeiters, über die zur Ersetzung seines Lohnes nötige Zeit hinaus, ist die Quelle des Mehrwerts, des Profits, der stets wachsenden Anschwellung des Kapitals. [...] aber die Hauptsache ist die, daß der Kapitalist neben der Arbeit, die er bezahlt, auch noch Arbeit herausschlägt, die er nicht bezahlt, [...] Der Wert der Arbeitskraft wird gezahlt, aber dieser Wert ist weit geringer als derjenige, welchen der Kapitalist aus der Arbeitskraft herauszuschlagen versteht, und die Differenz, die unbezahlte Arbeit, macht gerade den Anteil des Kapitalisten, oder, genauer gesprochen, der Kapitalistenklasse aus.“[58]
Mit der Schaffung von Mehrwert im arbeitsteiligen Prozess geht die Entfremdung des Arbeiters einher, die sich in vier Stufen vollzieht. Der Arbeiter entfremdet sich zunächst von dem Produkt, welches er produziert. In der zweiten Stufe folgt die Entfremdung von seiner Tätigkeit. Sodann tritt auf der dritten Stufe eine „Selbstentfremdung des Menschen von seinem Wesen“ ein und zum Schluss – auf der vierten Stufe – folgt schließlich „die Entfremdung des Menschen von seinen Mitmenschen“.[59] Eine weitere Ursache der Entfremdung des Menschen (nämlich die Religion) von seinem Wesen begegnete uns bereits in den philosophischen Schriften Marx’, auf die in diesem Zusammenhang hingewiesen wird, um den ‚umfassenden Ansatz’ seiner Lehre, nämlich das ‚Zusammenspiel’ von philosophischen und ökonomischen Faktoren, aufzuzeigen.
Resümierend kann festgehalten werden, dass Marx mit seinem Kapital den Nachweis geführt hat, „daß unter den Bedingungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft der Mensch in seiner Arbeit sein wahres menschliches Wesen nicht gewinnen kann, sondern verlieren muß.“[60]
4. Rezeption, Wirkung, Umsetzung
„Das Kapital hat nicht nur eine theoretische Wirkungsgeschichte. In gewissem Sinn hat es die Welt verändert.“[61] Marx selbst hat nie die ‚praktischen’ Auswirkungen seines theoretischen Werkes, also die auf seiner Theorie basierenden Realisationskonzepte, miterlebt. Sicherlich erlebte er kleinere Revolutionen, Aufstände, wie beispielsweise den ‚Weberaufstand’, die ihm Anlass zur Hoffnung gaben auf die bald folgende große, vom Proletariat getragene Revolution, die einen Umsturz der bestehenden gesellschaft-lichen Ordnung herbeiführen und in einer klassenlosen Gesellschaft münden sollte. Doch er sollte sie nicht erleben. Auch eine von ihm ‚autorisierte’ Form der Umsetzung seiner Theorien und Lehren gab es nicht. Sie wurden interpretiert und erhielten einen jeweils bestimmten Akzent in ihrer Ausprägungsform. Vor allem im 20. Jahrhundert hat „die Marxsche Lehre in den verschiedenen Gestalten des Marxismus die maßgebliche Grundlage der Ideologie und Programmatik zunächst der europäischen Arbeiter-bewegung und -parteien, später (nach der Oktoberrevolution von 1917 in Russland) des Sowjetkommunismus und der davon abgeleiteten Strömungen des Weltkommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg (1945) gebildet.“[62]
Als wichtigste dieser Strömungen gilt der seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende ‚Marxismus-Leninismus’, „der von seinen Anfängen an mit den Deutungs- und Orientierungsfragen der praktischen Politik verbunden“[63] ist. Er bezeichnet die auf Lenin zurückgehende Weiterführung „der von Marx und Engels in der vorrevolutionären Epoche entwickelten Lehre“ und „dessen Weiterführung im Zeitalter der proletarischen Revolution und des Imperialismus“.[64] Während Marx davon ausging, dass sich die proletarische Revolution zunächst in den höher entwickelten Industrienationen durchsetze, gelang dem Leninismus der revolutionäre Durchbruch in einem rückständigem Land, welches agrarisch orientiert war: Russland. Schon zu Lebzeiten Lenins kam es, bedingt durch den Sieg des bolschewistischen Flügels im Jahr 1917, zur Herausbildung des Sowjetmarxismus.[65] „Der Begriff Bolschewismus kennzeichnet zunächst die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der russischen Sozialdemokratie entstandene Leninsche Richtung, später die an Lenin anknüpfende kommunistische Strömung der internationalen Arbeiterbewegung. Insofern sind die Begriffe Bolschewismus und Leninismus gleichbedeutend.“[66]
In Deutschland nahmen die Theorien des Marxismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Gestalt an, z.B. in Form der Sozialdemokratie (SPD, USPD), kommunistischer Parteien (KPD), Gewerkschaften und Arbeitervereinen (z.B. der von Lassalle gegründete) und auch in Form der Arbeiter- und Soldatenräte während der revolutionären Anfangsphase der Weimarer Republik.
Da die Herausbildung dieser Räte während der Novemberrevolution 1918 zugleich eine erste, nicht unerhebliche Entwicklungsstufe in der politischen Entwicklung Bertolt Brechts markiert, wird im folgenden Kapitel sein Verhältnis zu diesen Arbeiter- und Soldatenräten und zum linken Flügel der SPD, der USPD, näher untersucht.
III. Brechts erste Berührungen mit marxistischen Ideen – Politische Motivation oder Abenteuer?
Anfang Oktober 1926 – kurz nach der Aufführung von Mann ist Mann in Darmstadt – schrieb Brecht in einem Brief an Elisabeth Hauptmann: „Ich stecke acht Schuh tief im Kapital. Ich muß das jetzt genau wissen ...“[67] Und eben diese berühmten Zeilen sind es, die viele Autoren dazu veranlassten, das Jahr 1926 bzw. den Zeitraum Juli bis Oktober 1926 mit einem politischen „Wendepunkt“, einem „Umbruch“ in Brechts Leben gleichzusetzen. So wurde hier nach Esslin der „Anarchist Brecht“ von dem „Marxisten Brecht“ abgelöst.[68] Doch bei einer solchen Vereinfachung ist Vorsicht geboten! Esslin und viele andere machen es sich hier etwas zu einfach. Freilich besteht nach aktuellem Wissensstand kein Zweifel daran, dass Brecht sich, als er die Zeilen schrieb, seit ca. zwei bis drei Monaten mit ökonomischen Vorgängen beschäftigt hat und in dem Zusammenhang auch das Kapital las. Doch ob es die bloße Lektüre Marx’ – noch dazu in einem so kurzen Zeitraum – vermag, einen so radikalen Einfluss auf die Gesinnung bzw. die Denkstrukturen des Dichters zu nehmen, erscheint doch sehr fraglich. Kritisch äußert sich auch Payrhuber zu dem plötzlichen Wandel, der bei Brecht stattgefunden haben soll:
„Diese Marx-Lektüre war kein ‚Damaskuserlebnis’, in dessen Folge er sich plötzlich vom antibürgerlichen Saulus zum Paulus proletarisch-revolutionären Weltverände-rungsdenkens bekehrt hat, es handelte sich bei dieser Wandlung vielmehr um das Resultat seiner Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen der Zeit.“[69]
Auch sei in diesem Zusammenhang an Brechts eigene Aussage erinnert, dass ihn das marxistische Studium zehn Jahre gekostet habe.[70] Allerdings liegen konkrete Daten, die Beginn und Ende eines solchen Studiums markieren, ebenso wenig vor, wie Belege, welche die These stützen könnten, dass ihn das Studium der marxistischen Literatur ausgerechnet im Jahr 1926 politisch konvertieren ließ. Ganz im Gegenteil scheint es, bei aller Undurchsichtigkeit der Lage, mehr Hinweise darauf zu geben, dass jenes
Jahr nicht ausschließlich als das „Wendejahr“ angesehen werden kann bzw. angesehen werden sollte. Es ist schwierig etwas zu finden, was überzeugend und nachweisbar belegt, dass Brecht ab einem Zeitpunkt oder aufgrund eines bestimmten Ereignisses Marxist geworden ist. Wie wird man eigentlich Marxist? Ist man ein Marxist, wenn man einer Partei beitritt, die sich auf marxistische Theorien stützt? Oder genügt es, wenn man im marxistischen Sinn denkt, handelt? Diese Fragen sind äußerst schwierig zu beantworten und es wird wohl auch keine eindeutige Antwort darauf geben, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um als Marxist zu gelten. Es ist die „Gretchenfrage“, die Brecht sein ganzes Leben lang verfolgt und auch lange nach seinem Tod auf eine wahrhaftige Antwort wartet.
Folgende Fragen sind meines Erachtens von besonderem Interesse: Wenn das Jahr 1926 bei vielen Autoren als ein politisches Umbruchsjahr, als Wende oder als ein Jahr der politischen Entscheidung in Brechts Leben angesehen wird, welche Gründe gab es für diesen Umbruch? Sind sie externer Natur oder liegen sie in der Person? Was war Brechts politische Motivation? Und wie stand Brecht vor diesem „Umbruch“ zu sozialistischen Ideen oder zu deren Trägern, den sozialistischen Parteien? Nicht ausschließlich die Frage, wie Brecht Marxist (in welcher Form auch immer) geworden ist, ist für mich entscheidend, sondern auch die übergeordnete Frage, warum er es geworden ist. Daher sollen im folgenden vor diesem Hintergrund einige (politische) Ereignisse im Leben Brechts, die sich zwischen der Revolution 1918/19 und 1926 zugetragen haben, analysiert werden. Denn die politische ‚Weichenstellung’ Brechts erfolgte bereits lange vor 1926. Dem Zeitraum von ca. 1928 bis zur Flucht Brechts ins Exil wird ein Extrakapitel (Kapitel IV) gewidmet, in dem insbesondere das Verhältnis des Dichters zur ‚Marxistischen Arbeiterschule’ (MASCH) in Berlin analysiert wird.
1. Brecht im Arbeiter- und Soldatenrat
Ohne das Wissen der Reichsregierung bereitete die Seekriegsleitung am 22. Oktober 1918 ein letztes Auslaufen der Hochseeflotte in die Nordsee mit dem Ziel England vor. Dort sollte sich die deutsche Marine eine letzte „ehrenvolle Schlacht“ liefern: „Wenn auch nicht zu erwarten ist, daß hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wendung erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben.“[5] Da diese Aktion keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte und noch dazu den sinnlosen Tod der deutschen Matrosen bedeutet hätte, kam es zum Streik. Als man die Rädelsführer der Meuterei festnahm, solidarisierten sich zunächst Soldaten, Matrosen und im weiteren Verlauf die Hafenarbeiter. Dies war die Geburtsstunde der Arbeiter- und Soldatenräte. Die Revolution breitete sich dann sehr rasch vom Norden ausgehend über das ganze Land aus, wobei der Ablauf einem festen Schema folgte: Den von auswärts kommenden Matrosen schlossen sich die Arbeiter an, die dann zusammen die Arbeiter- und Soldatenräte[6] bildeten: „Die Kaserne revolutionierte die Fabrik.“[7]
Die politische Theorie des Rätesystems, die den Arbeiter- und Soldatenräten zugrunde liegt, geht vor allem auf Karl Marx und W. I. Lenin zurück. Allerdings handelt es sich bei den Räten, die gesetzgebende, ausführende und Recht sprechende Gewalt besitzen, anfangs „um politisch und sozial uneinheitliche Erscheinungen, die mit dem russischen Vorbild im Wesentlichen nur den Namen gemein hatten.“[8] Die Aufgabe der Rätemitglieder hatte unmittelbar nach der Revolution einen eher pragmatischen Charakter. Sie sahen ihre Hauptaufgabe zunächst darin, „für eine Übergangszeit die kommunalen Verwaltungen zu ‚beaufsichtigen’ sowie im lokalen Rahmen Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten und die Lebensmittelversorgung zu sichern.“[9]
Auch Brechts Heimatstadt Augsburg wurde von der Revolution erfasst. In der Nacht zum 8. November 1918 konstituiert sich dort ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat, der am 23. Februar 1919 – dem sogenannten „Revolutionssonntag“ – die Macht übernimmt.[10] Kurt Eisner, der der USPD angehört und als „Vertreter eines humanitären Sozialismus“[11] galt, wird zum Vorsitzenden gewählt.[12] Brecht gehört einem Lazarettrat an, der am 28. November 1918 in Augsburg gegründet wird und dem Arbeiter- und Soldatenrat untersteht. Allerdings sei Brecht, wie Ernst Niekisch –der damalige Vorsitzende – später bestätigte, darin niemals besonders hervorgetreten.[13] Und nach eigener Aussage Brechts war er dem Rat auch nicht aus politischer Motivation oder besonderem Engagement heraus beigetreten. „Wir alle litten unter einem Mangel an politischen Überzeugungen und ich speziell noch dazu unter meinem alten Mangel an Begeisterungsfähigkeit.“[14] Von daher scheint es auch nicht verwunderlich, dass sein Arbeitseifer als Ratsmitglied nicht sonderlich groß war: „Ich bekam einen Haufen Arbeit aufgehalst [...], verfügte dann aber sehr bald über meine Entlassung.“[15] Sehr widersprüchlich erscheinen diese Aussagen im Hinblick auf den Einfluß – und somit auch die Möglichkeit der Machtausübung – den er in dem Rat gehabt habe. Mitte April 1919 schreibt er an Paula Banholzer:
„Übrigens bin ich vollends ganz zum Bolschewisten geworden. Freilich bin ich gegen jede Gewalt, und da ich hier Einfluß habe, kann ich da einiges tun. Jetzt wird Widerstand mit allen Mitteln organisiert – aber wenn ihr hört, daß Augsburg nicht gekämpft und Blut vergossen hat, dann kannst Du sicher sein, daß ich, ganz hinten stehend und den meisten Unsichtbar, sehr darum verdient bin. Einmal wird die Räterepublik doch durchdringen.“[16]
Es ist doch sehr erstaunlich, dass Brecht trotz des Mangels an politischen Überzeugungen sich als „Bolschewisten“ bezeichnet und darüber hinaus auch noch dafür eintritt, dass „Widerstand mit allen Mitteln“ organisiert werde. Dies kann nun so interpretiert werden, dass er – entgegen seiner eigenen Aussage – die aktuelle politische Situation sehr wohl als wichtig einschätzt und sich aktiv und intensiv für eine Räterepublik einsetzt. Doch nicht nur das! Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass Brechts Äußerung eine ganz eindeutige Bekundung zum Leninismus ist. Oder sollten dies die Worte eines jungen Mannes sein, der mit Politik wirklich nichts am Hut hat und sich die Brisanz dieser revolutionären Ereignisse nur zu Nutze macht, um einer Frau zu imponieren?
[...]
[1] Stammen (1983), S. 111.
[2] Grimm (1971), S. 107.
[3] Der von Grimm angeführten Selbstdefinition Brechts, er sei ein „parteiloser Bolschewik“, lässt sich die Aussage Brechts gegenüberstellen: „Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus [...].“ (Zit. n. Reich-Ranicki 1996, S. 96.) Vollends für Verwirrung hinsichtlich der Frage ob bzw. wie jemand Marxist sei, sorgt die eigene Feststellung Karl Marx’: „Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste.“ („Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin.“) Brief Engels an Conrad Schmidt in Berlin vom 5. August 1890. In: Marx/ Engels Werke, Bd. 37, S. 436. (Im folgenden zitiert als MEW, Band, Seitenzahl.)
[4] GBFA, Bd. 11, S. 120.
[5] Vgl. hierzu beispielsweise die Schilderungen und Bewertungen der Kriegserlebnisse Brechts im Ersten Weltkrieg bei Hill (1978), S. 19 und Esslin (1962), S. 21.
[6] Knopf (2000), S. 12.
[7] Grimm (1994), S. 424.
[8] Müller (1972), S. 27.
[9] Sigmund Freud an Arnold Zweig, 31. Mai 1936. In: Freud (1980), S. 445.
[10] Mayer (1997), S. 177.
[11] Brecht Handbuch, vier Bände und ein Registerband. Hrsg. von Jan Knopf. Redaktion Brigitte Bergheim und Joachim Lucchesi. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001-2003.
[12] Werner Hecht: Brecht Chronik. 1898-1956. Frankfurt: Suhrkamp, 1997.
[13] Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin und Weimar: Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988-2000. (In dieser Arbeit zitiert als GBFA.)
[5] Eintragung im Kriegstagebuch der Seekriegsleitung vom 25.10.1918. Zit. n. Bundeszentrale für politische Bildung (1998), S. 6.
[6] „Um diese Räte ist seit den sechziger Jahren eine ausgiebige Diskussion geführt worden. [...] Die Bedeutung der Räte ist in der neueren Forschung insoweit stark betont worden, als man in ihnen eine neue politische Kraft, die Möglichkeit eines dritten Weges zwischen der parlamentarischen Demokratie und einer bolschewistisch geprägten Rätediktatur, gesehen hat.“ (Köhler 1982, S. 18.)
[7] Zit. n. Bundeszentrale für politische Bildung (1998), S. 6.
[8] Grevelhörster (2000), S. 16.
[9] Ebd.
[10] Zur Gründung und Entwicklung des Arbeiter- und Soldatenrates in Augsburg und Brechts Teilnahme an den revolutionären Ereignissen siehe insbesondere Hecht: (1997), S. 61-66 und Mittenzwei (1997), Bd. 1, S. 82ff.
[11] Köhler (1982), S. 13.
[12] Vgl. Mittenzwei (1997), Bd. 1, S. 82 sowie Schumacher (1981), S. 18.
[13] Vgl. Mittenzwei (1997), Bd. 1, S. 84.
[14] Zit. n. Ebd, S. 85.
[15] Zit. n. Schumacher (1981), S. 18.
[16] GBFA, Bd. 28, S. 81.
[14] Brecht 1931/32. GBFA, Bd. 21, S. 538.
[15] Esser (2001), S. 285.
[16] Siehe hierzu Stammen (1983), S. 111 und S. 1 dieser Arbeit.
[17] Bunge (1972), S. 98.
[18] Vgl. Müller (1972), S. 27f.
[19] Marx und Engels haben ein voluminöses Werk geschaffen. (Die neue historisch-kritische Marx / Engels Gesamtausgabe ist auf über 100 Bände veranschlagt!) Es ist eine große Herausforderung und ein schwieriges Unterfangen, den Marxismus auf knappen Raum prägnant darzustellen. Bei einer solch komprimierten Darstellung muss natürlich eine Auswahl von Inhalten getroffen werden und darauf hingewiesen werden, dass dieses Kapitel keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; vielmehr sollen die wesentlichen Punkte – sozusagen die ‚Schlaglichter’ der marxschen Philosophie und ökonomischen Theorie – dargestellt werden.
[20] Brockhaus (1996), Bd. 14, S. 281.
[21] Haffner (1978), S. 85.
[22] Lenin (1977), Bd. 19, S. 4.
[23] Ebd., S. 4.
[24] Vgl. Brockhaus (1996), Bd. 14, S. 282.
[25] Vgl. Kunzmann et al. (1999), S. 171.
[26] Lenin (1977), Bd. 19, S. 7.
[27] Ebd., S. 5.
[28] Ebd., S. 6.
[29] Ebd., S. 4.
[30] Ebd., S. 5.
[31] Ebd., S. 4f.
[32] Ebd., S. 5.
[33] Kunzmann et al. (1999), S. 169.
[34] MEW, Bd. 1, S. 378.
[35] Stammen (2002), S. 455
[36] Ebd.
[37] Ebd., S. 457.
[38] MEW, Bd. 1, S. 379.
[39] MEW, Bd. 3, S. 7.
[40] Die Bezeichnung ‚Historischer Materialismus’ wurde von Marx und Engels nicht gebraucht; statt-dessen finden sich in mehreren Schriften und Briefen synonyme Verwendungen, wie beispielsweise „materialistische Geschichtsauffassung“.
[41] MEW, Bd. 37, S. 463.
[42] „Der Bund der Kommunisten, eine internationale Arbeiterverbindung, die unter den damaligen Verhält-nissen selbstredend nur eine geheime sein konnte, beauftragte auf dem in London im November 1847 ab-gehaltenen Kongresse die Unterzeichneten mit der Abfassung eines für die Öffentlichkeit bestimmten, ausführlichen theoretischen und praktischen Parteiprogramms. So entstand das nachfolgende ‚Manifest’ [...].“ (Friedrich Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Manifest von 1872. MEW, Bd. 18, S. 95.)
[43] Middell (1994), S. 320.
[44] Vgl. Kindlers Neues Literaturlexikon (1989), Bd. 11, S. 296.
[45] MEW, Bd. 4, S. 461.
[46] Ebd., S. 462.
[47] Ebd.
[48] Vgl. ebd., S. 27.
[49] Ebd., S. 465.
[50] Ebd., S. 465f.
[51] Ebd. S. 493.
[52] Vgl. Kindlers Literaturlexikon (1972), Bd. VII, S. 5982.
[53] Stammen (2002), S. 467.
[54] Ebd., S. 450.
[55] Einen guten Überblick über die Stationen der Edition des Kapitals bietet Kindlers Neues Literatur-lexikon (1989), Bd. 11, S. 292.
[56] Stammen (2002), S. 467.
[57] Ebd., S. 460.
[58] MEW, Bd. 16, S. 237f.
[59] Vgl. Stammen (2002), S. 460f.
[60] Ebd., S. 461.
[61] Kindlers Neues Literaturlexikon (1989), Bd. 11, S. 293f.
[62] Stammen (2002), S. 480.
[63] Vgl. Brockhaus (1996), Bd. 14, S. 285.
[64] Vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (1984), Bd. 2, S. 780.
[65] Vgl. ebd.
[66] Halme / Steigerwald (1990), S. 425.
[67] Zit. n. Knopf (2000), S. 29.
[68] Vgl. Esslin (1962), S. 57.
[69] Payrhuber (1998), S. 15f.
[70] Vgl. Kesting (1998), S. 41.
- Quote paper
- Lars Wächter (Author), 2003, Der Einfluss des Marxismus auf die Person Bertolt Brechts und sein dramatisches Werk, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21136
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