[...]
Die ältesten abbildenden Kunstwerke der Menschheitsgeschichte finden sich in
der berühmten südfranzösischen Höhle von Lascaux, deren früheste Malereien
um 15.000 v. Chr. entstanden sind. Zwischen erlegten Bisons, den berühmten
schwarzen Stieren und sonstiger Fauna der Altsteinzeit findet sich eine weitaus
eigenartigere Zeichnung: ein liegender Mann mit Vogelkopf. Zwischen den
ältesten Zeugnissen menschlicher Kunst stoßen wir auf ein Mischwesen aus
Mensch und Tier.
Der Vogelmann von Lascaux steht am Anfang einer langen Tradition von
Metamorphosen zwischen Mensch- und Tierwelt in der bildenden Kunst. Von den
Sphingen der alten Ägypter, über die geflügelten Darstellungen weiblicher
Dämonen wie der sumerischen Lilith oder griechischer Sirenen, Minotauren und
indischen Gottheiten bis zu den Engeln des mittelalterlichen Christentums.
Beispiele für diese Chimären sind endlos. Nicht immer sind es jedoch solche
mutierten Mischwesen, die körperlich humane und animale Merkmale vereinen.
Auch in Illustrationen zu Aesops Fabeln oder Goethes „Reineke Fuchs“ lassen
Künstler die Grenzen zwischen Mensch und Kreatur verschwimmen, indem sie
anthropomorphe Tiere ihrer natürlichen Sphäre entheben und mit menschlichen
Protagonisten gleichsetzen.[...]
Die künstlerisch fruchtbare Vermengung von Tier- und Menschenwelt beschäftigt Maler und Aktionskünstler bis heute. Diese Arbeit diskutiert vor allem die animistischen und identitätsstiftenden Qualitäten, die die Tierdarstellung für die Arbeit von Franz Marc, Max Ernst und Joseph Beuys geboten hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Zwischen Mensch und Tier
2. Franz Marc
2.1. Leben und erste Pferde
2.1.1. Zwei Pferde, Bronze, 1908/09
2.2. Animismus in der Kunst Franz Marcs
2.2.1. Die großen blauen Pferde, 1911
2.2.2. Entwicklung nach 1912
2.3. Das Tier als Identifikationsmittel
2.3.1. Pferd in Landschaft, 1910
2.3.2. Das Tier in Marc?
3. Max Ernst
3.1. Annäherung an das Tierische als Rebellion gegen menschliche Normen?
3.1.1. Oedipe (Kap. 4, 131), Illustration aus „Une Semaine de bonté“, 1934
3.2. Loplop als Über-Ich
3.2.1. Loplop présente une fleur, 1930
3.2.2. Le surréalisme et la peinture, 1942
3.3. Alter Ego und Künstlerego
4. Joseph Beuys
4.1. Der Künstler als Schamane
4.1.1. Grundzüge des Schamanismus
4.1.2. Beuys autobiographische Initiationslegenden
4.2. Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, 1965
4.3. Coyote: I like America and America likes Me, 1974
4.4. Friedenshase mit Zubehör (Umschmelzaktion) im Rahmen der 7000 Eichen – „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, 1982
5. Fazit
Bibliographie
Abbildungen
1. Zwischen Mensch und Tier
„Ich fürchte, die Thiere (sic!) betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, - als das wahnwitzige Thier …“[1]
Die ältesten abbildenden Kunstwerke der Menschheitsgeschichte finden sich in der berühmten südfranzösischen Höhle von Lascaux, deren früheste Malereien um 15.000 v. Chr. entstanden sind. Zwischen erlegten Bisons, den berühmten schwarzen Stieren und sonstiger Fauna der Altsteinzeit findet sich eine weitaus eigenartigere Zeichnung: ein liegender Mann mit Vogelkopf.[2] Zwischen den ältesten Zeugnissen menschlicher Kunst stoßen wir auf ein Mischwesen aus Mensch und Tier.
Der Vogelmann von Lascaux steht am Anfang einer langen Tradition von Metamorphosen zwischen Mensch- und Tierwelt in der bildenden Kunst. Von den Sphingen der alten Ägypter, über die geflügelten Darstellungen weiblicher Dämonen wie der sumerischen Lilith oder griechischer Sirenen, Minotauren und indischen Gottheiten bis zu den Engeln des mittelalterlichen Christentums. Beispiele für diese Chimären[3] sind endlos. Nicht immer sind es jedoch solche mutierten Mischwesen, die körperlich humane und animale Merkmale vereinen. Auch in Illustrationen zu Aesops Fabeln oder Goethes „Reineke Fuchs“[4] lassen Künstler die Grenzen zwischen Mensch und Kreatur verschwimmen, indem sie anthropomorphe Tiere ihrer natürlichen Sphäre entheben und mit menschlichen Protagonisten gleichsetzen.
Einige Künstler gehen noch weiter. Im 18. Jahrhundert erklärt der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot den Polypen zum tierischen Äquivalent der Autoren, da dieser auf der Flucht eine Sepiawolke von sich gibt und so ein abstraktes Kunstwerk schafft, das sein Überleben sichert.[5] Victor Hugo greift diesen Gedanken auf, als er seinem 1866 erschienenen Roman „Les Travailleurs de la mer“ eine Illustration hinzufügt, die im Stile einer tache[6] einen Oktopus darstellt.[7] Die Tentakel formen im oberen Bilddrittel die Initialen VH. Hugos Tuschezeichnung ist mehr als nur eine besonders kunstvoll verborgene Signatur des Autors – unter Zuhilfenahme der Metaphorik Diderots wird aus ihr ein Selbstportrait, in dem sich Hugo als romantisiertes Künstlergenie darstellt, dem das Schreiben zum Überleben notwendig ist.
Diese Arbeit ist drei Künstlern gewidmet, die im 20. Jahrhundert das Erbe dieser Identifizierung mit dem Tier antreten: Franz Marc, Max Ernst und Joseph Beuys.
Schon in ihren Signaturen zeigt sich die Parallele zu dem „Mollusken-Ich“[8] Victor Hugos – Marc setzt seine künstlerische Handschrift mit dem „Hufschlag (s)einer Pferde“[9] gleich, Ernst tritt hinter den tierischen Kunstfiguren Hornebom, Loplop oder (überdeutlich) Schnabelmax zurück und Beuys unterzeichnet manche seiner Werke mit einem großen „B“, das von zwei Hasenohren gekrönt wird.[10]
Die Suche nach einer erweiterten Identität im Tierischen ist oft mit dem Glauben an eine animistische Welt verbunden. Der Animismus geht davon aus, dass jedes Element der Natur beseelt ist, in christlicher Terminologie quasi den „göttlichen Funken“ in sich trägt. Jede natürliche Erscheinung hat demnach neben ihrer materiellen Manifestation eine zweite, geistige Seite, die ebenso relevant ist wie ihr stofflicher Teil.[11] Das Göttliche in allem Natürlichen, ob Pflanze, Kreatur oder Mensch, vereint somit jedes natürliche Leben miteinander – Animismus resultiert so immer in Pantheismus. Phänomene wie Schamanismus und der mit ihm verbundene Totemkult[12] sind weitere Aspekte des Animismus, die vor allem in der Betrachtung Beuys‘ bedeutend werden.
Die explizite Erforschung von Tierdarstellungen ist ein Thema der Kunstgeschichte, das schon Anfang des 20. Jahrhunderts populär wird[13], dessen Relevanz aber seit den späten 90er Jahren stetig zunimmt. Das beweisen sowohl zahllose Publikationen nach 1990, die beim Verfassen dieser Arbeit zurate gezogen wurden, als auch jüngste Fachkonferenzen, wie die Diskussionsrunde der LMU München zum Thema „Das Tier als Reflexionsfigur frühneuzeitlicher Kunst“ im Sommer 2012.
Da die übergeordnete Thematik dieser Arbeit bereits umfassend erforscht ist, versteht sie sich vor allem als Überblick zu den wichtigsten Ansätzen einer animistischen Annäherung an das Tier am Beispiel Marcs, Ernsts und Beuys‘. Sie soll zusammenfassend nachzeichnen, wie unterschiedlich diese Künstler sich trotz aller Gemeinsamkeiten den Symbolgehalt des Tieres zunutze gemacht und gesellschaftspolitisch eingesetzt haben. Da zeitgleich zu dieser Thesis eine weitere Abschlussarbeit entsteht, die sich umfassend und ausschließlich mit Max Ernst beschäftigt, wird er hier weniger eingehend behandelt als Beuys und vor allem Marc, der animistische und identitätsstiftende Aspekte weniger offensichtlich in seinem Werk versteckt und so besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
Das breite Oeuvre der Künstler wird der Übersichtlichkeit halber auf die Tiere eingegrenzt, die in ihrem Schaffen und ihrer Biographie die größte Prominenz genießen. Für Franz Marc ist dies das Pferd, für Max Ernst der Vogel und für Joseph Beuys Hase und Kojote.
2. Franz Marc
2.1. Leben und erste Pferde
Wenige Künstler des 20. Jahrhunderts haben durch ihr Werk eine derart starke assoziative Verknüpfung mit einem einzigen Sujet, einem einzigen Motiv ihrer Arbeit erreicht wie Franz Marc. Wir neigen dazu, Künstler in Epochen und Stilrichtungen einzuordnen, sie in lockeren Familienverbünden als Meister der Frührenaissance, Genremaler, Im- oder Expressionisten, Neue Sachliche zu kategorisieren. Sicher wäre es ein Leichtes Franz Marc in mindestens einer der zahllosen Kategorien der Kunstgeschichte wieder zu finden – allein, dass er einer der Gründerväter des Blauen Reiters ist, lässt die stilgeschichtlichen Schubladen aufspringen. Dennoch assoziieren wir mit dem Namen Marc vor allem die Kreatur, der er sich zwar nicht ausschließlich, aber doch am intensivsten gewidmet hat: das Pferd.
Eine explizite Aussage Marcs zu dem Hintergrund dieser Faszination lässt sich trotz eines umfangreichen und gut belegten Fundus an Briefen, Zitaten und anderer literarischer Quellen nicht finden. Doch lassen sich aus Biografie, Äußerungen von Zeitzeugen sowie Freunden und vor allem seiner Kunst Schlüsse ziehen, warum gerade das Pferd Ausdruck seiner Suche nach „den reinen Tieren“[14] wird. Es avanciert zum wichtigsten Motiv seines Anspruchs in der modernen Malerei „Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“.[15]
Wann der in München aufwachsende junge Franz Marc Pferden zum ersten Mal begegnet, ist ungewiss. Bereits mit siebzehn Jahren unternimmt er, Vorzeichen seiner späteren Stadtflucht, „Ausflüge in Münchens Umgebung und beginnt sein erstes Skizzenbuch“[16], von denen wenig Bildmaterial erhalten ist, die ihn aber sicherlich auch in die Nähe von Pferden bringen. Das Reiten lernt er nachweislich während seines Militärdienstes 1899/1900.[17] Nachdem er seine Pläne, evangelische Theologie zu studieren, verwirft, nimmt er stattdessen das Studium der Malerei an der Münchner Akademie auf. Bereits 1904 bricht er das Akademiestudium ab und verlässt wenig später die Großstadt. Von nun an prägen Aufenthalte in den ländlichen Gemeinden Kochel, Lenggries und Sindelsdorf, das sein Wohnsitz wird, seine Malerei. Etwa zeitgleich (1905/06) setzt eine intensive Beschäftigung mit dem Pferd als Sujet zeichnerischer Übungen ein, von denen einige Kopf- und Bewegungsstudien erhalten geblieben sind. Die Flucht in die ruhige Welt des Pferdes, das Marc zu dieser Zeit in friedvoller, gelassener Haltung darstellt, könnte als bewusster Kontrapunkt zu seinem turbulenten Privatleben verstanden werden: 1905 lernt er Marie Schnür und Maria Franck kennen, „mit beiden lässt er sich ein, geht mit ihnen 1906 nach Kochel, (…) gerät in einen Gefühlswirrwarr, der ihn noch nach Jahren von einem dortigen ‚Tränenhügel‘ sprechen lässt.“[18] Marie Schnür wird Marcs zweite, Maria Franck Marcs dritte Frau. Die friedlichen Pferdekoppeln (Marc gewöhnt es sich an, seine Studien in unmittelbarer Nähe zu seinen Modellen auf den Weiden anzufertigen) dürften ein tröstender Kontrast zu dieser aufreibenden Dreiecksbeziehung gewesen sein. So konzentriert Marc sich auf seine Arbeit, um „alle die leidenschaftlichen Lebensinstinkte zu ersticken.“[19] Die neu gewonnene Relevanz des Pferdes für sein Schaffen zeigt sich auch im Anatomieunterricht, den er ab 1907 an der Münchner Akademie gibt: Hier nutzt er annähernd lebensgroße Skizzen des Pferdeskeletts bzw. eines Pferdes im Galopp, um die Bedeutung eingehenden Verstehens des Körpers für die naturalistische Malerei zu verdeutlichen.[20] Heutigen Betrachtern sind sie an erster Stelle ein Zeugnis für Marcs umfassende Kenntnisse der Anatomie bzw. der Bewegungsabläufe des Pferdes, die die Grundlage für spätere, abstraktere Darstellungen sind. Bereits eine Skizze aus denselben Jahren[21] beweist, dass Marc nicht bloße Wiedergabe der natürlichen Gestalt, sondern vielmehr die Energie und Kraft des Tierkörpers interessiert, die er auf dem Papier einzufangen versucht. Die anatomisch korrekte Abbildung des massig und schwer wirkenden Pferdeleibs geht in fahrigen, dynamischen Linien beinahe unter, mit denen Marc das machtvolle Hin und Her des sich wälzenden Tieres einfängt. Sein Kopf ist deutlich transparenter angedeutet und von einigen S-förmigen Strichen umkränzt, die der Bewegung scheinbar dreidimensional Ausdruck verleihen. Sind die wenigen Ölstudien, die Marc um diese Zeit anfertigt, noch deutlich naturalistisch und impressionistisch geprägt, so zeichnet sich hier langsam eine Entwicklung ab, die ihn vom „Malen nach der Natur“ zu abstrakterer, wesenhafterer Präsentation seiner Pferde führt.
2.1.1. Zwei Pferde, Bronze, 1908/09
In der knapp 16 cm hohen Kleinplastik „Zwei Pferde“ kann man gleichermaßen einen Anfangs- als auch einen ersten Höhepunkt dieser Entwicklung sehen. Die 1908/09 entstandene Bronzeplastik zeigt zwei im Körperbau identische Pferde, die nebeneinander, aber in gegenläufiger Bewegung auf einem kreisrunden, uneben und derb modellierten Untergrund stehen. Eines der beiden Tiere steht gravitätisch und anscheinend regungslos, mit leicht gespreizten Beinen. Linke Vorder- und Hinterhand machen parallel zueinander einen Schritt nach vorn. Einzig der nach innen gekehrte Kopf stört den monumentalen Eindruck der Figur. In Verbindung mit dem vorwärts gestellten Huf scheint es beinahe, als wäre das Pferd im Begriff ein angedeutetes Kompliment[23] auszuführen, was seinen vergleichsweise submissiven Charakter noch betont. Sein Zwilling imitiert zwar die Schrittbewegung, erscheint in sich aber deutlich dynamischer und bestimmender - der hocherhobene Kopf mit den aufmerksam zurückgestellten Ohren blickt auf das zweite Tier. Die grob modellierte Augenpartie lädt förmlich dazu ein, den Pferdekopf zu vermenschlichen und ein zorniges Stirnrunzeln hineinzudeuten. Zu- und Abwenden der beiden Pferdeköpfe, deren Bewegung vom Schwung des Schweifs des jeweils anderen weitergeführt wird, resultieren dabei in einem geschlossenen Rund, das den kreisförmigen Untergrund spiegelt. Trotz der Nähe und Gemeinsamkeiten der beiden Figuren schafft Marc es mit einfachen Mitteln eine Rangordnung darzustellen. Weitaus interessanter als diese gelungene Demonstration tierischer Hierarchien ist aber die signifikante Art, in der Marc die Pferdekörper modelliert. Er wendet sich von der naturalistischen Arbeitsweise seiner früheren Werke ab und opfert die korrekte Darstellung des feingliedrigen Tieres der Bemühung, sein Wesen abzubilden. Die Leiber scheinen grobschlächtig und wenig elegant. Prägnante Merkmale der Anatomie wie Hufe, Fesseln und Schultern sind überdeutlich herausgearbeitet und verleihen der rohen Kraft der muskulösen Pferde Ausdruck. In Reinhard Pipers Buch „Das Tier in der Kunst“ von 1910, für das auch Marc einen Aufsatz schreibt, erklärt er die Motive hinter diesem untypischen Werk. Es geht ihm um[22]
„… das Kreisen des Blutes in den beiden Pferdekörpern, ausgedrückt durch die mannigfachen Parallelismen und Schwingungen in den Linien. Der Beschauer soll gar nicht nach dem Pferdetyp fragen können, sondern das innerlich zitternde Tierleben herausfühlen.“[24]
In diesem Zusammenhang äußert Marc erstmals sein Ziel einer „Animalisierung der Kunst“.[25] Für das heutige Verständnis ist dieser Begriff ein wenig unglücklich gewählt, denn er meint weniger eine „Animalisierung“ im Sinne des Animalen, Tierischen. Vielmehr betrifft es animistische Tendenzen.
2.2. Animismus in der Kunst Franz Marcs
„Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur Animalisierung der Kunst, (…) als das Tierbild. Darum greife ich danach.“[26]
Diese 1910 veröffentlichen Zeilen Franz Marcs wirken nicht nur sinnstiftend für sein künstlerisches Schaffen, sie relativieren den Begriff „Animalisierung“ auch sofort. Wenn er davon spricht, dass das Tierbild das „glücklichste Mittel“ zur Animalisierung ist, schließt er damit ein, dass es andere, wenn auch weniger „glückliche“ Mittel gibt. Animalisierung mit „animal“[27] gleichzusetzen wäre also falsch. In seinen Beschreibungen der Kunst van Goghs oder Signacs, die er wohl während einer Paris-Reise 1907 kennenlernt[28], findet er „alles animalisch, (…) die Luft, selbst den Kahn, der auf dem Wasser ruht, und vor allem die Malerei selbst“.[29] Moderne Malerei ist für ihn ein Mittel, sich „pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft“.[30] Jedes natürliche Phänomen hat für ihn ein eigenes Wesen, das er auf der Staffelei wiederzugeben versucht, um damit seinem Innersten, „dem Geheimnis des Seins“[31], nachzuspüren. Dieser Ansatz ist in der bereits angesprochenen Plastik „Zwei Pferde“ schon deutlich zu erkennen. Das Augenmerk liegt weniger auf der äußeren Gestalt der Pferde, ihrer oberflächliche Erscheinung, als auf ihrem Charakter. In diesem Fall der ursprünglichen, rauen Kraft ihrer Körper, die Marc in der grob bearbeiteten Bronze und der aggressiven Spannung zwischen den Tieren wiedergibt. Diese Arbeit ist nicht nur etwas Besonderes, weil sie eine seiner wenigen Skulpturen ist, sondern auch, weil die Tiere hier vollkommen isoliert bestehen müssen, ohne in ein natürliches Szenario eingebunden zu sein. Marc kann nicht auf die Farben und Formen eines Hintergrunds zurückgreifen, um den inneren Zustand seiner Bronzepferde aufzudecken; er nutzt die bloße Beschaffenheit des Materials.
In der Malerei findet er vielfältigere Möglichkeiten, seine animistischen Konzepte auszuarbeiten und aufzuzeigen, dass in einer pantheistischen Weltanschauung jedes Element der Natur eine eigene Wesensart besitzt.
2.2.1. Die großen blauen Pferde, 1911
1911 entsteht, nach vorbereitenden Skizzen und einer ersten kleinen und noch etwas sanfteren ersten Fassung, eines von Marcs wohl berühmtesten Werken, „Die großen blauen Pferde“. Diesem Schlüsselwerk geht eine Reflektion über seine bisherige Kunst und deren Schaffensprozess voraus, die ihn zu dem Schluss bringt, „die Malerei ganz von vorne“[33] anzufangen. Ganz im Sinne seines spanischen Kollegen Picasso will er „wie ein Kind anfangen, vor der Natur mit drei Farben und ein paar Linien (seinen) Eindruck zu geben, und dann hinzutun an Formen und Farben, wo es der Ausdruck fordert“.[34] Er wendet sich damit noch weiter von traditioneller Wiedergabe visueller Naturbeobachtung ab, um Gefühl und seelische Impression eines Szenarios festzuhalten. „Drei Farben und ein paar Linien“ werden zum inneren Kern eines Werkes, seiner anima[32][35], die dann von malerischen Zugaben umschlossen und ausgeformt wird, als unbewusster Eindruck aber präsent bleibt.
Marc konfrontiert uns in diesem Querformat mit einer bildfüllenden Gruppe von drei Pferden, deren dichte Nähe er intensiviert, indem er sie an den vorderen Bildrand rückt. Die somit vom Knie abwärts nicht sichtbaren vorderen Tiere gewinnen in ihrer nicht klar abzumessenden Größe an zusätzlicher Monumentalität. Das gesamte Bild ist durch parallel verlaufende Wellenformen rhythmisiert. In der zentralen Pferdegruppe lässt sich zudem ein nach unten gerichtetes Dreieck vermuten, dessen außerhalb der Bildfläche gelegene Spitze von zwei schlanken, konvex geschwungenen Baumstämmen angezeigt wird. Der linke Stamm wird zwar von den Pferdeleibern verdeckt, sein weiterer Verlauf lässt sich aber in diesem von Parallelismen belebten Bild als spiegelbildlich zum rechten erahnen. Die Tiergruppe ist in ihren Überschneidungen eng ineinander geschlossen. Das linke Pferd ist als Rückenfigur dargestellt, wendet dem Betrachter aber den leicht gesenkten und nach innen gedrehten Kopf zu. Dessen Haltung erinnert an den submissiven Zwilling der Bronzeplastik „Zwei Pferde“. Der halbrunde Schwung des Halses findet sich auch im rechten Pferd, das diagonal zum linken annähernd im Profil steht. Die Position der Köpfe ist quasi identisch, es senkt ihn aber ein ganzes Stück tiefer und macht so den Eindruck, sich an den hohen Pflanzen im Vordergrund gütlich zu tun, während das Tier auf der linken Seite mit der Fellpflege beschäftigt scheint. Das hintere Pferd zeigt sich im Vollprofil, wird aber von den beiden vorderen weitgehend überdeckt, einzig die oberste Wellenlinie aus Scheitel, Hals, Rücken und Kruppe ist auszumachen. Dem sichtbaren Teil des Kopfes fehlen bis auf die Ohren anatomische Details, so dass seine genaue Stellung ungreifbar wird. Die Umgebung der Tiere löst sich in abstrakte, kaum ineinander verschwimmende Farbflächen auf, einzig die saftig grünen Blätter am unteren Bildrand und ein sanft geschwungener Hügel aus verschiedenen Rot- und unreinen Gelb-/Grün-Tönen in der oberen rechten Ecke sind klar zu erkennen. Sonstige Bezüge zu einer realen Landschaft, z.B. ein leicht schattierter grüner Busch an der linken Hügelseite, sind rein intuitiv.
Seinem Ideal der „drei Farben“ bleibt Marc zwar nicht treu, die Farbpalette ist jedoch recht schmal. Das bereits angesprochene vegetative Grün der großblättrigen Pflanzenzone im Vordergrund wiederholt sich in den Mähnen und Schweifen der Pferde und einer schmalen Fläche über dem Rücken des hinteren Tiers. Über seinem Kopf verläuft es in einen (himmlischen?) Blauton. Das obere Bilddrittel ist von kräftigem Karmesin geprägt, in das sich vor allem mittig einige pflanzengrüne Farbfelder mischen. In der scheinbaren Himmelszone vermengt es sich mit transparentem Weiß, Blau und Gelb zu einem sanften Orangeton. Das Violettblau der Pferde begrenzt links und rechts in auffällig scharf vom Rot abgegrenzten Farbarealen das warme Goldgelb direkt hinter den Tieren. Weiß nutzt Marc außerhalb des luftigen obersten Bereichs nur in den grazilen Baumstämmen sowie den Schattierungen der Pferdekörper. Ansonsten schattiert er mit Tönen aus den bilddominanten Farben Blau, Grün, Rot und Gelb.
Stärker noch als in vorangegangenen Gemälden zentriert Marc in dieser Arbeit die gesamte Umwelt auf die Tiere, den Kern der Komposition. Seine Forderung, dass Künstler „eine Landschaft mit Tieren so malen (…) wie das Tier sie fühlt“[36], findet in den „Großen blauen Pferden“ Ausdruck. Die sich auflösenden Konturen der Natur passen sich den Pferden an, reflektieren den Schwung ihrer Rücken und Hälse. Der rechte Baumstamm scheint sich gar von dem Kopf des äußeren Tiers hinweg zu biegen. Die Verschränkung kommt einer Umarmung zwischen Pferd und Pflanze gleich. Verschränkung ist auch tiefergehend ein offenkundiges Motiv des Bildes, denn die traumbildhafte Natur ist nicht nur bloßes Abbild der tierischen Gefühlswelt. Tier und Natur, also Pflanze, Erde und Himmel, sind eng miteinander verbunden, sie bilden eine Einheit. Dies gelingt Marc zuallererst durch die rhythmische Symmetrie der Wellenbewegungen und Kurvenlinien von Körper und Landschaft. Selbst die Blätter der Pflanzen scheinen parallel geschwungen zu Mähne und Schweif der Pferde, mit denen sie sich auch das satte Pflanzengrün teilen. Allgemein unterstützt die Wahl der Farben den einheitlichen Eindruck, indem sich in jeder Bildzone Farbtupfer aus den anderen Bereichen wiederholen. Selbst in den blau/grünen Pferdekörpern, dem eigentlich farbreinsten Bildelement, finden sich in Schattierungen am Bauch und stark ins Violett driftenden Partien Einflüsse der rot/gelben Region.
Beeinflusst von Arbeiten der Künstlerfreunde Kandinsky und Macke entwickelt sich Marcs Farbeinsatz immer mehr in die symbolische Richtung.[37] Er nutzt die Farbe „um das Pferd (…) in seiner ganzen Wesenheit zu steigern“.[38] Ein langer Brief von Macke an Marc aus dem Dezember 1910 liefert eine bemerkenswerte Anleitung zur Interpretation des Farbgebrauchs. Demnach ist „Blau (…) das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft und überwunden werden muss!“[39] Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass diese Farben in den „Großen blauen Pferden“ von 1911 tonangebend sind, auf den ersten Blick in reinen Nuancen. Einzig dem Grün, von Kandinsky später als träge, passiv, fett, ja sogar „bourgeois“ bezeichnet[40], kann man in den vegetativen Elementen noch eher naturnahe als symbolische Qualität zusprechen. Macke belässt es in seinem Brief nicht dabei, reine Hauptfarben zu charakterisieren, er lässt sich auch über den Symbolgehalt ihrer zahlreichen Mischvarianten und deren Verhältnis zueinander aus. Immer offensichtlicher wird dabei, wie sehr sich Marc in seinen „Großen blauen Pferden“ an Mackes Ausführungen orientiert. Dem Blau der Pferde, das sich durch Rot ins Violette und damit zur „unerträglichen Trauer“ steigert, fügt Marc ganz nach Mackes Anweisung im unteren Hintergrund das „versöhnende Gelb“ hinzu. Die orangen Töne in der Himmelszone, eine „‘megärenhafte‘, sinnliche Gewalt“ ist wiederum auf das „kühle, geistige Blau“ angewiesen. Das mittlere grüne Farbfeld weckt „Rot, die Materie, die ‚Erde‘, zum Leben“ und muss durch das Wasserblau und sonnengleiche Gelb im Himmel ergänzt werden, „um die Materie zum Schweigen zu bringen.“[41]
Ohne, wie in seinen späteren Werken, ganz auf Form zu verzichten und ins vollkommen Abstrakte zu driften, schafft Marc durch geschickte Farbauswahl den Eindruck einer natürlichen Alleinheit. Alle Prinzipien der Natur, das männlich intellektuelle, das weiblich intuitive und die rohe Macht der Materie, funktionieren nebeneinander auf der Leinwand und greifen durch Vermischung der Farben und Synchronisierung der Formen ineinander. So ist die ekstatische Welt der Farbe, die die Pferde umgibt, am Ende nicht nur bloßer Hinweis und Verstärker ihrer Gefühlswelt. Tier und Natur sind unauflösbar miteinander verbunden und werden so zum Sinnbild von Marcs pantheistischer Weltanschauung, in der er eben diese „Art All-Einheit“[42] herbeisehnt.
Indem jedes Bild- (und damit Natur-) Element sein, durch Couleur angezeigtes, ganz eigenes Wesen bekommt, beseelt Marc seine gemalte Welt: selbst blutrote Hügel und die sich wirbelnde Luft über ihnen wirken wie lebendige, atmende Organismen, Bäume scheinen beinahe aktiv mit den Pferden zu interagieren. Marcs „Animalisierung der Kunst“, die er in den Bildern van Goghs so bewundert (dessen „animalische Luft“ sich zumeist ebenfalls in ewig wirbelnden Strudeln zeigt), erlebt in den „Großen blauen Pferden“ einen ersten Gipfel.
2.2.2. Entwicklung nach 1912
Seine künstlerische Entwicklung treibt Marc immer weiter in die Abstraktion, eine zunehmende Vereinfachung und Geometrisierung der Formen. Er lässt sich von den künstlerischen Strömungen seiner Zeit mitreißen und nutzt sie zu seinem Zweck, der Suche nach dem Reinen in der Natur. Schon seine Gemälde von 1912 sind deutlich kubistisch geprägt[43], Pferd und Natur sind zwar noch klar zu erkennen, zersplittern aber bereits in mineralische, miteinander verbundene Formen. Marc beschäftigt sich weiter mit Pointillisten, Kubisten und Futuristen und findet schließlich im Orphisten Robert Delaunay ein Vorbild, dessen Werken er eine exzeptionell klare und reine Abstraktion attestiert[44]. Inspiriert von Delaunays kaleidoskopischen und diaphanen Fensterbildern entstehen 1913 einige seiner letzten Werke, die seine vorangegangenen malerischen Annäherungen an ein pantheistisches System auf die Spitze treiben.
2.2.2.1. Tierkomposition, 1913[45]
Losgelöst von anatomischen Details, auf die Marc in seiner frühen Arbeit so großen Wert legt, zeigt die Gouache im Hochformat drei Pferde und ein Rind, die in ihrer typisierten und geschlossenen Form ein wenig an frühe Kleinplastiken eines Ewald Mataré erinnern. Durch wässrige schwarze Tuschestriche nur angedeutet, scheinen ihre Körper direkt dem bildfüllenden System aus zerberstenden, kristallin geometrischen Formen zu entwachsen. In der wirr anmutenden Bildwelt, deren Chaos Marc durch Farbverwischungen und fahrige Pinselstriche noch steigert, wirken die in reglosen Posen verhafteten Tiere gleichsam erstarrt wie die Quaderformen, die sie umgeben. Wieder wählt Marc die einfachen Blau-, Rot-, Gelb- und Grüntöne, mit denen er seit Mackes Ausführungen die gesamte Vielfalt des Kosmos präsentieren kann. Ließen sie ein Jahr zuvor noch wenige Bezüge zu natürlichen Pflanzen oder einer Himmelszone zu, sind die Farben hier vollkommen von jeglicher Realität befreit. Am ehesten ließe sich in die treppenartige, scharfkantige Komposition eine felsige Berglandschaft hineinlesen, wie es auch das perspektivisch verkleinerte Rind am Gipfel begünstigt. Der luftige Einsatz der Wasserfarbe kontrastiert den massiven Eindruck der stufenförmigen Elemente jedoch sofort.
Diese Landschaft entspringt nicht mehr der Gefühlswelt der Pferde oder gar den Träumen der scheinbar schlafenden Tiere, sie ist unauflöslich mit ihnen verbunden. Die Kreaturen verlieren den Status von Bildprotagonisten, scheinen sich förmlich in ihrem Umfeld aufzulösen (besonders deutlich zu erkennen am dritten Tier, dessen Körperkonturen von kräftigen himmelblauen Pinselstrichen zerstört werden). Sie sind ein Teil der irrealen Natur geworden, die vor allem in den organischeren Formen am rechten Rand mindestens ebenso beseelt und lebendig wirkt wie das statisch verharrende Tierpersonal. Auf dem Weg zur vollkommen gegenstandslosen Malerei löst Marc die äußere Form des Tieres immer weiter auf und verbindet seine Energie, seine anima, mit der seiner Umwelt. Hat die Natur in früheren Gemälden dazu gedient, den Charakter der Kreatur offensichtlich zu machen, so ist es in der „Tierkomposition“ umgekehrt: Die Tiere als letztes figürlich erkennbares Bildelement passen sich einer Natur an, die in von stofflicher Form befreiten geometrischen Farbfeldern als bloße Energie eingefangen wird.
2.2.2.2. Spielende Formen, 1914[46]
1914 entsteht Marcs letztes großes Gemälde, das bezüglich seiner animistischen Qualität und als Weiterentwicklung der „Tierkomposition“ angesprochen werden sollte, auch wenn es nur bedingt als Tierdarstellung verstanden werden kann. Eine detaillierte Beschreibung der abstrakt aufgefächerten querformatigen Fläche würde wohl den Rahmen des Kapitels sprengen. Auf der linken Seite finden sich die quaderförmigen Strukturen der „Tierkomposition“ von 1913, hier in sanften Pastelltönen gestaltet und von tentakelartigen, organischen Formen bewachsen. Diese Zone geht in ein undurchdringliches Gemisch aus rundlichen, violett- und karminroten Feldern über, das in die rechte Bildregion greift. Sie wird von vegetabilen Halm- und Blätterformationen aus kühlen Grün- und Blauschattierungen belebt.
Auch inhaltlich lassen sich die „Spielenden Formen“ in drei Bereiche aufteilen. Die eckig geometrischen Figuren links lassen, wie schon in der „Tierkomposition“, Assoziationen zu kantigen Felslandschaften zu. Durch die feinen Farbtöne noch verstärkt, erinnern sie teilweise an bauklötzchenhafte Dach- oder Gebäudestrukturen. Ein milder, in Delaunayscher Abstraktion verborgener Hinweis auf Stadt bzw. Zivilisation scheint möglich. Die Formationen des rechten Bilddrittels sind am durchschaubarsten: ein Dschungel saftgrüner Ranken und Blätterpflanzen, die dem oberen Bildrand entgegen wuchern. Geschickt eingesetzte Blau- und Gelbschattierungen verstärken die imaginative Tiefe des Dickichts zusätzlich.
Problematischer und assoziativen Zugängen eher verschlossen zeigt sich der rote Kern in der Mitte des Werks, der nicht nur aufgrund seiner Farbe als der Fokus, das Herz des Ganzen erscheint. Jede Interpretation von Absoluter Malerei, die Marc nun endlich erreicht hat und die ihn vollkommen von der Form emanzipiert, mag tendenziell, oft auch erzwungen wirken. Doch zieht man zum Vergleich den direkten Vorgänger der „Spielenden Formen“, die 1913 vollendeten, großformatigen „Stallungen“[47] heran, so ist die Versuchung groß, aus den pulsierenden roten Körpern die Rundungen von Pferdeleibern herauszulesen, prismatisch in die Unkenntlichkeit aufgebrochen. Sie erinnern stark an das im Profil gezeigte orangerote Pferd der „Stallungen“, in dessen abstrahierten Körper sich ähnlich flammende Formungen finden. Auch der Schwung der beiden Halme, die sich aus der rechten Bildzone in die Mitte verirrt haben, ist nah an dem der Pferdeschweife in der Vorstufe von 1913. Marc selbst schreibt einige Monate später in einem Brief an seine Frau, dass „abstrakte Bilder ohne Gegenstand“ nicht existieren. Er „steckt immer drin, ganz klar und eindeutig, nur braucht er nicht immer äußerlich da und augenfällig zu sein.“[48]
Dennoch sind solche Interpretationsversuche immer derart subjektiv, dass ihnen nicht zu viel Bedeutung eingeräumt werden sollte. Es wäre aber falsch davon auszugehen, Marc habe in seinen abstrakten Werken völlig frei von natürlichem Bezug gemalt. Es würde weder zu seinen zeitnahen Aussagen noch zu seiner bisherigen Malerei passen. Seinen Weg in die Abstraktion, „in (der) das Lebensgefühl ganz rein klingt“, erklärt er ein Jahr später als Suche nach dem Reinen und Guten.[49] Doch darf man diese Begriffe nicht nur im romantischen, religiösen Sinne verstehen, der in Aussagen des frommen Franz Marc sicher mitschwingt. Als das Reine versteht sich auch die animistische Kraft der Natur, das Wesen der Dinge, hinter ihrer äußeren Fassade. Marc, der den Tod als Erlösung sieht, als „die Zerstörung der Form, damit die Seele frei wird“[50], versucht in seiner abstrakten Malerei eben dieser Energie nachzuspüren, indem er die Körper seiner Tiere auflöst, tötet, und ihre anima freisetzt. So führt er am Ende seiner künstlerischen Karriere „die Kreatur wieder in den Kreislauf der Schöpfung zurück“[51], die sich ausschließlich aus den titelgebenden „Spielenden Formen“ zusammensetzt. Einem Fenster gleich bietet er uns einen Einblick in sein pantheistisches Utopia, in dem die Lebenskräfte der Natur, ganz gleich ob von Erde, Pflanzen oder Tieren, unauflöslich miteinander verbunden sind. Er verschmilzt sie „zu einer neu von ihm eroberten Weltanschauung.“[52]
2.3. Das Tier als Identifikationsmittel
Eine zweite Konstante in der Kunst Franz Marcs ist der Versuch, die Tiere als Identifikationsfläche für das Publikum (auch für sich selbst) darzustellen. Diese Tendenz ist natürlich nicht strikt von seinen eher ideologischen, animistischen Bemühungen zu trennen, aber doch so ausgeprägt, dass sie gesondert betrachtet werden sollte. Die bereits angesprochene Suche nach dem Reinen im Tier ist dabei Ausdruck seiner Sehnsucht nach einer „vita nuova“[53], von der er im Vorwort zu einer geplanten, aber nie vollendeten zweiten Ausgabe des Almanachs „Der Blaue Reiter“ spricht. Als Gegenbewegung zu der in seinen Augen von der Natur entfremdeten, urbanen Welt beschwört er in seiner Kunst einen Umbruch, der den modernen Menschen zurück in den natürlichen, „frommeren“ Kosmos der Tiere führen soll. Ganz im Sinne seiner pantheistischen „vita nuova“, die Marc aus der Metropole München hinaus in die beschauliche bayrische Ländlichkeit führt, in der er zwischen Tieren arbeiten kann, schafft er Werke, die den Betrachter zwingen, sich in die Kreatur einzufühlen. So erfüllt sich sein Verlangen nach einer geistigen Vereinigung von Mensch und Tier wenigstens in der Kunst, in der er ähnlich den ihm philosophisch verwandten deutschen Romantikern des 18. und 19. Jahrhunderts das wichtigste Mittel der „kommenden geistigen Religion“ sieht.[54]
2.3.1. Pferd in Landschaft, 1910
Ein frühes und prägendes Ergebnis dieser Sehnsucht ist das Gemälde „Pferd in der Landschaft“ von 1910. Es resultiert aus einem Detail dreier Vorarbeiten, die eine ganze Gruppe weidender Pferde zeigen.[55]
Der tierische Protagonist des Gemäldes ist in die untere rechte Ecke gerückt und - untypisch für Marc - stark angeschnitten. Er setzt so den sanft zur Seite geneigten Kopf der Rückenfigur zentral in die Bildmitte. Die sich vor dem Pferd eröffnende horizontlose Landschaft ist bereits deutlich von Marcs Experimenten mit abstrakten Farbfeldern geprägt, aber als Weiterentwicklung der Vorarbeiten noch entfernt als mild ansteigende Hügellandschaft zu identifizieren. In satten Rot-, Gelb- und ihren Mischtönen gehalten, versetzen einzelne buschgrüne Flächen sie in einen monoton schwingenden Rhythmus.
Durch die ungewöhnliche Position des Tieres verringert Marc die Distanz zum Betrachter auf ein Minimum. Stellt er einige Monate später in einem Brief an Reinhard Piper die Frage „wie sieht ein Pferd die Welt, oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund?“[56], so versucht er sie hier bereits zu beantworten. Das entstofflichte und damit unverständliche Stück Land, das sich in diesem Pferdeportrait vor dem Beschauer auftut, zwingt ihn in Verbindung mit der ungewöhnlichen Nähe zum Tier dazu, die Natur durch seine Augen zu erleben. Von der künstlerischen Konvention, in einem Gemälde „Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsren Augen zugehört“, rückt Marc hier erstmals ab, um sich „in die Seele des Tieres zu versenken, um dessen Bildkreis zu erraten“.[57] Das Tier ist nicht mehr nur durch das Künstlerauge gesehenes Bildobjekt. Indem der Betrachter sich in seine Wahrnehmung hineinfühlen muss, subjektiviert er es. So erklärt sich wohl auch, warum Marc gerade diesem Mitglied der „Weidenden Pferde“[58] ein eigenes Gemälde widmet. Schon in den Vorarbeiten scheint die Rückenfigur seltsam entrückt und in Gedanken versunken. Durch den kontemplativen Ausdruck dieser Rückenfigur gelingt es Marc, dass sich auch der Betrachter die Frage „Wie sieht ein Pferd die Welt?“ stellen muss. Er spricht dem Tier eine eigene Art der Wahrnehmung, ein eigenes Seelenleben zu, „erhöht (es) zu sich“[59] und damit auch zu uns. Denn indem wir uns mit diesem „Pferd in der Landschaft“ identifizieren müssen, um die abstrakte Bildwelt durch seine Augen zu sehen und zu verstehen, messen wir seinen Empfindungen den gleichen Rang bei wie unseren eigenen. Einige Kritiker mögen von einer Vermenschlichung des Tieres in seinen Werken sprechen[60], doch dieser Terminologie hätte sich Franz Marc wohl weniger angeschlossen. Vielmehr ist es der menschliche Beschauer, der „animalisiert“ wird und zu einer Einheit mit dem Ross finden muss.
[...]
[1] Friedrich Nietzsche, Nietzsche’s Werke, 1. Abt. Band 5: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1895, S. 196.
[2] Vgl. Martin Müller, Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Schamanismus und Erkenntnis im Werk von Joseph Beuys (Diss. Köln 1993), Alfter 1993, S. 30.
[3] Nicht im Sinne der von Bellerophon besiegten Bestie, sondern als allgemeine Bezeichnung von Mischwesen.
[4] S. Abb. 1.
[5] Vgl. Friedrich Weltzien, Mollusken-Ich. Tierwerden als Metapher und Methode, in: Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, hrsg. von Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien und Heike Fuhlbrügge, Berlin 2008, S. 148ff.
[6] Kunstwerk aus einem oder mehreren Tintenklecksen.
[7] S. Abb. 2.
[8] Weltzien 2008, S. 144.
[9] Christian von Holst, „… der Hufschlag meiner Pferde“, in: Franz Marc. Pferde, Ausst.-Kat. Stuttgart 2000, hrsg. von Christian von Holst, Ostfildern-Ruit 2000, S. 35.
[10] Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Nomen est omen: Anacharsis-Cloots-Beuys, in: Joseph Beuys. Schamane, hrsg. von Dieter Buchhart und Hans-Peter Wipplinger, Nürnberg 2008, S. 9.
[11] Vgl. Lothar Käser, Animismus. Eine Einführung in die begrifflichen Grundlagen des Welt- und Menschenbildes traditionaler (ethnischer) Gesellschaften für Entwicklungshelfer und kirchliche Mitarbeiter in Übersee, Bad Liebenzell 2004.
[12] Im Totemismus geht der Gläubige eine dauerhafte Beziehung zu einem Totem (meist einem Tier) ein, dem er sich mythologisch verwandt oder magisch verbunden fühlt. Das Totem nimmt dabei meist die Rolle eines Beraters oder Beschützers ein, vgl. Neues Wörterbuch der Völkerkunde, hrsg. von Walter Hirschberg, Berlin 1988.
[13] Vgl. z.B. Reinhard Piper, Das Tier in der Kunst, München 1910.
[14] Günter Meißner (Hrsg.), Franz Marc. Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, Leipzig 1989, S. 141.
[15] Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hrsg.), Der Blaue Reiter, Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit, München 1979, S. 31.
[16] Holst 2000, S. 15.
[17] Holst 2000, S. 37.
[18] Holst 2000, S. 41.
[19] Klaus Lankheit, Franz Marc. Sein Leben und seine Kunst, Köln 1976, S. 28.
[20] S. Abb. 3.
[21] S. Abb. 4.
[22] S. Abb. 5.
[23] Figur der freien Dressur, bei der sich das Pferd verbeugt.
[24] Holst 2000, S. 58
[25] Meißner 1989, S. 30.
[26] Klaus Lankheit, Franz Marc. Schriften, Köln 1978, S. 98.
[27] Lat. „das Tier“.
[28] Holst 2000, S. 17.
[29] Lankheit 1978, S. 98.
[30] ebd.
[31] Holst 2000, S. 63.
[32] S. Abb. 6.
[33] Meißner 1989, S. 55.
[34] ebd.
[35] Lat. Seele.
[36] Erich Franz, Das Geistige im Leiblichen, in: Franz Marc und Joseph Beuys. Im Einklang mit der Natur, hrsg. von Cathrin Klingsöhr-Leroy und Andrea Firmenich, München 2011, S. 56.
[37] Vgl. Holst 2000, S. 70 ff.
[38] Meißner 1989, S. 48.
[39] Holst 2000, S. 80.
[40] Holst 2000, S. 111.
[41] Alle Holst 2000, S. 80.
[42] Heike Fuhlbrügge, Pet Utopia, in: Klingsöhr-Leroy, Firmenich 2011, S. 105.
[43] S. Abb. 7.
[44] Vgl. Holst 2000, S. 170 ff.
[45] S. Abb. 8.
[46] S. Abb. 9.
[47] S. Abb. 10.
[48] Meißner, 1989, S. 147.
[49] S. Meißner, 1989, S. 140f.
[50] Karin von Maur, Von der Weltanschauung zur Weltdurchschauung, in: Holst 2000, S. 207.
[51] Maur 2000, S. 214.
[52] Zitiert nach Kandinsky, Holst 2000, S. 38.
[53] Kandinsky und Marc 1979, S. 327.
[54] Vgl. Fuhlbrügge 2011, S. 106f.
[55] S. Abb. 11.
[56] Johannes Janssen, Deine glückseligen, blauen Pferde, in: Klingsöhr-Leroy, Firmenich 2011, S. 146.
[57] Ebd.
[58] S. Abb. 12.
[59] Zitiert nach Paul Klee, Holst 2000, S. 33.
[60] Vgl. Franz 2011, S. 55ff.
- Quote paper
- Marc Schlegel (Author), 2012, Das Tier im Künstler - Tiere als Alter Ego und Religionsfigur in der Kunst Franz Marcs, Max Ernsts und Joseph Beuys', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209847
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.