In diesem Skript werden die Inhalte des Seminars Vernehmungscoaching für die
anwaltliche Praxis – Teil I in komprimierter Form zusammengefasst. Das Seminar
will Hilfestellung dazu bieten, zukünftig in den eigenen anwaltsalltäglichen
Kommunikationssituationen vor Gericht und in anderen Lebensbereichen
souveräner agieren zu können.
Zu diesem Zweck werden Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften anhand
praktischer Fälle erläutert, die sich an lebensnahen Gesprächssituationen
orientieren. Eine Teilnahme an dem Seminar Vernehmungscoaching für die
anwaltliche Praxis – Teil II ist nicht erforderlich, die hier folgenden Darstellungen
praktisch nutzen zu können.
Das Seminar ist dabei so konzipiert, dass es sich nicht ausschließlich an
Strafverteidiger richtet, sondern vielmehr auch für diejenigen interessant ist, die
in anderen Rechtsgebieten tätig sind.
Die Ausführungen in diesem Skript stellen nur einen kleinen Auszug dessen dar,
mit welchen Problemen und Herausforderungen man alltäglich rechnen muss.
Weiterführende Literatur lässt sich dem Literaturverzeichnis auf Seite 6 f.
entnehmen. An zahlreichen Stellen finden sich Ausführungen, die z.T. aus
meinem Skript zum Seminar Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis
Teil II bzw. meinem Buch Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis
herrühren, das voraussichtlich in diesem Jahr erscheinen wird. Voraussichtlich im Winter 2013/2014 wird es einen dritten abschließenden Teil
dieser Vortragsreihe geben, in welchem schwerpunktmäßig die Abgrenzung von
Lüge und Irrtum sowie Aussagepsychologie dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Literaturverzeichnis
Vernehmungscoaching
A) Vorbereitung der Vernehmung
Aktenstudium und Aufarbeitung der Akte
Akteneinsicht
Inhaltsangaben
Checkliste
Erstellung eines Fragenkatalogs
Unterschiedliche Vorstellungsbilder
Fragen effektiv gruppieren
Planung von Vernehmungspausen
Die Crux mit dem Beweisthema
Individuelle Vernehmungsziele definieren
Vernehmungsalternativen
B) Analyse der Vernehmungssituation
Proxemik
Distanzverhalten
Blickvermeidung
Territorialität
Konfliktbewegungen
Eigenes Auftreten
Kleider machen Leute
Stimmhygiene
Situation des Mandanten
Eigene Steuerungsmöglichkeiten
Tonische Kommunikation
Oxytocin
Ein Lob auf die Eitelkeit
C) Durchführung der Vernehmung
Allgemeines zu Fragetechniken
Taktische Vorüberlegungen
Grundlegende Fragetechniken
Die verschiedenen Fragearten
Rechtliche Grenzen des Fragerechts
Erhebliche und unerhebliche Fragen
Die Ehre des Zeugen
Wiederholungsfragen
Die Unterbrechung von Fragen
Sprachliche Grenzen des Fragerechts
Negative Tatsachen
Schätzungen
Falsche Suggestionen
Der Indikativ, Worthülsen und das Wort „nicht“
Metaphorische Konzepte, Priming & Framing
Sonderfälle der Gesprächs- und Vernehmungsführung
Mit Kindern reden
Vernehmung von fremdsprachigen Personen
Vernehmung von Polizeibeamten
D) Nachbereitung der Vernehmung
Abgleich der Erkenntnisse
Formulierung neuer Fragen
Persönliches Resümee
Literaturverzeichnis
Ariely, Dan: Denken hilft zwar, nützt aber nichts – Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen, München 2010
Ariely, Dan: Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge – Wie wir andere täuschen und uns selbst am meisten, München 2012
Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München 2011
Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Pößneck 2010
Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren, Pößneck 2010
Bender, Rolf, Nack, Armin & Treuer, Wolf-Dieter Treuer: Tatsachenfeststellung vor Gericht, München 2007
Dahs, Hans: Handbuch des Strafverteidigers, Köln 2005
Damasio, Antonio R.: Der Spinoza-Effekt – Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin 2011
Damasio, Antonio R.: Descartes` Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 2010
Delfos, Martine F.: Sag mir mal – Gesprächsführung mit Kindern, Weinheim & Basel 2012
Dobelli, Rolf: Die Kunst des klaren Denkens, München 2011
Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens – Grundriss der Humanethologie, Vierkirchen-Pasenbach 2005
Fischer, Thomas: Schätzungen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, StraFo 2012, Seite 429-433
Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, München 2012
Gigerenzer, Gerd: Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2008
Habschick, Klaus: Erfolgreich Vernehmen – Kompetenz in der Kommunikations-, Gesprächs- und Vernehmungspraxis, Heidelberg 2010
Hamm, Rainer; Hassemer, Winfried und Pauly, Jürgen: Beweisantragsrecht, Heidelberg 2007
Kaplan, Ellen und Kaplan, Michael: Auf Fehler programmiert – Warum der Mensch irren muss; Reinbek bei Hamburg 2012
Kibed, Matthias Varga von; Sparrer, Insa: Ganz im Gegenteil – Tetralemmaarbeit und andere systemische Grundformen, Heidelberg 2011
Lakoff, George und Johnson, Mark: Leben in Metaphern – Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 2011
Martin, Leo: Ich krieg dich – Menschen für sich gewinnen, Ein Ex-Agent verrät die besten Strategien, Pößneck 2011
Meyer-Goßner, Lutz: Strafprozessordnung, München 2011
Möthrath, Jürgen; Rüther, Klaus und Bahr, Henning: Verteidigung ausländischer Beschuldigter, Köln 2012
Navarro, Joe: Menschen lesen – Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt, München 2010
Navarro, Joe: Menschen verstehen und lenken – Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache für den persönlichen Erfolg nutzt, Ulm 2011
Panksepp, Jaak: Affective Neuroscience – The Foundations of Human and Animal Emotions, Oxford 1998
Prior, Manfred: MiniMax-Interventionen – 15 minimale Interventionen mit maximaler Wirkung, Heidelberg 2011
Roggenwallner, Bernd und Pröbstl, Kathrin: Vernehmungscoaching, Münster 2008
Schulz v. Thun, Friedeman: Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen – Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 2008
Schacter, Daniel L.: Aussetzer – Wie wir vergessen und uns erinnern, Bergisch Gladbach 2005
Simon, Fritz B. und Rech-Simon, Christel: Zirkuläres Fragen – Systemische Therapie in Fallbeispielen: Ein Lernbuch, Heidelberg 2008
Sommer, Ulrich: Fragen an den Zeugen – Vorhalte an das Recht, StraFO März 2010, Seite 102-111
Traut, Marcus und Burkhard, Jörg: Verbot von Wiederholungsfragen contra Wahrheitsfindung, StraFO 2003, Seite 38 f.
v. Kanitz, Anja: Gesprächstechniken, Freiburg 2008
Voland, Eckart: Die Natur des Menschen – Grundkurs Soziobiologie, München 2007
Wendler, Axel und Hoffmann, Helmut: Technik und Taktik der Befragung im Gerichtsverfahren – Urteile begründen, Urteile prüfen. Lüge und Irrtum aufdecken, Stuttgart 2009
Vernehmungscoaching
Der Begriff Vernehmungscoaching ist nicht allgemein anerkannt. So stellen Roggenwallner und Pröbstl darauf ab, „dass Vernehmungscoaching zur Zielsetzung hat, Personen im juristischen Kontext - in erster Linie Strafverteidigern - das notwendige Handwerkszeug zu vermitteln, mithilfe dessen sie in ihren Kommunikationskontexten, d.h. im Rahmen von Gesprächen in der Haftanstalt bzw. Befragungen im Gericht etc., möglichst effektiv mit den ihnen gegenüberstehenden Personen kommunizieren können.“[1]
Vernehmungscoaching ist nicht auf den Bereich des Fragerechts zu beschränken. Zum weiteren Verständnis ist es hilfreich, diesen Begriff in Vernehmung und Coaching zu unterteilen:
Der Begriff der Vernehmung wird schon bei der Polizei umgangssprachlich nicht einheitlich verwendet. So wird die Vernehmung von Kindern als polizeiliche Anhörung, die von Jugendlichen und Erwachsenen hingegen als Vernehmung bezeichnet.[2] Formaljuristisch versteht man hierunter jede mündliche oder schriftliche gezielte Befragung einer Person über verfahrensrechtlich bedeutsame Umstände.[3]
Unter dem Begriff des Coachings wird auf wikipedia.de die „lösungs- und zielorientierte Begleitung von Menschen, vorwiegend im beruflichen Umfeld, zur Förderung der Selbstreflexion sowie der selbstgesteuerten Verbesserung der Wahrnehmung, des Erlebens und des Verhaltens“[4] verstanden.
Ein Existenzgründer kann ein Coaching eines Steuer- oder Unternehmensberaters in Anspruch nehmen, eine Fußballmannschaft durch ihren Fußballcoach motiviert oder ein Unternehmen durch Unternehmenscoaching in seinen betriebswirtschaftlichen Prozessen optimiert werden.
Auch dieser Begriff ist nicht allgemein anerkannt definiert und betrifft verschiedenste Lebensbereiche.
In den hier folgenden Darstellungen wird unter Vernehmungscoaching zusammenfassend folgendes verstanden:
Vernehmungscoaching betrifft den Kommunikationsprozess zwischen mindestens zwei Personen und die ihn beeinflussenden Umstände.
Vernehmungscoaching wird hier als Oberbegriff für sämtliche Kommunikationskontexte genutzt, die den Rechtsanwalt im Alltag beschäftigen können (Telefonate, Besprechungen, Vernehmungen etc.). Um in der Praxis effektiv mit diesem Begriff arbeiten zu können, halte ich es für sinnvoll, das Vernehmungscoaching in verschiedene Bereiche zu unterteilen, um ihm eine innere Struktur zu geben. Ich unterteile das Vernehmungscoaching wie folgt:
- Vorbereitung der Vernehmung
- Analyse der Vernehmungssituation
- Durchführung der Vernehmung
- Nachbereitung der Vernehmung
Alle gerade genannten Punkte sind Inhalte dieses Vortrages und sollen hier besprochen werden. In meinem Buch Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis kann man diese Punkte ausführlicher nachlesen.
Der Bereich der Durchführung der Vernehmung stellt den Hauptteil des Vernehmungscoachings dar. Hierbei geht es um solche Aspekte, auf die in der eigentlichen Vernehmungssituation selbst geachtet werden sollte. Schwerpunkte dieses ersten Seminars bilden daher u.a. Fragetechniken und rechtliche Aspekte der Zeugenbefragung, welche die Durchführung der Vernehmung betreffen.
Diese erläutere ich ebenfalls detaillierter in meinem Buch Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis.
Das Seminar Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis – Teil II beschäftigt sich dagegen vornehmlich mit der Art und Weise, wie wir mit unseren Mitmenschen kommunizieren:
Schwerpunkte dort sind Gesprächs-, Suggestions- und Manipulationstechniken, nonverbaler und emotionaler Kommunikation sowie Gedächtnisfehlleistungen und werden daher fortan nicht näher dargestellt.
A) Vorbereitung der Vernehmung
Jede Vernehmung bedarf einer Vorbereitung - es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um die Vernehmung von Augenzeugen eines Verkehrsunfalls, eines Polizeibeamten in einem OWi-Verfahren oder eines Kriminalbeamten in einem Strafverfahren bzw. das Gespräch mit dem Mandanten in der eigenen Kanzlei handelt. Alle diese Gesprächssituationen sind Vernehmungen in dem hier dargestellten Sinne.[5]
In diesem Skript möchte ich auf folgende besonders praxisrelevante Maßnahmen hinweisen, die man im Vorfeld einer Vernehmung berücksichtigen sollte:
- Aktenstudium und Aufarbeitung der Akte
- Erstellung eines Fragenkatalogs
- Planung von Vernehmungspausen
- Individuelle Vernehmungsziele definieren
Je nach Gesprächskontext kann es erforderlich sein, nur ein paar der vorgenannten Punkte zu beachten. Es empfiehlt sich jedoch, diese Punkte zumindest kurz gedanklich durchzugehen, wenn Vernehmungen vorbereitet werden sollen und für eine solche Tätigkeit auch Zeit zur Verfügung steht. Es wird immer wieder Situationen geben, in denen eine Gesprächsvorbereitung ausscheidet, bspw. im Falle eines überraschenden Telefonanrufes oder ein (Neu-) Mandant, der plötzlich mit einem Anliegen höchster Dringlichkeit vor der Türe steht. Dann ist eine gründliche Gesprächsvorbereitung per se nicht möglich.
Bei den folgenden Ausführungen wird daher stillschweigend vorausgesetzt, dass der Anwalt die zeitliche und arbeitslogistische Möglichkeit hat, die anstehende Vernehmung vorzubereiten.
Aktenstudium und Aufarbeitung der Akte
Fall 1: „Die grüne Ampel – Teil I“
Ihr Mandant, der 68-jährige pensionierte Oberstudienrat Herr X, hatte mit 65 Jahren beschlossen, erstmalig seinen Führerschein zu machen. In der Folgezeit ergab sich erhöhter anwaltlicher Beratungsbedarf für Herrn X: Mehrmals pro Jahr geriet Herr X – natürlich „völlig unschuldig“ -nach Ihrer Einschätzung jedoch aufgrund fehlender Fahrpraxis- in brenzlige Verkehrssituationen. Sie haben Herrn X bisher immer raushauen können und genießen daher sein Gottvertrauen.
Nun kommt Herr X zu Ihnen in die Kanzlei und schildert Ihnen im ersten Beratungsgespräch für den (neuen) Fall, dass „die Ampel grün war und dieser langhaarige Pkw-Fahrer seinen Führerschein auf dem Rummelplatz gewonnen hätte, da er ganz offensichtlich eine rote Ampel missachtet habe. Er sei ja schließlich pensionierte Beamter ohne langen Haare und daher kann man diesem Kerl ja sowieso nicht glauben, außerdem sei der Richter schließlich auch Beamter, da hält man doch zusammen“.
Nach Lage der Dinge hat die Polizei beide Unfallbeteiligten verwarnt, da diese wegen fehlender (Augen-) Zeugenaussagen nicht klären konnte, bei welchem Signallicht die beiden Unfallbeteiligten jeweils in den Kreuzungsbereich eingefahren und in der Mitte der Kreuzung zusammengestoßen sind. Es wurde wegen der beiderseitigen mutmaßlichen Verkehrsverstöße gegen § 1 II StVO eine Akte durch die Polizei angelegt. Diese liegt Ihnen nun vor, da Herr X sich gegen den Vorwurf eines Verkehrsverstoßes gegen § 1 II StVO wehren will.
Frage: Welche Möglichkeiten bestehen aus Ihrer Sicht, diese Akte für zukünftige Vernehmungen bspw. vor Gericht aufzubereiten?
Akteneinsicht
Das sorgfältige und gewissenhafte Studium einer Akte – sofern bereits vorhanden - stellt das solide Fundament für eine später erfolgende Vernehmung dar. Stellen Sie unbedingt sicher, dass Sie im Vorfeld gerichtlicher Vernehmungen noch einmal haben Akteneinsicht nehmen können.
Damit gewährleisten Sie, dass Sie keine Unterlagen übersehen, die ggfs. erst dann in die Akte gelangten, nachdem Ihnen diese zur Einsichtnahme vorlag. Sie vermeiden dadurch die Gefahr, in der Vernehmungssituation eine böse Überraschung zu erleben, weil z.B. nachträglich noch eine für den Mandanten eher ungünstige Zeugenaussage in die Akte gelangte.
Diese Möglichkeit besteht immer, da Sie eine amtliche Verfahrensakte zu einem bestimmten Zeitpunkt x erhalten, dann zum Zeitpunkt y zurücksenden. Wenn nun später, zum Zeitpunkt z, noch weiteres verfahrensrelevantes Material in die Akte gelangen sollte, können Sie von diesem ggfs. keinerlei Kenntnis nehmen. Es ist keinesfalls sicher, dass Dritte wie z.B. die Staatsanwaltschaft Ihnen von sich aus noch neues Material übersendet. Dahinter stecken regelmäßig keine bösen Absichten, denn sie hatten ja die Akte, was sich durch Zahlung der Versendungspauschale durch Ihre Kanzlei schon bei oberflächlicher Betrachtung ergibt. Daher folgende Praxis-Tipps:
- Tipp:
Ich verfahre in der Praxis gelegentlich so, dass ich kurz vor dem Termin mit dem zuständigen Richter telefoniere und frage, ob die Möglichkeit besteht, die Akte auf der Geschäftsstelle noch einmal einzusehen.
Manche Richter überlassen einem sogar die Akte am Tage der Verhandlung mit der Bitte, diese pünktlich zum Termin wieder zurückzubringen und spätestens im Sitzungssaal zurückzugeben.
Gelegentlich wird dabei von Richtern vergessen, die eigenen handschriftlichen Notizen aus der Akte zu entfernen, die u.a. Aufschluss darüber geben können, welchen Zeugen welche Fragen seitens des Gerichts gestellt werden sollen. Hierdurch erhalten Sie ggfs. vorab wichtige Informationen und wissen, was für den Richter derzeit entscheidungserheblich ist. Auch Richter bereiten ihre Vernehmungen vor.
- Tipp:
In der Praxis empfiehlt es sich, eine Akte nach erstmaliger Überlassung mit folgendem Passus zurückzusenden:
„(…) wird anliegend die Ermittlungsakte mit Dank zurückgesandt.
Sollte noch verfahrensrelevantes Material nachträglich zur Akte gelangen, wird bereits jetzt
ergänzende Akteneinsicht
beantragt. (…)“
Mit einem solchen Gesuch auf ergänzende Akteneinsicht können Sie sicherstellen, noch einmal die Akte zu erhalten, falls nach Ihrer Einsichtnahme (Zeitpunkt x, vgl. oben) später noch (Zeitpunkt z, vgl. oben) weiteres Material hinzugefügt wird.
Achten Sie auch darauf, ob auf der Rückseite der Aktenblätter handschriftliche Notizen/Verfügungen o.ä. des zuständigen Staatsanwalts oder Richters zu finden sind. Diese können wichtige Aufschlüsse geben, was der jeweilige Dezernent von der Sache hält . Dies empfiehlt sich insbesondere, wenn die Akte eingescannt werden soll. Nach meinem Kenntnisstand scannen die meisten Geräte nur die Vorderseiten ein, dann stehen solche Notizen später nicht mehr zur Verfügung und fallen der Vergessenheit anheim.
Inhaltsangaben
Es empfiehlt sich in fast allen Fällen, besonders aber in umfangreichen Strafverfahren, eine Inhaltsangabe der Akte zu fertigen.
Der entscheidende Vorteil einer solchen Inhaltsangabe besteht darin, dass Sie die Möglichkeit haben, die Akte kurz vor dem Termin bzw. während der Vernehmung selbst schnell rekapitulieren zu können.
Bedenken Sie dabei, dass zwischen dem ersten Lesen der Akte und der Vernehmung ein längerer Zeitraum verstrichen sein kann. Ihre Erinnerung an den Inhalt der Akte kann zwischenzeitlich gelitten haben. Eine Inhaltsangabe könnte in unserem Beispielsfall wie folgt aussehen:
Beispiel: Inhaltsangabe
Seite/ Inhalt:
1-4 Verkehrsordnungswidrigkeitenanzeigen gegen Herrn X und Herrn Y Anzeige durch Herrn PHK Mustermann vom (Datum)
5 Eindrucksvermerk Frau PKin Musterfrau vom (Datum) betreffend Herrn Y, sie gibt an, dass Herr Y mit verschiedenen Personen telefonierte, später erschienen am Unfallort auch Dritte, die am Unfall nicht beteiligt waren
6-9 unwichtig
10 Eindrucksvermerk Herr PHK Mustermann betreffend Herrn X, gibt an, dass Herr X sich eher ruhig und sachlich verhalten haben
11-13 unwichtig
14 Schreiben RA Schlau mit Akteneinsicht
15 eigenes Akteneinsichtsgesuch
16-19 unwichtig
20 Vermerk der Polizei über Telefonat PHK Mustermann mit RA Schlau vom (Datum), im Moment keine Verfahrensrelevanz erkennbar
21-25 unwichtig
26 Vermerk der Polizei über Anruf des Herrn Y bei der Polizei (Datum), Herr Y gibt nun an, dass er mit einem Kumpel nochmal an der Ampel war und sie bei einer Begehung der Ampel festgestellt haben, dass Herr X vielleicht auf den falschen Signallichtkasten geachtet haben könnte, weil er, Herr Y, bei Grün gefahren sei und zu diesem Zeitpunkt Herr X rot gehabt habe
27-30 unwichtig
31-34 weitere Behördenschreiben, im Moment keine Verfahrensrelevanz erkennbar
35 Vermerk Polizei über Telefonat Herr X mit der Polizei vom (Datum), (von dem Gespräch hatte Herr X ihnen nichts berichtet), er gibt an, dass seine Ehefrau kurz nach dem Unfall ausgestiegen und zu einem Termin gelaufen sei, zu dem sie dringend gemusst hätte, sie solle doch bitte vernommen werden, da sie bezeugen kann, dass der Y bei Rot gefahren sei, Rest Blödsinn
36-39 unwichtig
40 Schreiben RA Schlau für Herrn Y mit Angaben zum Unfallhergang aus Sicht des Herrn Y vom (Datum), RA schreibt, dass Herr Y definitiv alleine im Auto saß, Rest Wiederholungen
41-45 unwichtig
(etc.)
Sie können die Effektivität einer solchen Inhaltsangabe wie folgt schnell selbst testen:
Überlegen Sie bitte, wie lange Sie benötigen würden, um den Vermerk der Polizei über ein Telefonat mit Herrn X vom (Datum) zu finden. Jetzt überlegen Sie bitte, wie lange Sie stattdessen benötigen würden, um diesen Vermerk der Polizei über ein Telefonat mit Herrn X vom (Datum) zu finden, so wie es in der obigen Inhaltsangabe geschrieben steht. Merken Sie den signifikanten Unterschied?
Der Clou an solchen Inhaltsangaben ist einerseits, dass Wichtiges fett geschrieben steht, die genauen Fundstellen benannt sind und noch kurze Zusammenfassungen von dem erfolgen, was von anderen Personen behauptet, geschrieben, vermerkt etc. worden ist.
Eigenes Verfahrensbeispiel:
In einem strafrechtlichen Umfangsverfahren mit über 50 Verhandlungstagen hatte ich die Akten erstmals gegen Oktober/November 2007 erhalten. Zu diesem Zeitpunkt (Oktober/November 2007) erstellte ich ausführliche Inhaltsangaben der einzelnen Akten (es waren zu diesem Zeitpunkt bereits über 20 DIN A4-Ordner) nach obigem Muster.
Das Verfahren begann erst im Januar 2009. Im Ergebnis musste ich die Ermittlungsakten nur ein einziges Mal sorgfältig lesen und konnte über ein Jahr später mithilfe der Inhaltsangaben auch mehrere tausend Seiten in wenigen Minuten wiederholen, um die Aussage eines bestimmten Zeugen, Beweismittel o.ä. aufzufinden (Ich „scannte“ quasi meine Inhaltsangaben nach diesen fett geschriebenen Zeugen, Beweismitteln o.ä. und las hierfür lediglich die hervorgehobenen Textteile).
Checkliste
Gelegentlich empfiehlt es sich, zusätzlich zu einer Inhaltsangabe auch noch eine Checkliste zu erstellen. Eine solche Liste kann Ihnen einen Gesamtüberblick über das Verfahren verschaffen und ist hilfreich, wenn Ihnen nur wenig Zeit zur Verfügung steht, nach bestimmten Zeugen, Vorgängen, Urkunden etc. in der Akte zu suchen. Eine Checkliste könnte z.B. wie folgt aussehen:
Beispiel: Checkliste
Zeugen
Frau Mustermann 17-20, 58, 112
Herr Mustermann 31, 99-100
(…) etc.
Beweismittel
DNA-Untersuchung 200-203
LKA-Bericht 152
(…) etc.
Anwaltsschreiben
RA Hans 40-41, 88
RA Wurst 46-49, 94, 116-117
(etc.)
In z.B. umfangreichen Strafverfahren finden sich ähnliche Vermerke der Staatsanwaltschaft manchmal am Ende des letzten Aktenbandes. Es ist daher sinnvoll, bei Erhalt einer Umfangsakte zunächst die letzte Ermittlungsakte herauszusuchen und nach einem solchen Vermerk Ausschau zu halten.
Erstellung eines Fragenkatalogs
Fall 1: „Die grüne Ampel – Teil II“
In unserem Unfall-Fall mit Herrn X haben Sie die Ermittlungsakte vorliegen. Nach Aktenlage waren beide beteiligten Fahrzeugführer in ihren Kfz alleine unterwegs.
Die verständigten Polizeibeamten trafen erst einige Zeit nach der eigentlichen Kollision an der Vorfallstelle ein.
Fragen: Von welchen taktischen Überlegungen lassen Sie sich leiten, wenn es um die Vorbereitung von Fragen an den Unfallgegner Y bzw. die Polizeibeamten geht? Was ist dabei grundsätzlich zu beachten?
Nicht nur in einem umfangreichen Strafverfahren, sondern auch bei der Befragung von Unfallzeugen und Polizeibeamten in Ordnungswidrigkeiten-verfahren empfiehlt es sich in der Regel, einen Fragenkatalog zu erstellen. Wenn Sie bspw. wie oben geschildert Inhaltsangaben gefertigt haben, haben Sie vielleicht schon Anhaltspunkte für Fragen, welche Sie den beteiligten Personen vorlegen wollen.
Aus mehreren Gründen ist es empfehlenswert, im Vorfeld einer Vernehmung die Fragen vorzuformulieren, weil
- Fragen parallel zur laufenden Vernehmung zu formulieren wesentlich schwieriger ist,
- der genaue Wortlaut von Fragen in Ruhe überlegt werden kann,
- im Eifer der Hauptverhandlung keine wichtigen Fragen vergessen werden und
- vorab taktische Überlegungen in die sprachlichen Formulierungen und Gruppierung der Fragen einfließen können.
Hierzu im Einzelnen wie folgt:
Zeugenvernehmungen vor Gericht können für alle Beteiligten in hohem Maße physisch und psychisch anstrengend ausfallen. Je nach Einzelfall kann die Situation vorliegen, dass Sie gehalten sind, während Sie einen Zeugen befragen, parallel mit ihrem Mandanten reden, das Verhalten des Gerichts oder anderer Verfahrensbeteiligter beobachten bzw. berücksichtigen und gleichzeitig bereits neue Fragen konzipieren müssen.
Aus diesen Gründen ist es wesentlich einfacher, vorformulierte Fragen abzulesen, als diese unmittelbar vor ihrer Stellung erst kreieren zu müssen.
Bei dieser vorbereitenden Tätigkeit können Sie außerdem in Ruhe überlegen, wie der genaue Wortlaut der Frage aussehen soll. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die im Rahmen einer Vernehmung gestellt werden können. Es ist daher wichtig, sich bereits im Vorfeld der Vernehmung nicht nur genau zu überlegen, welche Fragen bzw. welche nicht gestellt werden sollen, sondern auch, welche Formulierungen dabei zum Einsatz kommen sollen.
Unterschiedliche Vorstellungsbilder
Allein durch die Verwendung bestimmter Wörter/Phrasen etc. kann auf das Vorstellungsbild eines anderen Menschen Einfluss genommen werden. Sie müssen bedenken, dass menschliche Kommunikation niemals zweckfrei ist,[6] sondern ein Wechselwirkungsgeschäft mehrerer Beteiligter darstellt, bei dem individuelle Verhaltensweisen interaktionsbedingt sind.[7]
Denken Sie bspw. nur an einen rechtsunkundigen Zeugen, der mit Fragen behelligt wird, welche die Begriffe Besitz und Eigentum beinhalten. Was Besitz und Eigentum für diesen Zeugen bedeutet, wird voraussichtlich nicht deckungsgleich mit dem sein, wie rechtskundige Verfahrensbeteiligte diese beiden Begriffe verstehen und verwenden.
- Tipp:
Fragen Sie nach Unterschieden, denn wer hiernach fragt, gewinnt regelmäßig weitergehende Informationen.
Gerade wenn Begriffe verwendet werden, die scheinbar klar in ihrer Bedeutung sind, besteht die Gefahr, dass man seinen Gesprächspartner zu schnell zu verstehen glaubt - was bspw. für einen Gerichtspsychiater „manisch-depressiv“ bedeutet, muss überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was eine von diesem explorierte Person hierunter versteht.[8]
Die Fragen an einen Zeugen z.B., „Was bedeutet für Sie Besitz/Eigentum/Fahrlässigkeit/vorbestraft zu sein etc.?“ oder „Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum/Vorsatz und Fahrlässigkeit etc.?“ sind durchaus berechtigt, weil der Zeuge gehalten ist, durch die Beantwortung solcher Fragen Dritte an seinem Innenleben teilzuhaben. Die folgenden Angaben könnten aufschlussreich und Anlass für Folgefragen sein.
Hier ist ein Hinweis dahingehend erlaubt, dass das Verhalten von Menschen nicht maßgeblich von dem bestimmt wird, was andere Leute tatsächlich denken, sondern von dem, was sie denken, was die anderen denken.[9] Deswegen sind Fragen nach Unterschieden je nach Gesprächssituation ein probates Mittel, die betreffende Auskunftsperson zu öffnen bzw. diese anzuhalten, umfassender oder detaillierter auszusagen.
Durch die sorgfältige Vorbereitung eines Fragenkatalogs bzw. mehrerer Fragenkataloge laufen Sie nicht Gefahr, eine wichtige Frage zu vergessen:
Ist beispielsweise ein Zeuge in einem strafrechtlichen Gerichtsverfahren erst einmal entlassen, endet Ihr Fragerecht.[10] Daher ist bei Zeugenvernehmungen vor Gericht unbedingt darauf zu achten, ob wirklich alle erforderlichen Fragen gestellt werden konnten. Nötigenfalls müssen Sie darauf hinwirken, dass der Zeuge noch nicht endgültig entlassen wird, sondern diesem lediglich gestattet wird, sich zu entfernen. In einer solchen Konstellation ist erforderlichenfalls ein Rechtsgespräch mit dem erkennenden Gericht zu führen, in welchem Sie dem Gericht Ihre Beweggründe für dieses Prozessverhalten erläutern können.
Fragen effektiv gruppieren
Bei der Vorbereitung von Fragen ist nicht nur der genaue Wortlaut der einzelnen Frage von Bedeutung, sondern es bestehen verschiedene Möglichkeiten, Gruppen von Fragen in einem Fragenkatalog zusammenzufassen. Im Zweifelsfalle empfiehlt es sich, Fragen chronologisch zu ordnen, d.h., in einem Fragenkatalog mit beispielsweise 12 Fragen wäre die Frage Nr. 1 die zeitlich „älteste“, Frage Nr. 12 die zeitlich „jüngste“. Ein chronologischer Fragenkatalog könnte dabei wie folgt beschaffen sein:
Beispiel: Chronologischer Fragenkatalog
1. Wann haben Sie zum ersten Mal auf die Ampel geschaut?
2. Auf welchen Ampelkasten haben Sie geachtet?
3. Gibt es mehrere Ampelkästen?
4. Wann haben Sie den anderen Pkw erstmalig wahrgenommen?
5. Wie viele Personen saßen im anderen Pkw?
6. Wie kam es zu dem Zusammenstoß der Fahrzeuge?
7. Wo genau kam es zur Kollision?
8. Wer hat die Polizei verständigt?
9. Was haben die Beamten Sie gefragt?
10. Wie hat der Unfallgegner auf den Unfall reagiert?
11. Ist nach dem Unfall noch etwas passiert?
12. Wann haben Sie die Unfallstelle verlassen?
Der prozesstaktische Vorteil eines solchen Fragenkataloges besteht darin, dass Sie die Option haben, die 12 im Beispiel oben genannten Fragen auf immerhin drei verschiedene Möglichkeiten zu stellen:
Sie können tatsächlich chronologisch befragen (Frage Nr. 1, Frage Nr. 2, Frage Nr. 3 etc.), quasi "bunt durcheinander“ (Frage Nr. 8, Frage Nr. 1, Frage Nr. 12 etc.) oder auch inversiv[11] befragen, indem Sie die Fragen in umgekehrter Reihenfolge vorlegen (Frage Nr. 12, Frage Nr. 11, Frage Nr. 10 etc.). Ebenfalls können Sie jederzeit - sofern der chronologische Fragenkatalog ausreichend umfangreich ist - von einer der drei gerade genannten Befragungsarten auf eine andere wechseln. Solche vernehmungstaktischen Manöver sind selbstredend dann nicht möglich, wenn Sie Ihre Fragen erst während laufender Vernehmung vor Gericht formulieren. Ein chronologischer Fragenkatalog verschafft Ihnen eine gewisse Flexibilität und befähigt Sie, gezielt zu agieren und nicht nur zu reagieren.
Bei der Vorformulierung von Fragen anlässlich von Zivilverfahren empfiehlt es sich, kurz gedanklich die Beweislastverteilung zu prüfen, damit Sie im Eifer des Gefechts nicht Fragen an Zeugen stellen, für die die von Ihnen vertretene Partei gar nicht beweisbelastet ist.
Bezogen auf unseren Beispielsfall ist daher zwingend die Befragung des Unfallgegners (Y) und die der Polizeibeamten zu unterscheiden. Nur der Unfallgegner kann Angaben zum eigentlichen Vorfall machen, da die Polizeibeamten erst nach der Kollision am Vorfall eintrafen. Letztere können gegebenenfalls ergänzende Angaben zur Endstellung der Fahrzeuge oder dem Verhalten des Unfallgegners nach dem eigentlichen Unfallgeschehen beantworten.
Der Fragenkatalog, welcher dem Unfallgegner Y vorgelegt werden soll, ist daher der entscheidende und sollte sorgfältig, auch unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Beweislastverteilung, vorbereitet werden.
Planung von Vernehmungspausen
Fall 1: „Die grüne Ampel – Teil III“
In unserem Verkehrsunfall haben Sie zwischenzeitlich chronologische Fragenkataloge vorbereitet.
Sie überlegen nun terminvorbereitend, wie Sie die Fragenkataloge in der eigentlichen Vernehmungssituation vor Gericht präsentieren wollen.
Fragen: Ziehen Sie es in Erwägung, hierbei Vernehmungspausen einzulegen? Wenn ja, für welche Fälle/Situationen?
Je nach Einzelfall kann es mitunter sinnvoll sein, frühzeitig Vernehmungspausen einzuplanen.
Wie Roggenwallner/Pröbstl zutreffend ausführen, sollte man sich nicht scheuen, sich zu Beginn einer professionellen Karriere (aber auch später, eig. Anmerkung) erforderlichenfalls Gelegenheit zu geben, Gespräche zu unterbrechen, um eine oder zwei Minuten des Nachdenkens nutzen zu können:
„Sich Raum zu nehmen, um Überlegungen anzustellen und seine Gedanken zu ordnen, zeugt davon, dass der Betroffene seine Möglichkeiten kompetent und besonnen auslotet und sich nicht in den Sog unprofessioneller Hektik ziehen lässt.“[12]
So arbeiten z.B. Therapeuten derart, dass vor Abschluss einer Behandlungssitzung eine Pause gemacht wird, da häufig erst ein gewisser Abstand vom Handlungsdruck während der Sitzung ermöglicht, in Ruhe das Gehörte und Gesehene zu überdenken.[13] Außerdem kann man erst während dem Nachhauseweg geistig reflektieren, was man noch hätte fragen können oder sagen sollen.[14]
Diese Methodik kann auch auf die Gesprächssituationen übertragen werden, mit denen Anwälte konfrontiert werden, sei es das Mandantengespräch in der eigenen Kanzlei, sei es die Vernehmung eines Zeugen in einem Gerichtsverfahren:
Wenn Sie z.B. einen Zeugen in einem Strafverfahren zu verschiedenen Tatkomplexen befragen wollen, könnte es sich anbieten, die Befragung jeweils dann zu unterbrechen, wenn ein Tatkomplex erschöpfend befragt wurde. Dann bestünde die Möglichkeit, während einer kürzeren oder längeren Pause zu überdenken, ob sich ggfs. weitere Fragen aus der bisherigen Vernehmung ergeben haben, die Sie der Auskunftsperson nach der Pause noch stellen möchten.
Oder man könnte in einem Zivilverfahren - wie vorliegend - dann eine kurze Pause einlegen, wenn der Zeuge erschöpfend zum eigentlichen Geschehen befragt worden ist. Nach der Pause könnten dann z.B. Fragen betreffend dem Geschehen vor oder nach dem eigentlichen Unfall gestellt werden. Letzteres hängt allerdings von der Komplexität des Sachverhaltes ab. Nicht immer wird es der betreffende Fall ermöglichen, überhaupt zahlreiche Fragen an Zeugen vorlegen zu können.
Die Crux mit dem Beweisthema
Außerdem besteht weiter die Gefahr, dass der Vorsitzende Richter eine zu ausführliche Befragung beanstandet, da diese angeblich „nichts mit dem Beweisthema zu tun habe“. Hierzu folgender
- Tipp:
Vernehmungen von Zeugen in zivilrechtlichen Verfahren können schnell den Widerspruch des Gerichts provozieren, wenn die Befragung etwas engagierter ausfällt. Dem Vorwurf des Gerichts, man würde Fragen in Missachtung des Beweisthemas vorlegen, darf und sollte man sich nicht ohne weiteres beugen.
Hilfreich ist regelmäßig ein rechtlicher Hinweis auf die Vorschrift des § 395 II S. 1 ZPO. Nach dieser Norm sind Zeugen erforderlichenfalls solche Fragen vorzulegen, die ihre Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache, insbesondere ihre Beziehung zu den streitenden Parteien, betreffen.
Daher kann man sich den Hinweis erlauben, dass die eigenen Fragen darauf abzielen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu überprüfen und damit ein de lege lata zulässiges Vernehmungsziel verfolgen.
Eine Vernehmungspause sollte jedenfalls dann nicht eingeplant bzw. beantragt werden, wenn es um besonders wichtige Bereiche geht und die Auskunftsperson in Aussagesituation hineinmanövriert werden soll, aus der es kein Entrinnen mehr gibt oder damit man dieser bspw. Vorhalte machen kann.
Dem Zeugen die Möglichkeit zu eröffnen, seine Schilderungen neu zu ordnen - oder sich neue Lügengeschichten in der Pause auszudenken -, wäre äußerst unprofessionell. Es hängt daher von den Umständen der jeweiligen Vernehmung ab, wann eine Vernehmungspause gemacht/beantragt werden soll und wann besser nicht. Eine pauschale Handlungsempfehlung kann daher nicht ausgesprochen werden.
Individuelle Vernehmungsziele definieren
Fall 1: „Die grüne Ampel – Teil IV“
Sie haben Fragenkataloge für die Vernehmungen der verschiedenen Aussagepersonen angelegt und sich auch überlegt, wann es sinnvoll sein könnte, Vernehmungspausen einzulegen.
An dieser Stelle ist spätestens die abstrakte Überlegung anzustellen, „wohin die Reise eigentlich hinführen soll“:
M.a.W. sollten Sie überdenken, welchen Erkenntnisgewinn Sie sich von den verschiedenen Vernehmungen versprechen und was das Ziel Ihrer Vernehmungen sein soll.
Frage: Von welchen prozesstaktischen Überlegungen lassen Sie sich hierbei leiten?
Grundsätzlich sollten Sie für jede Auskunftspersonen ein individuelles Vernehmungsziel bestimmt haben, bevor die eigentliche Vernehmung beginnt.
Von der Vernehmung eines Polizeibeamten z.B., welcher den Rotlichtverstoß ihres Mandanten (gerade nicht) bezeugen soll, erwarten Sie selbstredend einen anderen Erkenntnisgewinn als von der im Fahrzeug Ihres unschuldigen Mandanten sitzenden aktuellen Lebensabschnittsgefährtin.
Diese vorbereitende Tätigkeit sollte anlässlich zivilrechtlicher Verfahren sich durchaus an der Beweislastverteilung orientieren. Es kann einen schweren handwerklichen Fehler darstellen, wenn Sie Fragen zu Bereichen stellen, zu welchen die eigene Partei vielleicht gar nicht darlegungs- und beweisbelastet ist.
Vernehmungsalternativen
Bei der Definition des Vernehmungsziels sollten Sie Alternativen berücksichtigen bzw. in Alternativen denken:
[...]
[1] Roggenwallner/Pröbstl, Vernehmungscoaching, Seite 28
[2] Habschick, Erfolgreich Vernehmen, Seite 84
[3] BGHSt 29, 230, 232
[4] Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Coaching
[5] Vgl. oben, Seite 9
[6] Bauer, Ich krieg dich, Seite 16
[7] Schulz v. Thun, Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Seite 83
[8] Diese Überlegungen orientieren sich an einer therapeutischen Befragungstechnik, vgl. Simon/Rech-Simon, Zirkluäres Fragen, Seite 23
[9] Zirkuläres Fragen, Seite 21
[10] BGHSt 15, 163
[11] Es handelt sich um eine eigene Wortkreation und keine allgemein anerkannte Befragungstechnik
[12] Roggenwallner/Pröbstl, Vernehmungscoaching, Seite 17
[13] Simon/Rech-Simon, Zirkuläres Fragen, Seite 17
[14] Simon/Rech-Simon, Zirkuläres Fragen, Seite 17
- Arbeit zitieren
- dipl. iur. Bertil Jakobson (Autor:in), 2013, Zum Vortrag "Vernehmungscoaching für die anwaltliche Praxis - Teil I", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209192
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