Sowohl die athenaion politeia, als auch Herodot nennen als Begründer der griechischen Demokratie Kleisthenes aus dem Adelsgeschlecht der Alkmeoniden, über dessen Persönlichkeit wir wenig wissen. Nach dem Sturz der Tyrannis kam es zu einem Kampf um die politische Vorherrschaft zwischen Isagoras und jenem Kleisthenes, den dieser aufgrund seiner Reformvorschläge und der daraus resultierenden Unterstützung des Volkes gewinnt: „So hatte er durch seine Hinneigung zum Volk die Gegenpartei weit überflügelt.“ Obwohl Kleisthenes nach seinem politischen Wirken in Athen rasch in Vergessenheit geraten zu sein scheint , stellen seine Reformen doch einen Wendepunkt in der Geschichte des antiken Griechenland dar. Sie markieren den Übergang von der archaischen zur klassischen Zeit. Der Sturz der Tyrannis ist dabei recht sicher für das Jahr 510 v. Chr. belegt. Die Reformen werden von der athenaion politeia für das Jahr 508/7 datiert.
Es wurde dabei nicht nur ein neues politisches System geschaffen. Mit den Reformen waren weit reichende Konsequenzen auch für das Heerwesen und andere Bereiche des öffentlichen Lebens im attischen Bürgerstaat verbunden. Wie eng die politischen Reformen mit Neuerungen im Bereich des Militärs und kultisch-religiösen Aktivitäten verknüpft waren, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Die Frage nach dem Gegenstand der kleisthenischen Reformen ist mitnichten beschränkt auf eine geopolitische Neugliederung, so bemerkenswert diese auch war. Im Zuge der politischen Neustrukturierung wurde eine Fülle weiterer Reformen in den Bereichen Politik, Militär und den verschiedenen Kulten und Festen durchgesetzt.
Im dritten Kapitel soll dargestellt werden, wie die neue politische Struktur auf das Heerwesen übertragen wurde. War eine Umstrukturierung des Militärs entscheidend für die militärischen Erfolge Athens in den folgenden Jahren?
In der Zeit der Reform ereignete sich eine Vielzahl von Veränderungen im religiös-kultischen öffentlichen Leben. Das entsprechende Kapitel soll zeigen, in welchem Zusammenhang sie mit der Phylenreform stehen. Hier soll die Konzentration auf jene Veränderungen gelegt werden, von denen ein direkter Bezug zur Reform des Kleisthenes hergestellt werden kann.
Inhalt
I. Einleitung
II. Veränderungen des Politischen
II.1. Die Gliederung in Demen, Trittyen und Phylen
II.1.1. „Demokratie an der Graswurzel“: Die Demen
II.1.2. „Überlokale Bindeglieder“: Die Trittyen
II.1.3. Vermischung der Bürgerschaft: Die Phylen
II.2. Die Effekte der Reformen für die politischen Institutionen
II.2.1. Der Rat der 500 (boule)
II.2.2. Die Volksversammlung
II.2.3. Ostrakismos
II.3. Die Macht des Adels gebrochen?
III. Konsequenzen der Reformen für das Militär
III.1. Die Neustrukturierung des Heeres
III.2. Militärische Erfolge als Folge der Reformen?
IV. Veränderungen des öffentlichen Lebens im Kontext der Phylenreform
IV.1. Staatskulte
IV.1.1. Die Bestattung der Kriegsgefallenen von
IV.1.2. Die zehn Phylenheroen
IV.1.3. Der Tyrannenmörderkult
IV.2. Kulturpolitik: Erweiterung der Feste
IV.2.1. Die Dionysien
IV.2.2. Die Panathenäen
IV.2.3. Zusammenfassung
V. Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Infolge dieser Maßnahmen wurde die Verfassung viel demokratischer als die Solons“.[1] Die Rede ist von den Reformen des „Kleisthenes, der die Phylen in Athen schuf und die Demokratie einrichtete“[2]
Sowohl die athenaion politeia, als auch Herodot nennen also als Begründer der griechischen Demokratie jenen Kleisthenes aus dem Adelsgeschlecht der Alkmeoniden, über dessen Persönlichkeit wir mangels einer Biographie, wie sie etwa für große Reformer vor und nach ihm, Solon und Ephialtes, verfasst wurden, wenig wissen. Nach dem Sturz der Tyrannis kam es im daraus resultierenden Machtvakuum zu einem Kampf um die politische Vorherrschaft zwischen Isagoras und jenem Kleisthenes, den dieser aufgrund seiner Reformvorschläge und der daraus resultierenden Unterstützung des Volkes gewinnt: „So hatte er durch seine Hinneigung zum Volk die Gegenpartei weit überflügelt.“[3][4] Obwohl Kleisthenes nach seinem politischen Wirken in Athen rasch in Vergessenheit geraten zu sein scheint[5], stellen seine Reformen doch einen Wendepunkt in der Geschichte des antiken Griechenland dar. Sie markieren den Übergang von der archaischen zur klassischen Zeit. Der Sturz der Tyrannis ist dabei recht sicher für das Jahr 510 v. Chr. belegt. Die Reformen werden von der athenaion politeia für das Jahr 508/7 datiert.[6]
Es wurde dabei nicht nur ein neues politisches System geschaffen. Mit den Reformen waren weit reichende Konsequenzen auch für das Heerwesen und andere Bereiche des öffentlichen Lebens im attischen Bürgerstaat verbunden. Wie eng die politischen Reformen mit Neuerungen im Bereich des Militärs und kultisch-religiösen Aktivitäten verknüpft waren, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Die Frage nach dem Gegenstand der kleisthenischen Reformen ist mitnichten beschränkt auf eine geopolitische Neugliederung, so bemerkenswert diese auch war. Im Zuge der politischen Neustrukturierung wurde eine Fülle weiterer Reformen in den Bereichen Politik, Militär und den verschiedenen Kulten und Festen durchgesetzt.
Auch wenn es schwer fällt, die genannten Bereiche strikt voneinander zu trennen, so ist es für die Struktur dieser Arbeit dennoch unerlässlich. Nach einer kurzen Einführung in das System der Neustrukturierung wird zu untersuchen sein, wie sich dieses in den Institutionen widerspiegelte. Dieses Kapitel abschließend soll die Frage behandelt werden, ob die Herrschaft des Adels infolge der Reformen tatsächlich gebrochen wurde.
Im dritten Kapitel soll dargestellt werden, wie die neue politische Struktur auf das Heerwesen übertragen wurde. War eine Umstrukturierung des Militärs entscheidend für die militärischen Erfolge Athens in den folgenden Jahren? Welche anderen Gründe, die im Zusammenhang mit der Reform stehen, waren ausschlaggebend?
In der Zeit der Reform ereignet sich eine Vielzahl von Veränderungen im religiös-kultischen öffentlichen Leben. Das entsprechende Kapitel soll zeigen, in welchem Zusammenhang sie mit der Phylenreform stehen. Hier soll die Konzentration auf jene Veränderungen gelegt werden, von denen ein direkter Bezug zur Reform des Kleisthenes hergestellt werden kann. Zum einen wird auf die Einführung neuer Staatskulte, wie den zehn attischen Phylenheroen, zum Anderen auf die Erweiterung der Kulturpolitik bei den beiden größten athenischen Festen, den Großen Dionysien und den Panathenäen, einzugehen sein.
Der anfangs bereits erwähnte Machtkampf und die Frage nach dem genauen zeitlichen Ablauf der Ereignisse in den Jahren vom Sturz der Tyrannis bis zur Umsetzung der Reform haben in der Forschung vor allem aufgrund der widersprüchlichen Darstellungen bei Herodot und in der athenaion politeia zu unterschiedlichen Deutungen geführt.[7] Auch die Frage nach den Motiven des Kleisthenes hat zu vielerlei Interpretationsansätzen geführt, die hier ebenfalls nicht näher beschrieben werden können. Was Kleisthenes beabsichtigt haben mag, ist ebenso nicht Bestandteil dieser Arbeit wie die Suche nach dem „wahren“ Begründer der attischen Demokratie. Diese Fragen und ihre ausführliche Behandlung in der Forschung sind aber Beleg für das große Interesse am Wirken von Kleisthenes.
Bereits erwähnt sind die beiden wichtigsten Quellen über den Machtkampf und die anschließenden Reformen des Gemeinwesens. Herodot liefert eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse, die athenaion politeia nähert sich dem Thema mit einem verfassungsgeschichtlichen Schwerpunkt. Zur Methodik dieser Arbeit sei jedoch erwähnt, dass hier nicht eine ausführliche Quellenanalyse vorgenommen werden kann. Dies ist in der Forschung bereits in voluminösem Umfang geschehen. Dabei wurden einige der Schilderungen besonders der athenaion politeia als falsch herausgestellt. Daher soll der aktuelle Forschungsstand, der sich auch in jüngster Vergangenheit erweitert hat, Basis dieser Arbeit sein. Dennoch sollen einige wichtige Hinweise der Quellen nicht außer Acht gelassen werden.
II. Veränderungen des Politischen
Die Phylenreform war in erster Linie eine Reform des politischen Systems. Da die Veränderungen derart tief greifend waren, herrscht in der Forschung der Konsens, dass die Reformen nicht mit einem Schlag durchgesetzt wurden,[8] sondern, dass es sich um eine schrittweise Veränderung mit provisorischen Maßnahmen und Institutionen handelt. Wie dies im Einzelnen aussah, ist jedoch mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen erforscht worden. Daher soll sich hier darauf beschränkt werden, was letztendlich als Ergebnis der kleisthenischen Reformen betrachtet werden kann.
II.1 Die neue Struktur: Demen, Trittyen, Phylen
Mit der Schaffung eines neuen, komplizierten Systems aus Demen, Trittyen und Phylen hat Kleisthenes die attische Bürgerschaft strukturell reorganisiert. Dabei spielte sich die Neuordnung auf zwei Ebenen ab: Auf der lokalen Ebene war dies die Struktur der Demen, auf der Ebene ganz Attikas waren es die Phylen. Welche Rolle die Trittyen spielten ist dabei umstritten. Sicher ist, dass sie im Alltag der attischen Bürger weniger bedeutend waren.
II.1.1 „Demokratie an der Graswurzel“: Die Demen
Als Demen bezeichnet man kleine Siedlungseinheiten - Dörfer, kleine Städte oder die Zusammenlegung kleinerer ländlicher Siedlungen mit jeweils dazugehörigem Land. Die großen Städte Athen und Brauron wurden in vier bzw. zwei Demen unterteilt. Die ursprünglich kleinste organisatorische Einheit der Polis, die Phratrie, ein rein personales, auf Abstammung und Verwandtschaft fixiertes Gebilde, wurde im Zuge der Reformen mit den 139 Demen durch eine „rein territoriale Ordnung“[10] ersetzt. Diese lang anerkannte Vorstellung hat Kienast jüngst relativiert. Demen habe es „als Verwaltungseinheiten schon seit Solon gegeben“[11]. Die athenaion politeia schreibe Kleisthenes fehlerhaft die ganze Neuordnung zu, um ihn als den Gründer der attischen Demokratie besonders hervorzuheben.[12] Klar ist in jedem Fall, dass Kleisthenes’ neue Ordnung auf vorhandenen Siedlungsstrukturen basierte, somit auch bestehende soziale Verbindungen nicht zwangsläufig überall tangierte.
Also hat Kleisthenes im Falle der Demen zwar nicht überall neue Strukturen geschaffen, diese jedoch mit neuen Aufgaben und Funktionen versehen. Denn die Bürger erhielten Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen auf lokaler Ebene und die Demen eine Funktion im Sinne der Gesamtpolis: Das Amt des Demarchen, des Gemeindevorstehers, wurde neu eingeführt. Dieser wurde für ein Jahr von der Gemeindeversammlung gewählt.[13] Darüber hinaus hatte jeder Bürger das Recht bei der Gemeindeversammlung frei zu sprechen und sich an Diskussionen um aktuelle Belange des demos zu beteiligen.[14] Zur Bewältigung der Verwaltungsaufgaben konnten die Bürger nun im neu geschaffenen öffentlichen Rahmen beitragen. Dabei wird es sich wohl auf ökonomische Fragen, den Bau und die Sanierung öffentlicher Gebäude, die Planung und Durchführung lokaler Kulte und Feste, kleinere Rechtsfragen und Ehrungen verdienter Bürger beschränkt haben.[15] Diese Aufgaben stellen natürlich „keine hochpolitischen Angelegenheiten“[16] dar, doch sie waren für das Zusammenleben aller Bürger von Bedeutung und werden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit eine aktive Beteiligung der Demoten zur Folge gehabt haben.[17] Daher kann durchaus von einer Politisierung der Demen im Zuge der Reformen gesprochen werden.
Neu war außerdem die Aufgabe des Führens der Bürgerliste. Dadurch erhielten die Demen die erwähnte Funktion für ganz Attika. Denn mit der Bürgerliste legitimierte nicht nur der Einzelne seine Rechte und Pflichten im lokalen politischen Rahmen, sie diente auch als Grundlage für die Rekrutierung zum Militärdienst und zur Auswahl von Ratsmännern und Kandidaten für die Archontenämter.[18][19] Dass durch die Bürgerliste nun auch ein „stärkeres Bewusstsein, zum Teil eines Großen ganzen zu gehören“[20] einherging ist eine Vermutung, die durchaus nicht abwegig erscheint. Auf lokaler Ebene hat sich durch Kleisthenes’ Reformen das Bewusstsein der Zugehörigkeit in jedem Fall verändert. Der Bericht der atheneion politeia, dass die Bürger statt ihrer Abstammung nun den Namen ihres demos trugen[21], zeugt von einer größeren Identifikation mit der Gemeinde, ungeachtet verwandtschaftlicher Zugehörigkeiten. Vielmehr rückte der Name nun die Gleichheit aller Bürger in das Bewusstsein und förderte eine Identität als gleichberechtigtes Mitglied eines demos.[22]
II.1.2. „Überlokale Bindeglieder“: Die Trittyen
Trittyen („Drittel“) sind Gruppierungen von mindestens einer, maximal sieben[23] Demen aus jeweils einer der drei Regionen Binnenland (mesógeion), Küste (paralía) und der Stadt (ásty). Von jeder dieser Regionen gab es 10 Trittyen. Eine Phyle setzte sich aus drei Trittyen von je drei unterschiedlichen Regionen zusammen.
Sowohl die Zusammensetzung der Trittyen, als auch die Frage nach ihren Funktionen ist in der Forschung ein sehr kontrovers diskutiertes Thema. Waren die Trittyen bloß ein rechnerisches Mittel zur Zuteilung der Demen zu den Phylen oder waren sie auch Einheiten für politische, militärische oder kultische Zwecke? Zufrieden stellend kann diese Frage nicht beantwortet werden. Zu konträr sind die Ansichten in der Forschung. Anzeichen für Trittyen als Einheiten gibt es zwar, wenn auch in weitaus geringerem Umfang als dies für Phylen und Trittyen der Fall ist. Doch dass Trittyen im Alltag der Bürger konstant eine prägende Rolle gespielt haben, ist wohl auszuschließen. Das liegt auch daran, dass die Trittyengemeinschaft, wenn es denn so etwas gab, „in ihrer Funktionalität zu eng an den Demos und die Phyle gebunden“[24] gewesen wäre. Auch die Benennung der Trittyen orientierte sich zum größten Teil am Namen ihrer größten Gemeinde.[25] Zwar lässt sich aus einigen wenigen Inschriften folgern, dass es in einzelnen Fällen gemeinschaftliche Aktivitäten einer Trittys gegeben haben kann.[26] Dies war jedoch kaum weit verbreitete Praxis und Trittyen fungierten doch eher als formales Regulierungsmaß denn als tief im Bewusstsein der Bürger verwurzelte Gemeinschaftsinstitution.
II.1.3. Vermischung der Bürgerschaft: Die Phylen
Mit Verweis auf Kleisthenes empfiehlt Aristoteles eine Vermischung der Bürgerschaft, wie Kleisthenes sie vollzogen habe, um ein Höchstmaß an Demokratie zu erreichen:
„Außerdem sind für eine derartige Demokratie auch Einrichtungen von solcher Art nützlich, wie sie Kleisthenes von Athen eingeführt hat, um die Demokratie zu stärken(…). Man muss nämlich neue und zahlreiche Stammesverbände und Geschlechterverbände einrichten und die Einrichtungen der privaten Kulte auf wenige öffentliche Kulte konzentrieren und alles so berechnen, dass so weit als möglich alle mit allem vermischt und die früheren Verbindungen zerrissen werden.[27]
Während die vier alten Phylen territoriale Einheiten waren, setzten sich die neu geschaffenen zehn Phylen aus je einer Trittys der drei verschiedenen Regionen zusammen. Diese künstlichen, nicht auf natürlicher geographischer Kohärenz beruhenden neuen Stämme bildeten somit einen „Querschnitt durch die verschiedenen Regionen“ Attikas.[28] Dabei hat Kleisthenes die alten Phylen formell nicht beseitigt, ihre politischen Funktionen jedoch auf die neuen Phylen übertragen.[29] Auch wenn die alten Phylen formal weiter Bestand hatten, so gibt es keine Belege für politische oder rechtliche Entscheidungen die von diesen ausgingen.[30] Da nun jede Phyle Attika als Ganzes repräsentierte, wurde vermieden, dass eine Phyle lokale Interessen besonders verfolgen konnte. Die Schaffung der neuen Phylen hat den „Lokalgeist aufgehoben“[31] und eine Vereinheitlichung Attikas herbeigeführt.
Auf ein im Zuge der kleisthenischen Reformen neu entstandenes Bewusstsein im Hinblick auf Zugehörigkeit und der Politisierung von Bürgern weist die athenaion politeia hin:
„(…) denn er (Kleisthenes) wollte sie untereinander mischen, damit mehr von ihnen an der Ausübung der politischen Macht Anteil nehmen konnten. Daher wurde auch das Wort geprägt: „nicht nach den (alten) Phylen urteilen“, eine Antwort an diejenigen, die herausfinden wollen, welchem Geschlecht (genos) jemand angehört.“[32]
Es zeigt sich also, dass nach der Reform ein Umdenken stattfindet hinsichtlich der Legitimierung politischer Teilnahme. Nicht mehr die Abstammung, sondern die Mitgliedschaft in einem demos bildet die Grundlage zur Teilnahme am politischen und öffentlichen Leben, das Menschen mit Bürgerrecht möglich ist. Auch wenn es laut Bleicken bereits vor den Reformen und schon seit Solon ein „Umbruch des ganzen politischen Denkens“[33] eingesetzt hat, so findet dies in der Reform seine Realisierung. Das obige Zitat aus der athenaipn politeia illustriert anschaulich ein neues Verständnis von Politik, das in der Phylenreform seine Umsetzung erhalten hat.
II.2. Die Effekte der Reformen für die politischen Institutionen
II.2.1. Der Rat der 500
Der von Kleisthenes neu geschaffene Rat der 500 war insofern an das Phylensystem gekoppelt, als dass jede Phyle per Los 50 Bürger als Ratsmitglieder stellte. Es ist davon auszugehen, dass die „Sitze proportional auf die Demen verteilt“ wurden. Dadurch wurden alle Regionen, ja sogar alle Demen Attikas repräsentiert.[34] Zwar versammelte sich der Rat als Ganzes recht selten, doch wurde er in zehn Prytanen aufgeteilt (eine repräsentative Gruppe von 50 Ratsmännern), die für je ein Zehntel des Jahres ständig in Athen präsent waren und somit ein „Höchstmaß an politischer Gegenwärtigkeit“[35] schufen.
Dadurch dass ein Bürger nicht zwei Jahre in Folge und insgesamt nur zwei Mal im Leben Mitglied des Rates sein konnte, ergab sich hier eine hohe Fluktuation. Auch wenn es unwahrscheinlich scheint und nicht nachweisbar ist, ob diese Regelung schon von Kleisthenes eingeführt worden ist, wird dennoch deutlich, dass ein großer Anteil der attischen Bürgerschaft sich in dieser Institution aktiv politisch beteiligte. Der Rat stellt also ein Gremium dar, das Vertretern des Volkes das Recht und die Möglichkeit gab, alle politischen Belange zu formulieren und ihre Zustimmung oder Ablehnung zu äußern.[36] In Form des Rates erhielt die attische Bürgerschaft nun „die Möglichkeit, gegen alle Übergriffe relativ rasch zu protestieren, überhaupt die Gelegenheit zu aufmerksamer Beobachtung von Politik und Amtsführung der Adligen“. Den verantwortlichen Beamten, etwa den Archonten, wurde somit eine Kontrollinstanz mit nahezu oppositionellem Charakter zur Seite gestellt.[37]
Dass ein Sitz im Rat es ermöglichte, „die attische Politik entscheidend mitzugestalten“[38], zeigt sich auch im Bedingungsgefüge zwischen boule und ekklesia. Denn schon zu Kleisthenes Zeiten hatte der Rat die Aufgabe, die Tagesordnung der Volksversammlung zu bestimmen und alle zur Entscheidung stehenden Anträge einer Vorberatung und ersten Beschlussfassung (probuleuma) zu unterziehen.[39] Dies war die vorgeschriebene Voraussetzung für eine Abstimmung bei der Volksversammlung.[40]
[...]
[1] Ath. pol. 22,1.
[2] Hdt. 6,131.
[3] Hdt. 5,69.
[4] Kleisthenes muss allerdings auch im Adel eine gewisse Unterstützung erfahren haben.
[5] Starr, Chester: The Birth of Athenian Democracy. The Assembly in the Fifth Century B.C., New York/Oxford 1990, S. 17.
[6] Ath. pol. 21,1.
[7] Hervorzuheben sind: Rausch, Mario: Kleisthenes, Isagoras, der Rat und das Volk: die athenische Innenpolitik zwischen dem Sturz der Tyrannis und dem Jahr 507 v. Chr., in: Chiron 28, 1998, S. 355-370., sowie: McCargar, David J.: The Relative Date of Kleisthenes’ Legislation, in: Historia 25, 1976, S. 385-395.
[8] Beispielsweise: Develin, Bob/Kilmer, Martin: What Kleisthenes did, in: Historia Bd. 46, 1997, S. 15.
[9] Meier, Christian: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 2004, S. 193.
[10] Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn 1995, S.37.
[11] Kienast, Dietmar: Die Funktion der attischen Demen von Solon bis Kleisthenes, in Chiron 35, 2005, S. 69-100, S. 85.
[12] Kienast, S. 75.
[13] Welwei, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis, Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart u.a. 1983.
[14] Stahl, Michael: Bürgerstaat und Demokratie. Die Geschichte Athens in klassischer Zeit: Die Ausprägung des Bürgerstaats unter Kleisthenes und Ephialtes, Hagen 1995, S. 50.
[15] Stahl, S. 50.
[16] Stahl, S. 51.
[17] Stahl, S. 51.
[18] Kienast, S. 93.
[19] Stahl, S 51.
[20] Welwei, S.171.
[21] Ath. pol. 21,4.
[22] Schuller, Wolfgang: Griechische Geschichte, München 2004, S. 26.
[23] Parker, Robert: Athenian Religion. A History, New York 2004, S. 103.
[24] Stahl, S 55.
[25] Stahl, S 55.
[26] Stahl, S 55.
[27] Aristot. Pol. 1319b 19-26.
[28] Meier 2004, S. 194.
[29] Parker, S. 116.
[30] Parker, S. 112.
[31] Bleicken, S. 37.
[32] Ath. pol. 21,2.
[33] Bleicken, S. 18.
[34] Starr, 14.
[35] Meier 2004, S. 196.
[36] Doenges, S. 399.
[37] Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, S. 137.
[38] Kienast, S. 92.
[39] Funke, Peter: Athen in klassischer Zeit, München 2007, S. 22.
[40] Funke, S. 22.
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