In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob der (Schul-)Sport die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund der Sekundarstufe I fördern kann. Mit anderen Worten: Entspricht der Terminus „Integration durch (Schul-)Sport“ der Realität oder ist er dem Reich der Mythen zuzuordnen?
Um Antworten auf die Forschungsfrage zu erhalten, werden qualitative Interviews mit vier männlichen Schülern mit Migrationshintergrund durchgeführt, die allesamt in einem Sportverein tätig sind.
Durch die Interviews sollen Einblicke in die individuellen Sichtweisen und Einstellungen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zum Thema Integration geschaffen werden. Außerdem sollen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch die Gespräche die Möglichkeit haben, ihre persönlichen Erfahrungen zum Thema Integration durch (Schul-)Sport zu äußern. Besonders durch diese intimen Einblicke in die Erfahrungswelt der Schüler, soll die Forschungsfrage beantwortet werden. Neben den Einstellungen und Erfahrungen sollen durch die Interviews auch Wünsche zum Vorschein kommen, die die Schüler mit Migrationshintergrund möglicherweise zu diesem Thema haben.
Ausgangspunkt für die Wahl qualitativer Forschungsmethoden war die Tatsache, dass bisherige Studien zum Thema Integration durch (Schul-)Sport qualitative Forschungsmethoden stark vernachlässigt haben. Dies zieht nach sich, dass Studien bisher einseitig aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft durchgeführt wurden und daher die persönlichen Einstellungen und Ansichten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kaum berücksichtigt wurden. Der Grund dafür, dass in dieser Untersuchung ausschließlich männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zentrum der Betrachtung stehen, ergab sich aus meiner Annahme, dass die Integration von Jungen und Mädchen von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Ein weiterer Grund dafür war, dass hinsichtlich einer Integration durch (Schul-)Sport bisher ausschließlich Studien zu Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund vorhanden sind. Männliche Jugendliche kamen zu diesem Thema bisher nicht zu Wort und wurden vernachlässigt.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Einführung in das Thema
1.2 Fragestellung der Untersuchung und deren Ausgangspunkt
1.3 Aufbau der Untersuchung
1.4 Lesehinweise
2 Theoretische Perspektiven auf Migration und Integration
2.1 Migration
2.1.1 Begriffsklärung
2.1.2 Verschiedene Migrationsformen
2.1.3 „Ausländer“, „Migranten“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund“?
2.1.4 Migration in Deutschland
2.1.5 Zur Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland
2.1.6 Zusammenfassung
2.2 Integration
2.2.1 Integration als eine Form von Eingliederungsprozessen
2.2.2 Entwicklung unterschiedlicher Konzepte und Theorien zu Eingliederungsprozessen
2.2.3 Die Integrationstheorie von Hartmut Esser
2.2.4 Zusammenfassung
3 Integration durch Sport
3.1 Was bedeutet „Integration durch Sport“?
3.2 Das integrative Potenzial des Sports
3.3 Integration durch Schulsport
3.3.1 Chancen und Grenzen
3.3.2 Forschungsstand
3.4 Integration durch Vereinssport
3.4.1 Zur Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Sportvereinen
3.4.2 Chancen und Grenzen
3.4.3 Forschungsstand
3.5 Zusammenfassung
4 Untersuchungsdesign
4.1 Theoretische Grundlagen des Untersuchungsdesigns
4.1.1 Quantitative Sozialforschung vs. Qualitative Sozialforschung
4.1.2 Methode der Datenerhebung
4.1.3 Methode der Datenauswertung
4.2 Durchführung der Untersuchung
4.2.1 Erstellung des Interviewleitfadens
4.2.2 Auswahl der Interviewpartner
4.2.3 Durchführung der Interviews
4.2.4 Auswertung der Interviews
5 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
5.1 Rafael
5.1.1 Kurzlebenslauf und Interaktion
5.1.2 Deskription
5.1.3 Interpretation
5.2 Petrit
5.2.1 Kurzlebenslauf und Interaktion
5.2.2 Deskription
5.2.3 Interpretation
5.3 Edin
5.3.1 Kurzlebenslauf und Interaktion
5.3.2 Deskription
5.3.3 Interpretation
5.4 Sirak
5.4.1 Kurzlebenslauf und Interaktion
5.4.2 Deskription
5.4.3 Interpretation
6 Fazit
6.1 Zusammenfassung und Diskussion der zentralen Ergebnisse
6.2 Reflexion der Untersuchung
6.3 Ausblick
Quellenverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1. Ausländische Bevölkerung in Deutschland von 1951 bis 2010
Abb. 2. Systemintegration und soziale Integration in Netzwerken
Tabellenverzeichnis
Tab. 1. Bevölkerung in Deutschland nach Migrationsstatus
Tab. 2. Überblick über psychische Effekte des Sporttreibens
Tab. 3. Die Interviewteilnehmer der Untersuchung
Tab. 4. Verwendete Transkriptionszeichen und deren Bedeutung
Tab. 5. Der Zusammenhang zwischen den vier Dimensionen sozialer Integration nach Esser und den Leitfadenkategorien
1 Einleitung
1.1 Einführung in das Thema
Wirtschaftliche, demografische und soziale Unterschiede zwischen Ländern bzw. Kontinenten haben zur Folge, dass sich weltweit Migrationsbewegungen vollziehen. Infolgedessen entwickeln sich besonders die westlichen Industrienationen zu sprachlich, kulturell und ethnisch heterogenen Gesellschaften (vgl. Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 223). Diese Prozesse machen auch nicht vor Deutschland halt. Spätestens seit Beginn der Gastarbeiteranwerbung in den 1950er Jahren haben sich die Bevölkerung sowie das soziale und kulturelle Leben in diesem Land verändert: Deutschland ist multikulturell geworden (vgl. Boos-Nünning & Karakasoglu, 2003, S. 319). Diese Tatsache wird dadurch verdeutlicht, dass im Jahr 2010 knapp 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lebten. Dies macht einen Anteil von etwa 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus. Besonders groß ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der jungen Bevölkerung: Während bei den zehn bis 15-Jährigen mehr als 29 Prozent einen Migrationshintergrund besitzen, haben bei den 15 bis 20-Jährigen 26 Prozent Migrationsgeschichte. Somit hat in Deutschland jeder Vierte im Alter von zehn bis 20 Jahren einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt, 2011, S. 32). Aufgrund des geringeren Reproduktionsverhaltens der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, gehen Experten davon aus, dass der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in westdeutschen Ballungsgebieten in den nächsten Jahren auf über 50 Prozent steigen wird (vgl. Boos-Nünning & Karakasoglu, 2005, S. 11 ff.).
Dieser demografische Wandel bringt die Notwendigkeit mit sich, die große Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Um dieser großen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden, gewinnt das Thema Integration, als eine Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft, immer mehr an Bedeutung. Debatten um Integrationsfragen sind in Politik, Medien und im Alltag dauerpräsent. Es wird vornehmlich darüber diskutiert, wie junge Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland mit einer fremden Kultur und einer neuen Sprache konfrontiert werden, am geeignetsten in die Gesellschaft integriert werden können. Die Sozialwissenschaften sowie die Politik sind der Ansicht, dass sich für die Meisterung dieser Aufgabe besonders der Sport eignet. Ingo Weiss, erster Vorsitzender der Deutschen Sportjugend (DSJ), meint: „Beim gemeinsamen Sporttreiben wird Integration gelebt“ (DSJ, 2010, S. 7). Die Bundesregierung (2007, S. 139) bezeichnet den Sport in ihrem Integrationsplan sogar als „Integrationsmotor“. Demzufolge wird dem Sport ein sehr großes integratives Potenzial zugeschrieben. Dieses Potenzial des Sports soll vorwiegend durch die Institutionen Schule und Sportverein genutzt werden, da die Jugendlichen mit Migrationshintergrund hier am besten zu erreichen sind.
Doch ist es wirklich so einfach, wie es die Politik und die Sozialwissenschaften darstellen? Besitzt der Sport tatsächlich das ihm zugeschriebene Integrationspotenzial? Ist Integration durch Sport möglich?
1.2 Fragestellung der Untersuchung und deren Ausgangspunkt
In dieser Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob der (Schul-)Sport[1] die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund der Sekundarstufe I fördern kann. Mit anderen Worten: Entspricht der Terminus „Integration durch (Schul-)Sport“ der Realität oder ist er dem Reich der Mythen zuzuordnen?
Um Antworten auf die Forschungsfrage zu erhalten, werden qualitative Interviews mit vier männlichen Schülern mit Migrationshintergrund durchgeführt, die allesamt in einem Sportverein tätig sind. Durch die Interviews sollen Einblicke in die individuellen Sichtweisen und Einstellungen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zum Thema Integration geschaffen werden. Außerdem sollen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch die Gespräche die Möglichkeit haben, ihre persönlichen Erfahrungen zum Thema Integration durch (Schul-)Sport zu äußern. Besonders durch diese intimen Einblicke in die Erfahrungswelt der Schüler, soll die Forschungsfrage beantwortet werden. Neben den Einstellungen und Erfahrungen sollen durch die Interviews auch Wünsche zum Vorschein kommen, die die Schüler mit Migrationshintergrund möglicherweise zu diesem Thema haben.
Ausgangspunkt für die Wahl qualitativer Forschungsmethoden war die Tatsache, dass bisherige Studien zum Thema Integration durch (Schul-)Sport qualitative Forschungsmethoden stark vernachlässigt haben. Dies zieht nach sich, dass Studien bisher einseitig aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft durchgeführt wurden und daher die persönlichen Einstellungen und Ansichten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kaum berücksichtigt wurden. Der Grund dafür, dass in dieser Untersuchung ausschließlich männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zentrum der Betrachtung stehen, ergab sich aus meiner Annahme, dass die Integration von Jungen und Mädchen von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Ein weiterer Grund dafür war, dass hinsichtlich einer Integration durch (Schul-)Sport bisher ausschließlich Studien zu Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund vorhanden sind. Männliche Jugendliche kamen zu diesem Thema bisher nicht zu Wort und wurden vernachlässigt.
An dieser Stelle darf zudem nicht unerwähnt bleiben, dass in dieser Studie besonders der Frage nachgegangen wird, welchen Einfluss der Vereinssport auf die Integration von Schülern mit Migrationshintergrund hat. Demzufolge wird der Schwerpunkt auf den Vereinssport und dessen integrativen Potenzial gelegt. Als zentralen Grund für die geringere Berücksichtigung des Schulsports ist zu nennen, dass es eine zu große und zu aufwendige Aufgabe wäre, Schüler mit Migrationshintergrund zu finden, die sowohl in einer Sport-AG als auch in einem Sportverein aktiv sind.
1.3 Aufbau der Untersuchung
Die vorliegende Untersuchung ist in sechs Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel wird in das Thema eingeführt und die Fragestellung der Studie formuliert.
Im zweiten Kapitel wird der Fokus auf die theoretischen Hintergründe der Begriffe Migration und Integration gerichtet. Ein Vorwissen über diesen theoretischen Bezugsrahmen ist unentbehrlich, um die Aussagen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Interviews verstehen und interpretieren zu können. Im ersten Teil dieses Kapitels wird sich mit dem Begriff der Migration auseinandergesetzt. Dabei wird eine für den Rahmen dieser Untersuchung gültige Definition des Begriffs formuliert. Zudem wird auf die Migrationsgeschichte Deutschlands eingegangen und der daraus folgende demografische Wandel der Bevölkerung dargestellt. Im zweiten Teil des Kapitels steht die Integration im Zentrum der Betrachtung. Im Zuge dessen wird gezeigt, wie unterschiedlich die Auffassungen von Integration sind und wie schwierig es ist, sich auf einen allgemein gültigen Integrationsbegriff zu einigen. Desweiteren wird die Integrationstheorie von Hartmut Esser vorgestellt, die an späterer Stelle für die Auswertung der Interviews verwendet wird.
Mit dem Thema Integration durch Sport wird sich im dritten Kapitel auseinandergesetzt. Die Schwerpunkte in diesem Zusammenhang bilden der Schul- sowie der Vereinssport. Es werden jeweils die dem Schul- und Vereinssport von der Wissenschaft zugeschriebenen Chancen und Grenzen dargestellt sowie der aktuelle Forschungsstand dargelegt. Der Einbezug des Forschungsstandes in diese Studie ist notwendig, um später die eigene Untersuchung verorten zu können. Außerdem dienen die bisherigen Forschungsergebnisse als Vergleichspunkte für die in dieser Untersuchung ermittelten Ergebnisse.
Das dieser Studie zugrundeliegende Untersuchungsdesign[2] wird im vierten Kapitel vorgestellt. Dabei werden die gewählten Methoden für die Datenerhebung und -auswertung der Untersuchung dargestellt und gleichzeitig begründet, weshalb sie sich für die Bearbeitung der Forschungsfrage eignen. Anschließend wird relativ detailliert erklärt wie die Studie durchgeführt wurde.
Danach werden im fünften Kapitel die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt und interpretiert. Die Ergebnisse werden in einer Einzelfalldarstellung vorgestellt und im Anschluss daran wird mit Hilfe der Integrationstheorie von Esser interpretiert, ob die Integration der Schüler mit Migrationshintergrund durch den (Schul-)Sport gefördert werden konnte bzw. kann.
Im abschließenden sechsten Kapitel wird ein Fazit gezogen. Hier werden die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und es wird versucht allgemeingültige Aussagen hinsichtlich des Themas Integration durch (Schul-)Sport zu machen. Zudem wird die Untersuchung einer kritischen Reflexion unterzogen. Abschließend folgt ein Ausblick auf mögliche weitere Forschungsansätze sowie Ausblicke auf die Praxis im Sportunterricht und Vereinssport.
1.4 Lesehinweise
Vor Beginn der theoretischen Ausführungen soll darauf hingewiesen werden, dass ich mich aus Gründen der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit dazu entschieden habe, zur Bezeichnung mehrerer Personen nur die maskuline Form zu verwenden. Jedoch soll damit beide Geschlechter umfasst werden. Um zentrale Begriffe deutlich auszuweisen, werden diese kursiv geschrieben. Um bestimmte sprachliche Ausdrücke hervorzuheben, werden diese in „Anführungszeichen“ gesetzt.
2 Theoretische Perspektiven auf Migration und Integration
In diesem Werk werden die Einstellungen, Erfahrungen und Wünsche von Schülern mit Migrationshintergrund zum Thema Integration durch (Schul-)Sport untersucht.
Doch was ist eigentlich Migration und was bedeutet es einen Migrationshintergrund zu haben? Was sagt der so häufig verwendete Begriff der Integration aus?
Diese Fragen sollen in diesem Kapitel mittels Darlegung theoriebezogener Hintergründe geklärt werden.
Die befragten Jugendlichen in dieser Untersuchung eint durchweg, dass ihre Familien ihren Herkunftsort verließen und sich in einer fremden Lebensumwelt zu Recht finden mussten bzw. müssen. Aufgrund dessen ist ein Vorwissen über den theoretischen Bezugsrahmen unentbehrlich, um die Ansichten und Einstellungen der Jugendlichen zu den Themen Migration und Integration verstehen zu können.
Ein weiterer Grund für die Auseinandersetzung mit den theoretischen Hintergründen von Migration und Integration ist darin zu sehen, dass diese Begriffe im wissenschaftlichen Diskurs häufig mit verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. Daher muss für das Verständnis der vorliegenden Studie zu Beginn erläutert werden, mit welchen Bedeutungen die verschiedenen Begriffe behaftet werden.
Im ersten Teil dieses Kapitels wird der Begriff der Migration näher betrachtet. Zunächst soll geklärt werden, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Im Anschluss daran werden verschiedene Migrationsformen vorgestellt und der Begriff des Migrationshintergrunds definiert. Abschließend wird auf die Einwanderungsgeschichte Deutschlands eingegangen und auf die Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland eingegangen.
Im zweiten Teil dieses Kapitels werden zum einen allgemein Eingliederungsprozesse betrachtet, und zum anderen der komplexe Begriff der Integration diskutiert. Als erstes wird sich mit der großen Vielfalt der Begriffe auseinandergesetzt, die für die Beschreibung von Eingliederungsprozessen verwendet werden. Im Anschluss daran wird die Entwicklung der Konzepte und Theorien von Eingliederungsprozessen dargestellt. Abschließend wird der Fokus dann auf den Integrationsprozess gestellt und die Integrationstheorie von Hartmut Esser vorgestellt. Besonders wird hier das Augenmerk auf Essers Konzept der Sozialintegration gerichtet.
2.1 Migration
Migrationsbewegungen sind schon immer Teil der menschlichen Kultur gewesen. Menschen verließen und verlassen aus unterschiedlichsten Gründen und Motiven ihre Heimat und wandern an andere Orte. Dort werden sie mit einer fremden Kultur und einer neuen Sprache konfrontiert. Auch wenn es Unterschiede hinsichtlich der Motive und Gründe für Migrationsbewegungen gibt, so ist eines allen Personen gemein: Es geht um die Suche nach Brot (Arbeit) und Frieden (Sicherheit) (vgl. Krüger-Potratz, 2009, S. 53).
Auch Deutschland ist ein von der Migration geprägtes Land. Der Anstieg der Migrantenzahlen begann hier mit der Anwerbung der sognannten Gastarbeiter ab den 1950er Jahren. Weiter stiegen die Zahlen nach dem Umsturz des sozialistischen Staatensystems Ende der 1980er Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt, 2011, S. 32). Infolgedessen hat die Sozialwissenschaft[3] die Migration als Themenkomplex verstärkt ab den 1990er Jahren in wissenschaftliche Diskurse aufgenommen. Vor dem Hintergrund der dargestellten Fakten wird deutlich, dass das Thema Migration von großer Bedeutung und Brisanz ist.
Ziel dieses Teilkapitels ist es, den theoretischen Hintergrund des Migrationsbegriffs in dem Ausmaß darzustellen, dass die Forschungsfrage dieses Werks geeignet behandelt werden kann. Durch dieses theoretische Hintergrundwissen sollen die Aussagen der Schüler mit Migrationshintergrund besser interpretierbar werden.
2.1.1 Begriffsklärung
Der Begriff der Migration ist auf das lateinische Wort „migrare“ bzw. „migratio“ (wandern, wegziehen, Wanderung) zurückzuführen. Durch den Einfluss des viel verwendeten englischen Wortes „migration“ hat der Begriff, sowohl in der deutschen Alltagssprache als auch in der Begriffssprache der Sozialwissenschaften seinen Platz eingenommen (vgl. Han, 2010, S. 5).[4]
Im sozialwissenschaftlichen Diskurs ist eine Reihe von verschiedenen Migrationsdefinitionen mit unterschiedlichen Ansätzen zu finden. Die Definitionen des Begriffs unterscheiden sich je nach verwendeter Literatur. Hieraus lässt sich schließen, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs Migration gibt.
Definitionen der Sozialwissenschaftler unterscheiden sich hauptsächlich nach den Kriterien der von den Migranten zurückgelegten Entfernungen, der Aufenthaltsdauer an dem Zielort und den Unterschieden zwischen Herkunfts- und Zielregion. Jedoch sind bei allen Definitionen von Migration die Aspekte des Wechsels bzw. Veränderung und der Bewegung elementar (vgl. Treibel, 2003, S. 19).
Daraus lässt sich schließen, dass folgende Dimensionen für eine Definition des Migrationsbegriffs grundlegend sind:
- Raum und Zeit (Wohnortsänderung bzw. Versetzung des Lebensmit- telpunkts, Aufenthaltsdauer),
- Grenze (Überschreitung politisch administrativer Trennlinien),
- Sozialstruktur (Statusordnung),
- Kulturelles System (Werte- und Normensystem) (vgl. Reinprecht & Weiss, 2011, S. 15; Oswald, 2007, S. 13).
Aus dieser komplexen Mehrdimensionalität ergeben sich die diversen, in der Literatur veröffentlichten Definitionen und Problemsichten.
Da die gründliche Auseinandersetzung mit diesen zahlreichen Definitionen und Begriffsklärungen den Rahmen dieses Werks sprengen würde[5], soll für diese Untersuchung eine Definition von Migration gewählt werden, die alle Dimensionen von Migration umfasst und aus soziologischer Sicht relativ eng gehalten ist. Dadurch wird versucht die Komplexität von Migrationsprozessen zu erfassen:
Migration wird als dauerhafter Wohnortwechsel definiert, der mit einer Grenzüberschreitung verbunden ist und einen Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems zur Folge hat (vgl. u.a. Han, 2010, S. 6 ff.; Pries, 2001, S. 9; Reinprecht & Weiss, 2011, S. 15).[6]
Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen nachfolgend drei Begriffe der Definition näher erläutert werden:
Das Kriterium der Dauerhaftigkeit ist für die Begriffsbestimmung der Migration grundlegend. Folglich können räumliche Bewegungen von Personen und Personengruppen, die keinen dauerhaften Wohnsitzwechsel in ein anderes kulturelles und soziales Bezugssystem zur Folge haben (z.B. Reisende, beruflich bedingte Pendelbewegungen von Arbeitnehmern), nicht dem Phänomen der Migration zugeordnet werden. Somit werden nicht alle räumlichen Bewegungen von Personen und Personengruppen als Migration bezeichnet (vgl. Han, 2010, S. 6 f.). Jedoch gehören nach dieser Begriffsbestimmung auch Flucht und Vertreibung zu den verschiedenen Formen von Migration[7] (vgl. Treibel, 2003, S. 19). Doch bleibt in dieser Definition noch ungeklärt, was nun „dauerhaft“ bedeutet und ab welchem Zeitraum in einem anderen kulturellen und sozialen Bezugsystem als Migrant gilt. Um eine Lösung für dieses Problem zu finden, werden die Bestimmungen der UN betrachtet, die auch für den Rahmen dieser Untersuchung gelten sollen. Nach einer Empfehlung der UN zur statistischen Erfassung der internationalen Migranten von 1998 werden seither Menschen als Migranten erfasst, die für mindestens ein Jahr ihren ständigen Wohnsitz von ihrem Herkunftsland in ein anderes Land verlegen (vgl. IOM zitiert nach Han, 2010; S. 6, Kleinschmidt, 2011, S. 10).
Das Erfordernis einer Grenzüberschreitung macht deutlich, dass im Rahmen diesem Werk unter Migration nur internationale Bewegungen verstanden werden.
Der dritte Begriff der näher erläutert werden muss, ist die Wohnortsänderung. Dieser ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur nicht unumstritten. Nach Oswald (2007, S. 17) ist Migration „wesentlich mehr als eine Ortsveränderung oder der Wechsel eines Wohnsitzes“, da ein Migrationsprozess nicht nur eine Überwindung geographischer Distanzen sei, sondern eine psycho-soziale Leistung bedeute. Zudem fehle an diesem Begriff ein gewisses Entfernungskriterium, um einer Begriffsbestimmung von Migration gerecht zu werden (vgl. ebd.). Oswald spricht daher nicht wie Han (vgl. 2010, S. 6), von einer Migration, die einen dauerhaften Wohnortswechsel bedingt, sondern von einer „Migration als Versetzung des Lebensmittelpunktes“ (2007, S. 13). Neben der Wohnortsänderung ist auch ein Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems für die gewählte Migrationsdefinition dieser Untersuchung konstitutiv. Infolgedessen ist gewährleistet, dass der neue Wohnort weit vom Heimatsort entfernt ist, und somit eine Art neuen Lebensmittelpunkt darstellt, bei dem persönliche, soziale und psychische Aspekte eine bedeutende Rolle spielen. Folglich wird die Kritik Oswalds neutralisiert und somit kann der Begriff der Wohnortsänderung in dieser Untersuchung verwendet werden, um den Begriff der Migration geeignet zu beschreiben.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die für diese Untersuchung gewählte Definition von Migration aufgrund ihrer relativ engen Beschreibung, den Prozess der Migration sehr differenziert darstellt. Dennoch werden durch sie verschiedene Formen der Migration umfasst. Folglich scheint die Definition geeignet für eine wissenschaftliche Forschung im Themenkomplex Migration und Integration (durch Sport) zu sein.
2.1.2 Verschiedene Migrationsformen
Migration findet in unterschiedlichen Formen statt, wobei die jeweiligen Gründe und Ursachen für die Migrationsbewegungen die bedeutendsten Rollen für die Formen der Migration spielen. Die Art der Migration bestimmt das neue Leben und die Chancen der Migranten in ihrer neuen Heimat. Beispielsweise bestimmt die jeweilige Migrationsform den Rechtsstatus im Aufnahmeland (vgl. Fassmann & Münz, 1996, S. 18 f.).
Auch die Familien der Untersuchungsgruppe haben aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen und deren Migrationsbewegungen können verschiedenen Migrationsformen zugeordnet werden. Hinsichtlich dessen ist die Kenntnis über die verschiedenen Formen der Migration elementar für das Verständnis der Aussagen der Jugendlichen.
In Anlehnung an Han (2010, S. 74 ff.) werden nachfolgend verschiedene Migrationsformen[8] skizziert, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Folge der wachsenden Globalisierung international auftreten.[9]
- Arbeitsmigration
Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung bestimmt. Wenn die Wirtschaft einen Aufschwung erlebt und das Angebot des heimischen Arbeitsmarktes nicht ausreicht um den Mehrbedarf an Arbeitskräften zu decken, so wird die Nachfrageseite versuchen, den Fehlbedarf durch ausländische Arbeitskräfte zu decken.
Somit sind Arbeitsmigranten Personen, die zum Zwecke der befristeten oder dauerhaften Ausübung einer beruflichen Tätigkeit ihre Heimat verlassen und in ein neues Land einreisen. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig. Auf der einen Seite gibt es Einwanderer, die Tätigkeiten verrichten, die für die Einheimischen zu schwer, zu schmutzig oder zu schlecht bezahlt sind. Andererseits können Arbeitsmigranten auch gut ausgebildete Arbeiter, hochqualifizierte Techniker oder Wissenschaftler sein.
Ein Beispiel für Arbeitsmigration in Deutschland war die gezielte Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern aus südeuropäischen und mediterranen Ländern als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Han, 2010, S. 74 f.).
- Migration von Familienangehörigen (Familienzusammenführung)
Die Migrationsform der Familienzusammenführung, d.h. der Nachzug von Ehegatten und Kindern der Pioniermigranten, steht in engen Zusammenhang mit der Arbeitsmigration. Ursprünglich war die Intention der Pioniermigranten in ein anderes Land zu immigrieren, um nach vorübergehender Beschäftigung wieder in die Heimat zurückzukehren. Werden die gesetzten Ziele (meist wirtschaftlicher Art) allerdings nicht wie geplant erreicht, so kann aus einer temporären eine permanente Migration werden. Mit dieser verlängerten Aufenthaltsdauer im Ausland ist häufig eine Entfremdung der Pioniermigranten von ihren Familien und ihrem Herkunftsland verbunden. Aus diesen Gründen möchten die Pioniermigranten den Nachzug ihrer Ehegatten und später auch Kinder (größere Umstellung und größerer finanzieller Aufwand) ermöglichen, um einerseits die persönliche Beziehung aufrecht zu erhalten und andererseits die Einsamkeit in der Fremde zu relativieren.
Somit führt die global steigende Arbeitsmigration zu steigenden Migrationsbewegungen, weil sie früher oder später die Migration von Familienangehörigen zur Folge hat. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Gesetzeslage im jeweiligen Aufnahmeland großen Einfluss auf den möglichen Nachzug von Familienangehörigen hat (vgl. Han, 2010, S. 85).
- Migration von Flüchtlingen
Menschen, die aufgrund unterschiedlich verursachter und begründeter Bedrohung für ihr Leben ihren Wohnsitz vorübergehend oder dauerhaft verlassen und an einem anderen Ort Zuflucht suchen, werden nach Han (vgl. 2010, S. 93 f.) als Flüchtlinge bezeichnet. Gründe für die Flucht können Verfolgung (z.B. aufgrund der Rasse, Religion oder Nationalität), Krieg oder auch Naturkatastrophen sein.
- Migration ethnischer Minderheiten
Menschen, die Teil einer ethnischen Minderheit sind, unterscheiden sich durch objektive (kulturelle Identität, numerische Inferiorität, machtmäßige Unterlegenheit) und subjektive (Zugehörigkeitsgefühl) Kriterien von der Mehrheitsgruppe des Residenzstaates (vgl. Gornig, 2001, S. 22). Es können nach Han (vgl. 2010, S. 101 f.) drei besondere Prozesse genannt werden, die für eine Bildung von ethnischen Minderheiten verantwortlich sein können: Die Bildung von Nationalstaaten (z.B. nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden viele Russen heimatlos und migrieren bis heute wieder zurück nach Russland), die Ansiedlung angeworbener ethnischer Gruppen in einem Staat zur wirtschaftlichen Erschließung (z.B. Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen in Rumänien im Mittelalter, die noch heute als sogenannte „Aussiedler“ zurück nach Deutschland migrieren) und schließlich die Migration von Menschen in ein Aufnahmeland, in dem sie zu einer ethnischen Minderheit werden, weil sie dort nicht als gleichberechtigte Bürger angesehen und akzeptiert werden.[10]
[...]
[1] Der Terminus (Schul-)Sport beinhaltet im Rahmen dieser Untersuchung den Vereinssport sowie den Schulsport, der den Sportunterricht und andere außerunterrichtliche Sportaktivitäten im Schulleben (beispielsweise Sport-AG) umfasst.
[2] Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff Untersuchung synonym zum Begriff Forschung verwendet.
[3] Um in diesem Kapitel den Begriff der Migration näher zu betrachten, wird der Forschungsstand der Sozialwissenschaften dargestellt. Die Sozialwissenschaften haben sich im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen besonders mit diesem Thema auseinandergesetzt.
[4] Das Alltagswort „Wanderung“ oder „wandern“ hat in der deutschen Sprache mehrere Bedeutungen und kann somit zu Missverständnissen führen. Beispielsweise versteht man darunter auch einen Spaziergang oder die Erklimmung eines kleinen Berges. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit die Verwendung des Begriffs der Migration vorgezogen.
[5] Eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Definitionen des Begriffs Migration ist u.a. in Treibel (2003, S. 17 ff.) oder Oswald (2007, S. 11 ff.) zu finden.
[6] Die gewählte Definition wird auch im wissenschaftlichen Diskurs verwendet. Jedoch nicht wortwörtlich, sondern es sind vielmehr ähnliche Formulierungen zu finden, die sinngemäß mit dieser selbständig formulierten Definition übereinstimmen.
[7] Die verschiedenen Migrationsformen werden in Kapitel 2.1.3 näher betrachtet.
[8] In der Literatur sind verschiedene Ansätze von diversen Autoren zu finden, die versuchen Migrationsbewegungen verschiedenen Migrationsformen zuzuordnen. Dabei weichen die Bezeichnungen der Migrationsformen von Autor zu Autor mehr oder weniger ab. In dieser Arbeit werden die Formen nach Han (2000) vorgestellt, weil diese oft in der sozialwissenschaftlichen Forschung rezipiert werden. Zudem sind sie einfach formuliert und sind daher für die Verwendung im Rahmen dieser Arbeit geeignet.
[9] Die Beschreibungen der Migrationsformen werden vergleichsweise knapp gehalten und es wird sich auf die elementaren Kriterien der jeweiligen Form beschränkt, um den theoretischen Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen.
[10] Han nennt neben den vier bereits vorgestellten Migrationsformen noch die Migration von Studierenden und die illegale Migration. Allerdings wird an dieser Stelle auf diese beiden Formen nicht näher eingegangen, da diese irrelevant für das Verständnis der Aussagen der interviewten Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind.
- Arbeit zitieren
- Michael Breckner (Autor:in), 2012, Integration durch (Schul-)Sport - Realität oder Mythos?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208532
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