Der Anthropologe und Kognitionsforscher Michael Tomasello setzt sich in seinem Werk „Die
kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ mit der Entstehung der einzigartigen
kognitiven Fähigkeiten des Menschen auseinander und erklärt diese Evolution, indem er
kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift, der einzigartig schnell zu
erstaunlichen Erfolgen führte. Die daraus resultierende, beispiellos komplexe Kultur des
Homosapiens, grenzt er zu Fähigkeiten anderer Primaten, mit Hilfe zahlreicher Versuche und
Beobachtungen, klar ab.
Sechs Millionen Jahre trennen uns Menschen von anderen Menschenaffen und erste
Anzeichen für die unverwechselbaren kognitiven Fähigkeiten des Homosapiens liegen erst
250.000 Jahre zurück. Evolutionär betrachtet sind dies sehr kurze Zeitspannen. Tomasello
wirft die Frage auf, wie in diesem Augenzwinkern der Evolution eine so dramatische
Weiterentwicklung, wie die des modernen Menschen, zu erklären ist.
Eine Antwort darauf findet er durch soziale oder kulturelle Weitergabe, die auf einer
wesentlich schnelleren Zeitskala operiert, als die organische Evolution. Diese Weitergabe
bezeichnet das Erlernen von Fähigkeiten und Fertigkeiten der Nachkommen durch die
Elterngeneration. Der Mensch hat laut Tomasello eine einzigartige Form kultureller
Weitergabe entwickelt, die sogenannte kumulative kulturelle Evolution. Das bedeutet, dass
„ein Individuum oder eine Gruppe zunächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts
oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder
Verbesserung einführten.“(Tomasello 2006: S.16) [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens
- 2. Unterschiede in der Kognition von Primaten und Menschen
- 3. Kultur nichtmenschlicher Primaten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Das Werk von Michael Tomasello untersucht die Entstehung der einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen und erklärt diese Evolution durch den Prozess der kulturellen Vermittlung. Es vergleicht die Fähigkeiten des Menschen mit denen anderer Primaten und analysiert die Mechanismen der kumulativen kulturellen Evolution.
- Kumulative kulturelle Evolution und der "Wagenhebereffekt"
- Unterschiede in der Kognition zwischen Menschen und Primaten (Verständnis von Intentionalität und Kausalität)
- Imitationslernen vs. Emulationslernen bei Primaten
- Soziogenese und kulturelles Lernen
- Die Rolle der Sprache in der kulturellen Entwicklung
Zusammenfassung der Kapitel
1. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens: Dieses Kapitel untersucht die Entstehung der einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Tomasello argumentiert, dass die kulturelle Vermittlung als biologischer Mechanismus eine außergewöhnlich schnelle Entwicklung ermöglichte, die zu der beispiellos komplexen Kultur des Homo sapiens führte. Er betont die kumulative kulturelle Evolution, den "Wagenhebereffekt", der durch zuverlässige soziale Weitergabe und ständige Verbesserung von Artefakten und Praktiken ermöglicht wird. Im Gegensatz zu Primaten, die intelligente Verhaltensänderungen zeigen, fehlt ihnen die Fähigkeit zur kumulativen Weiterentwicklung. Tomasello führt dies auf die Fähigkeit des Menschen zurück, Artgenossen als intentionale und geistige Wesen zu verstehen, was durch Prozesse der Soziogenese und des kulturellen Lernens, insbesondere durch Sprache, ermöglicht wird. Die biologische Anpassung wird als sekundär zur kulturellen Evolution dargestellt.
2. Unterschiede in der Kognition von Primaten und Menschen: Dieses Kapitel vergleicht die Kognition von Primaten und Menschen. Tomasello argumentiert, dass Primaten zwar ein Verständnis von relationalen Kategorien besitzen, insbesondere soziale Beziehungen Dritter, aber im Gegensatz zum Menschen die Welt nicht in intentionalen und kausalen Begriffen verstehen. Experimente zeigen, dass Schimpansen keine Unterscheidung zwischen intentionalem und nicht-intentionalem Verhalten treffen können und ein mangelndes Verständnis von Kausalität aufweisen. Dies unterscheidet sich grundlegend vom menschlichen Verständnis von Ursachen und Intentionen, das die Vorhersage und Erklärung des Verhaltens von Artgenossen ermöglicht und auf das Verhalten unbelebter Gegenstände angewendet werden kann. Diese Fähigkeit ist ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche und schnelle Entwicklung der menschlichen Kultur.
3. Kultur nichtmenschlicher Primaten: Dieses Kapitel analysiert die Kultur nichtmenschlicher Primaten, um die Unterschiede zur menschlichen Kultur hervorzuheben. Tomasello verwendet Beispiele wie das Kartoffelwaschen bei Makaken, um zu zeigen, dass individuelles Lernen und nicht Imitation die Haupttreiber sind. Er vergleicht den Werkzeuggebrauch bei Schimpansen mit dem von Kindern, um den Unterschied zwischen Emulationslernen bei Primaten und Imitationslernen beim Menschen zu verdeutlichen. Die gestische Kommunikation bei Schimpansen wird auf ontogenetische Realisierung zurückgeführt, im Gegensatz zum Imitationslernen beim Menschen. Die Kernaussage ist, dass nichtmenschliche Primaten zwar komplexe Fähigkeiten besitzen, aber das Imitationslernen, das für die kumulative kulturelle Evolution essentiell ist, dem Menschen vorbehalten bleibt. Obwohl Affen, die mit Menschen aufwachsen, Ähnlichkeiten mit intentionalem Handeln zeigen, unterscheidet sich das Schaffen und Reagieren auf Kultur gravierend.
Schlüsselwörter
Kumulative kulturelle Evolution, Wagenhebereffekt, intentionales Handeln, Kausalität, Imitationslernen, Emulationslernen, Soziogenese, kulturelles Lernen, Sprache, Primaten, Homo sapiens, kulturelle Tradition.
Häufig gestellte Fragen zu Michael Tomasellos Werk über die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens
Was ist das Hauptthema von Michael Tomasellos Werk?
Tomasellos Werk untersucht die Entstehung der einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen und erklärt diese Evolution durch den Prozess der kulturellen Vermittlung. Es vergleicht die Fähigkeiten des Menschen mit denen anderer Primaten und analysiert die Mechanismen der kumulativen kulturellen Evolution.
Welche zentralen Unterschiede in der Kognition zwischen Menschen und Primaten werden behandelt?
Ein Hauptunterschied liegt im Verständnis von Intentionalität und Kausalität. Während Menschen die Welt in intentionalen und kausalen Begriffen verstehen, fehlt Primaten dieses Verständnis. Menschen können zwischen intentionalem und nicht-intentionalem Verhalten unterscheiden und Kausalitäten erkennen, was Primaten nicht in gleichem Maße gelingt. Diese Fähigkeit ist essentiell für die Entwicklung menschlicher Kultur.
Was ist die kumulative kulturelle Evolution und der "Wagenhebereffekt"?
Die kumulative kulturelle Evolution beschreibt die ständige Verbesserung von Artefakten und Praktiken durch zuverlässige soziale Weitergabe. Der "Wagenhebereffekt" illustriert, wie kleine, aufeinander aufbauende Verbesserungen im Laufe der Zeit zu erheblichen Fortschritten führen. Dies ist ein Merkmal der menschlichen Kultur, das bei Primaten fehlt.
Welche Rolle spielt das Imitationslernen im Vergleich zum Emulationslernen?
Tomasello argumentiert, dass Imitationslernen, bei dem die Handlungsweise anderer nachgeahmt wird, für die kumulative kulturelle Evolution essentiell ist. Im Gegensatz dazu konzentriert sich Emulationslernen auf das Ergebnis der Handlung, ohne den Prozess zu imitieren. Primaten zeigen eher Emulationslernen, während Menschen Imitationslernen beherrschen.
Welche Bedeutung hat die Sprache in der kulturellen Entwicklung?
Die Sprache spielt eine entscheidende Rolle in der kulturellen Entwicklung, da sie die Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten ermöglicht und somit die kumulative kulturelle Evolution vorantreibt. Sie erleichtert den Austausch von Informationen und das Verständnis von Intentionalität und Kausalität.
Wie wird die Kultur nichtmenschlicher Primaten beschrieben und mit der menschlichen Kultur verglichen?
Tomasello analysiert die Kultur nichtmenschlicher Primaten, um die Unterschiede zur menschlichen Kultur hervorzuheben. Er zeigt, dass individuelles Lernen und nicht Imitation die Haupttreiber für kulturelle Entwicklung bei Primaten sind. Der Werkzeuggebrauch bei Schimpansen wird als Beispiel für Emulationslernen angeführt, im Gegensatz zum Imitationslernen beim Menschen.
Welche Kapitel sind im Buch enthalten und worum geht es in ihnen?
Das Buch umfasst drei Kapitel: Kapitel 1 behandelt die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Kapitel 2 vergleicht die Kognition von Primaten und Menschen und Kapitel 3 analysiert die Kultur nichtmenschlicher Primaten.
Welche Schlüsselbegriffe sind für das Verständnis des Buches wichtig?
Wichtige Schlüsselbegriffe sind: Kumulative kulturelle Evolution, Wagenhebereffekt, intentionales Handeln, Kausalität, Imitationslernen, Emulationslernen, Soziogenese, kulturelles Lernen, Sprache, Primaten, Homo sapiens, kulturelle Tradition.
- Quote paper
- Stefan Raß (Author), 2012, Eine kurze Untersuchung von Michael Tomasellos "Die kulturelle Entwicklung des meschlichen Denken", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/208109