Mein Interesse an der Frage nach dem Charakter der staatssozialistischen Gesell-schaften sowjetischen Typs im Allgemeinen und der DDR-Gesellschaft im Besonde-ren ist in ihrer nach wie vor bestehenden politischen Brisanz begründet.
Als sich die DDR nach der Herbstrevolution 1989 unter ihrer ersten und letzten frei gewählten Regierung am 3.Oktober 1990 der Bundesrepublik anschloss, war damit das Ende der Systemkonkurrenz auf deutschem Boden besiegelt. Mit der DDR schloss sich ein Staat der BRD an, der laut eigener Verfassung vorgegeben hatte, die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bereits reali-siert zu haben.1 In der gesellschaftlichen Umwälzung der Jahre 1989/90 kam eben-falls der lange Prozess des ökonomischen Niedergangs der DDR im Vergleich zur BRD zum Abschluss.2
Bewertet man vor diesem Hintergrund die Gesellschaft der DDR und der anderen Staaten des sogenannten real existierenden Sozialismus in der Retrospektive als eine Art klassenlose Gesellschaft, so legt das den Schluss nahe, die Beseitigung so-zialer Unterschiede würde automatisch zu ökonomischer Ineffizienz führen. Diese müßte letztendlich auch das erklärte Ziel der Steigerung der Wohlfahrt breiter, bis dahin unterprivilegierter Schichten der Bevölkerung konterkarieren.
[...]
1 „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem EntSchluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten...“ vgl. Artikel 19 Abs.3 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968
Einschränkend muß hier gesagt werden, dass dieser Passus in der ersten volksdemokratischen Verfassung der DDR für ganz Deutschland vom 7. Oktober 1949 noch nicht enthalten war, die „Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung“ also erst ab 1968 verfassungsmäßig explizit fixiert wurde. Vgl. Hildebrandt, H., 1992, S.198-235
2 Das Produktivitätsniveau der DDR-Volkswirtschaft wird von U. Ludwig und R. Stäglin für das Jahr 1987 auf 35 Prozent der BRD geschätzt. Berechnungen nach dem Renten - Umstellungskoeffizienten ergaben für dasselbe Jahr nur 14 Prozent im Vergleich zu vom DIW geschätzten 84 Prozent der Produktivität der BRD für das Jahr 1950. Vgl. Schwarzer, Oskar, 1999, S.131 u. S.167
Inhalt
1.Einleitung
2. Sigrid Meuschel und Heike Solga als jüngere Vertreterinnen der Totalitarismustheorie bzw. der marxistischen Klassentheorie und ihre Kritiker
3. Sigrid Meuschels Theorie der gleichgeschalteten Gesellschaft von Staatsangestellten in der DDR
4. Sigrid Meuschels Konzept der sozialen Klasse
5. Heike Solgas Theorie der neuen Klassengesellschaft in der DDR
6. Die Entwicklung sozialer Aufstiegschancen in der DDR
6.1. Soziale Mobilität
6.2. Heiratsverhalten
6.3. Hochschulbildung
6.4. Resümee
7. Einkommen und Habitus sozialer Schichten der DDR-Gesellschaft
7.1. Löhne und Gehälter
7.2. Sonderleistungen und Schattenwirtschaft
7.3. Kulturelles Distinktionsverhalten
7.4. Resümee
8. Gesellschaftliche Subsysteme in der DDR
8.1. Rechtliche Stellung der DDR-Bürger gegenüber dem Staat
8.2. Milieus bis
8.3. Die Rolle des Arbeitskollektivs
8.4. Zwischenbetriebliche informelle Märkte
8.5. Resümee
9. Zusammenfassung
Bibliografie:
1.Einleitung
Mein Interesse an der Frage nach dem Charakter der staatssozialistischen Gesellschaften sowjetischen Typs im Allgemeinen und der DDR-Gesellschaft im Besonderen ist in ihrer nach wie vor bestehenden politischen Brisanz begründet.
Als sich die DDR nach der Herbstrevolution 1989 unter ihrer ersten und letzten frei gewählten Regierung am 3.Oktober 1990 der Bundesrepublik anschloss, war damit das Ende der Systemkonkurrenz auf deutschem Boden besiegelt. Mit der DDR schloss sich ein Staat der BRD an, der laut eigener Verfassung vorgegeben hatte, die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bereits realisiert zu haben.[1] In der gesellschaftlichen Umwälzung der Jahre 1989/90 kam ebenfalls der lange Prozess des ökonomischen Niedergangs der DDR im Vergleich zur BRD zum Abschluss.[2]
Bewertet man vor diesem Hintergrund die Gesellschaft der DDR und der anderen Staaten des sogenannten real existierenden Sozialismus in der Retrospektive als eine Art klassenlose Gesellschaft, so legt das den Schluss nahe, die Beseitigung sozialer Unterschiede würde automatisch zu ökonomischer Ineffizienz führen. Diese müßte letztendlich auch das erklärte Ziel der Steigerung der Wohlfahrt breiter, bis dahin unterprivilegierter Schichten der Bevölkerung konterkarieren.
Kommt man hingegen zu dem Schluss, dass die staatssozialistische Gesellschaft sowjetischen Typs entweder als alte oder neue Klassengesellschaft oder als auf anderen Formen sozialer Ungleichheit beruhende Gesellschaft zu charakterisieren ist[3], so lässt sich mit dem Hinweis auf die Geschichte der Staaten im östlichen Mittel- und in Osteuropa vor 1989/90 diese These nicht belegen.
Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, dass die Mehrheit der Bevölkerung der neuen Bundesrepublik im Kontext der vergangenen Systemkonkurrenz sozialisiert wurde, wird die politische Brisanz des Themas noch deutlicher.
2. Sigrid Meuschel und Heike Solga als jüngere Vertreterinnen der Totalitarismustheorie bzw. der marxistischen Klassentheorie und ihre Kritiker
Sigrid Meuschels und Heike Solgas Theorien über den Charakter der DDR-Gesellschaft aus den Neunziger Jahren bieten sich für die Diskussion beider Standpunkte an.
Sigrid Meuschel schreibt der DDR den Charakter einer „klassenlosen Gesellschaft“ in Form einer gleichgeschalteten Gesellschaft von Staatsangestellten zu , Heike Solga den einer Klassengesellschaft neuen Typs.
Für die Diskussion beider Standpunkte anhand ihrer Theorien sprechen folgende Vorteile: Erstens sind sie zu einer Zeit geschrieben worden, in der die Parteiarchive und Aktenbestände staatlicher Stellen der ehemaligen DDR der Wissenschaft bereits zugänglich waren, zweitens haben sie den „deutschen Fall eines Staates sowjetischen Typs“ zum Gegenstand.
Die DDR als Untersuchungsgegenstand bietet drittens den Vorteil, sich mit einer Erbin einer modernen kapitalistischen Industriegesellschaft auseinandersetzen zu können – im Falle der Sowjetunion z. B. müsste man für einen längeren Zeitraum immer noch die Besonderheiten eines sich nachholend industrialisierenden Landes berücksichtigen.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf S. Meuschels Buch Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR von 1992 und H. Solgas Arbeit Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität in der DDR von 1995.
Meuschels Artikel Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, ihre im Jahre 2000 in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft unter dem Titel Machtmonopol und homogenisierte Gesellschaft. Anmerkungen zu Detleff Pollack veröffentlichte Antwort auf eine Kritik desselben von 1998 und Heike Solgas Aufsätze Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR: Anspruch und Wirklichkeit des Postulats sozialer Gleichheit und Soziale Unterschiede am Vorabend der Wende (gemeinsam mit Martin Diewald) in Huinink, Johannes (1995): Kollektiv und Eigensinn dienen ebenfalls als Bezugspunkte der folgenden Analyse.
Solga nutzte für ihre Studie der Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft die Ergebnisse des von Johannes Huinink und Karl Ulrich Mayer geleiteten Projektes „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“ am Max-Planck-Institut. Sie beruht auf 2.331 Interviews, die von 1991 bis 1992 mit Männern und Frauen aus 427 Städten und Gemeinden in den neuen Bundesländern geführt wurden. Die Probanden gehörten den vier ausgewählten Geburtsjahrgangskohorten 1929-31, 1939-41, 1951-53 und 1959-61 an.[4] Um die Entwicklung der Position der Befragten im sozialen Raum verfolgen zu können, wählte Solga als Bezugspunkte das 14. und das 30. Lebensjahr.[5]
Sigrid Meuschels Thesen sind bereits von mehreren Autoren kritisiert worden.
Soweit ich die einschlägigen geistes- wie sozialwissenschaftlichen Zeitschriften von 1994 bis 2001 überschaue, ist ihr bisher am deutlichsten von Ralph Jessen, Peter Hübner, Eric D. Weitz, Stefan Hornbostel und Detlef Pollack widersprochen worden.[6]
Im Gegensatz dazu ist mir keine derartig vehemente Kritik an Heike Solgas Arbeit bekannt.
Die Auseinandersetzung mit den allgemeinen Kritiken soll aber hier nur am Rande geführt werden. Eingrenzend muss gesagt werden, dass es mir im Gegensatz zu D. Pollack in seiner Kritik an S. Meuschel von 1998 und 2000 in Geschichte und Gesellschaft nur um eine Auseinandersetzung mit dem der DDR-Gesellschaft von beiden Autorinnen attestierten sozialen Charakter geht. Ein weiterer Ansatz würde den Rahmen des hier Möglichen überschreiten.
Im Folgenden sollen die Kernaussagen beider Theorien über den sozialen Charakter der DDR-Gesellschaft mit den Forschungsergebnissen anderer Autoren nach 1990 konfrontiert werden. Wesentliche Thesen Solgas werden darüber hinaus mit den empirischen Untersuchungen zu den Eliten in der DDR-Gesellschaft von Eberhard Schneider aus dem Jahre 1994 verglichen, die auf Untersuchungen von Ludz, Alt und Meyer auf Basis des vor 1989 zur Verfügung stehenden statistischen Materials basieren. Die Ergebnisse der von Stefan Hornbostel herausgegebenen empirischen Untersuchungen aus dem Jahre 1999 werden hier ebenfalls zu Rate gezogen.[7]
In den folgenden drei Abschnitten sollen zuerst anhand der kurzen Darstellung beider Theorien zu beantwortende Fragen herausgearbeitet werden.
3. Sigrid Meuschels Theorie der gleichgeschalteten Gesellschaft von Staatsangestellten in der DDR
Die Kernaussagen der Theorie Sigrid Meuschels sind folgende:
In der früheren DDR, wie in allen anderen staatssozialistischen Staaten sowjetischen Typs, habe die herrschende kommunistische Partei die Errichtung eine „Gesellschaft der materiellen Gleichheit“ zum verfassungsmäßigen Ziel erklärt.
Sie habe weiterhin verkündet, die gesellschaftliche Kraft zu sein, welche als einzige über die Einsicht in den richtigen Weg im Sinne dieser Zielstellung verfügte und legitimierte so ihre totalitäre Herrschaft. Die Durchsetzung dieser totalitären Macht erfolgte über die Gleichschaltung der Gesellschaft.[8] Die derart bewerkstelligte Liquidierung gesellschaftlicher Subsysteme führte zur „Abschaffung der Gesellschaft“ und zu ökonomischer Ineffizienz, welche ständig das Ziel der fortwährenden Modernisierung der Gesellschaft konterkarierte. Die Partei- und Staatsführung sah sich zwar während der Periode des Neuen Ökonomischen Systems gezwungen, die Gesellschaft wieder zu redifferenzieren und zivilgesellschaftliche Strukturen erneut zu beleben, der eigene totalitäre Machtanspruch führte allerdings zur Rücknahme dieser Reformen, so Meuschel.
„Materiale Gleichheit und soziale Sicherheit wurden zu den zentralen Legitimitätsansprüchen der Parteiherrschaft, und sie löste sie auch in gewisser Weise ein: die entdifferenzierte, „klassenlose“ Gesellschaft wurde unter der Herrschaft Honeckers zementiert...“ (Meuschel, S., 1992, S.222)
Letztendlich habe das Fehlen zivilgesellschaftlicher Strukturen das Entstehen von wirksamen Gegeneliten verhindert und sei so Ursache für die Attraktivität der Idee einer schnellen Wiedervereinigung in den Augen der Mehrheit der DDR-Bürger gewesen.[9]
Im Wesentlichen stecken in den Ausführungen Sigrid Meuschels drei Thesen bezüglich des sozialen Charakters der DDR-Gesellschaft, die es zu überprüfen gilt:
1. Die staatssozialistische Gesellschaft war eine „gleichgeschaltete Gesellschaft von Staatsangestellten“, die als klassenlose Gesellschaft angesehen werden muss.
2. Es gab keine rechtliche, ökonomische und politische Ausdifferenzierung und unabhängigen Subsysteme.
3. In der DDR-Gesellschaft gab es einen signifikanten Trend hin zu einer sozial und politisch nivellierten Gesellschaft, der während der Reformperiode der NÖS unterbrochen wurde, sich dann aber in den 1970er- und 1980er-Jahren fortsetzte.
Die erste Frage macht es zunächst notwendig, Meuschels Vorstellungen von gesellschaftlichen Klassen zu klären, da sie sich selbst in keiner der oben genannten Publikationen explizit auf eine Definition bezieht.
4. Sigrid Meuschels Konzept der sozialen Klasse
Folgt man den Ausführungen Sigrid Meuschels zu den von ihr eingeführten Begriff der klassenlosen Gesellschaft in Form der gleichgeschalteten Gesellschaft von Staatsangestellten, so trifft man bei der näheren Prüfung dieser Charakterisierung der früheren DDR auf folgende Schwierigkeiten:
Sie betont zum einen, der Begriff sei ironisch gemeint.[10] Aber sowohl in ihrem Werk von 1992 als auch in ihrer Antwort auf D. Pollack aus dem Jahre 2000 geht sie von einem Prozess der Beseitigung der Klassengesellschaft in der ehemaligen DDR durch die von der SED durchgesetzte Gleichschaltung von Parteien und anderen sich unabhängig konstituierenden Interessenverbänden aus, die aus der DDR-Gesellschaft letztendlich eine klassenlose Gesellschaft gemacht hätten.[11]
Zwei weitere Passagen sind für das Verständnis ihrer Konzeption von gesellschaftlichen Klassen, Klassen- bzw. klassenlosen Gesellschaften von Bedeutung:
„Die Metapher der „klassenlosen Gesellschaft“ ist in mehrfacher Hinsicht zu präzisieren. Sie soll keineswegs heißen, es hätte kein Machtgefälle in Gesellschaften sowjetischen Typs gegeben. Ganz im Gegenteil wird man sagen können, dass die Macht der Partei auf der sozialen Entdifferenzierung beruhten...“ (Meuschel, 1992, S.11)
Mit Bezug auf den 17.Juni 1953 schreibt Meuschel:
„Dass die politische und ökonomische Unterwerfung der des Mittelstands und Kleinbürgertums ohne eine Verschärfung des obrigkeitsstaatlich induzierten Klassenkampfes nicht durchsetzbar sein würde, lag in der Konsequenz des politischen Denkens. Aber aufgrund zunehmender Repression trat der ungeplante Fall ein: der Klassenkampf von unten...“ (Meuschel, 1992, S. 118)
Deutlich wird hier der Einfluss von Hannah Arendts Theorie der totalitären Herrschaft - auf die sich Sigrid Meuschel an anderer Stelle bezieht[12] - die die Durchsetzung totalitärer Herrschaft sowohl im Falle des Dritten Reiches als auch im Falle des Aufstiegs des Stalinismus in der Sowjetunion als Prozess der Abschaffung von gesellschaftlichen Klassen interpretiert.[13]
Klassen existieren für Arendt und Meuschel unabhängig von der Existenz eines Machtgefälles in der Gesellschaft und sie konstituieren sich im Prozess der eigenen politischen und ökonomischen Willensbildung, sie existieren also nur als politisch wahrnehmbare Interessengruppen.[14]
Als weiteres grundlegendes Merkmal einer Klassengesellschaft definiert Meuschel deren soziale Differenziertheit.[15] Betont werden muss, dass Formen von Arbeitsteilung für sie kein hinreichendes Charakteristikum für die Existenz von Klassen sind.[16] Machtgefälle können auch in klassenlosen Gesellschaften existieren, so eine weitere Grundannahme der Leipziger Politologin.[17]
5. Heike Solgas Theorie der neuen Klassengesellschaft in der DDR
Unter Berufung auf den jugoslawischen Marxisten Milovan Djilas und auf Michael Voslensky[18] wählt Heike Solga die Interpretation der marxistischen Klassentheorie, nach der Gesellschaften verschiedenen Typs Klassengesellschaften sind, sobald die Bedingung der ungleichen Partizipation an der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel seitens verschiedener sozialer Gruppen erfüllt ist, als Ausgang ihrer Analyse. Herrschende soziale Klassen dominieren demnach die Entscheidungsfindung bezüglich des Einsatzes der Produktionsmittel und/oder die Distribution der erzeugten Güter und Dienstleistungen.[19] Ausgehend von dieser Definition skizziert Solga die DDR-Gesellschaft und ihre Geschichte wie folgt:
Im Staatssozialismus sowjetischen Typs befand sich die Mehrheit der als „volkseigen“ deklarierten Produktionsmittel tatsächlich in Staatsbesitz. Somit verfügten die Mitglieder der Parteibürokratie über das Produktivvermögen der Gesellschaft, da die staatliche Macht in ihren Händen lag. Das Handeln dieser neuen herrschenden Klasse wurde grundlegend vom Interesse an der fortwährenden Festigung und dem Ausbau ihres privilegierten Zugriffs auf die Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen bestimmt.[20]
Dieses Privileg war auch in den staatssozialistischen Gesellschaften sowjetischen Typs Ursache sozialer Ungleichheit, so Solga.[21]
Folgende Fragen dienen ihr als Richtschnur zur Bestimmung der sozialen Klassen in der DDR-Gesellschaft:
- Wer entscheidet über die Art und die Menge der zu produzierenden Güter?
- Wer entscheidet über die Art und Weise der Produktion?
- Wer kontrolliert den Produktionsprozess?[22]
Für den Sektor des dominierenden staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln kommt sie so auf folgendes Klassenmodell:
1. Bei der Parteielite handelte es sich um die eigentlich herrschende Klasse (Sekretäre, ZK-Mitglieder und -kandidaten, Mitglieder des Politbüros, Abteilungsleiter des ZK, Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, Führungsmitglieder von Massenorganisationen).
2. Auf der nächstniedrigeren Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie folgte die administrative Dienstklasse im Staats- und Parteiapparat (Administrativkader der Volkskammer, die Mitglieder des Staatsrates, die Minister, Kombinatsdirektoren, hohe NVA-Offiziere u. a.).[24]
3. Unter der administrativen Dienstklasse rangierte die operative Dienstklasse, deren Mitglieder aufgrund der ihnen zugestandenen Handlungsvollmachten ebenfalls an der Verfügungsgewalt teil hatten. Ihr sind im Wesentlichen Lehrer, Ingenieure und Wissenschaftler mit Spezialkenntnissen und Abteilungsleiter oder Schuldirektoren mit Weisungsbefugnissen zuzurechnen.[25]
4. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung gehörte der sozialistischen Arbeiterklasse an. Ihr sind vor allem qualifizierte und nichtqualifizierte Arbeiter sowie Angestellte, die in keiner Weise Anteil an der „politischen, ökonomischen und technokratischen Verfügungsgewalt“ besaßen, zuzurechnen.[26]
Im unbedeutenderen Sektor des genossenschaftlichen Eigentums unterscheidet Solga zwischen der genossenschaftlichen Dienstklasse (Direktoren und Abteilungsleitern der Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft und im Handwerk) und der ihr unterstellten Klasse der Genossenschaftsbauern und der PGH-Handwerksmeister.[27]
Im randständigen Privatsektor unterscheidet die Autorin zwischen der einfachen Warenproduktion und den Resten der kapitalistischen Warenproduktion. Der erste Teilsektor war die Domäne selbständiger Klein- und Mittelbauern und selbständiger Gewerbetreibender. Der zweite bildete bis zur Kollektivierung der restlichen großen Landwirtschaftsbetriebe (1954 bis 1960) und bis zur schließlich 1972 zwangsweise vollzogenen Verstaatlichung der verbliebenen privaten und halbstaatlichen Industriebetriebe das Refugium von Betriebs- und Großgrundbesitzern [28] und der alten und neuen bürgerlichen Dienstklasse.[29]
Die Geschichte der DDR-Gesellschaft unterteilt sie in drei Perioden: die erste Periode von 1949 bis 1961[30], in der die Grundlagen des „Sozialismus in der DDR“ geschaffen wurden; die zweite von 1961 bis zum Ende der 70er Jahre[31], in der sich das System stabilisierte und die dritte bis 1989, in der sich die Klassenstrukturen des staatlichen Eigentums immer weiter verfestigten.[32]
Auf Basis ihrer eigenen empirischen Untersuchungen kommt Solga zu dem Schluss, dass der Sozialismus in der DDR als Klassengesellschaft neuen Typs charakterisiert werden muss, da sich die Klassengrenzen in der Honecker-Ära zunehmend verdichteten.[33]
Die Gültigkeit von Solgas Theorie der Klassengesellschaft in der DDR hängt am Ende davon ab, ob folgende Aussagen bewiesen werden können:
1. Die von ihr ermittelten privilegierten Klassen schließen sich zunehmend von den anderen Klassen ab. Hier gilt es zu überprüfen, ob es nicht auch gegenläufige Entwicklungen zu den von ihr empirisch ermittelten selektiven Heiratsmustern, ungleichen Vererbungschancen und ungerechten Rekrutierungsmustern und der Abnahme der Mobilität zwischen den Klassen gab.
2. Die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen nimmt zu.
3 Die von ihr ermittelten Trends der sozialen Differenzierung von 1945 bis 1989 in der SBZ/DDR sind zu überprüfen.
[...]
[1] „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem EntSchluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten...“ vgl. Artikel 19 Abs.3 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968
Einschränkend muß hier gesagt werden, dass dieser Passus in der ersten volksdemokratischen Verfassung der DDR für ganz Deutschland vom 7. Oktober 1949 noch nicht enthalten war, die „Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung“ also erst ab 1968 verfassungsmäßig explizit fixiert wurde. Vgl. Hildebrandt, H., 1992, S.198-235
[2] Das Produktivitätsniveau der DDR-Volkswirtschaft wird von U. Ludwig und R. Stäglin für das Jahr 1987 auf 35 Prozent der BRD geschätzt. Berechnungen nach dem Renten - Umstellungskoeffizienten ergaben für dasselbe Jahr nur 14 Prozent im Vergleich zu vom DIW geschätzten 84 Prozent der Produktivität der BRD für das Jahr 1950. Vgl. Schwarzer, Oskar, 1999, S.131 u. S.167
[3] Unter Theorien von Klassengesellschaften alten Typs als Charakterisierung des Staatssozialismus sowjetischen Typs sind hier verschiedene Staatskapitalismus-Theorien (u.a. Cliff) und Theorien, die auf der marxistischen Analyse der asiatischen Produktionsweise aufbauen (u.a. Wittfogel und Bahro) gemeint. Als Theorien der Klassengesellschaften neuen Typs, werden Theorien bezeichnet, die dieser Gesellschaft den Charakter eines bürokratischen Kollektivismus attestieren (u.a. Burnham und Djilas). Die Gesellschaft sowjetischen Typs erscheint als eine Gesellschaft basierend auf einer anderen Form sozialer Gegensätze, die aber nicht mehr als Klassengegensätze zu definieren seien, in der Theorie des degenerierten Arbeiterstaates von L.Trotzki. Auf einer jüngeren Fassung dieser Theorie basiert Ernest Mandels Macht und Geld: eine marxistische Analyse der Bürokratie, das postum vom Neuer ISP Verlag in Köln vor einem Jahr verlegt worden ist.
Siehe auch:
Bahro, R. (1977): Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus; Frankfurt a. M.
Burnham, J. (1941): The Managerial Revolution. What is happening in the World , New York
Cliff, T. (1975): Staatskapitalismus in Rußland: eine marxistische Analyse, Frankfurt a. M.
Djilas, M. (1957): The New Class, New York
Trotzki, L. (1937): The Revolution Betrayed. What is the Soviet Union and where is she going, London
Wittfogel, K.A. (1957): Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven
[4] Vgl. Solga, H.,1995, Die Etablierung..., S.130
[5] Vgl. ebenda, S.138/139
[6] Vgl. Jessen, R., 1994, Die Gesellschaft m Staatssozialismius in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft 21. Jahrgang 1994/Heft1, S.97; Hübner, P., 1995, S. 211-212; Weitz, E. D., 1997, S.393; Hornbostel, S., 1999, S. 205; Pollack, D., 1998, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. oder: War die DDR-Gesellschaft homogen? in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft, 24.Jahrgang 1998/Heft1, S.110-112 und Pollack, D., 2000, Die offene Gesellschaft und ihre Freunde in: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft, 26.Jahrgang 2000/ Heft1, S.184-196
[7] Stefan Hornbostels eigene hier veröffentlichte Untersuchungen zu den DDR-Eliten basieren auf der Auswertung des Zentralen Kaderdatenspeichers der SED. Vgl. Hornbostel, S. in: Hornbostel 1999, S.177-207
[8] Diesen Prozess definiert sie als Zerschlagung „...von Klassen und Interessengruppen, Parteien und Assoziationen in ihrer relativen Unabhängigkeit ...“ und Prozess des Abbaus „...eigenständiger Institutionen und Regelungsmechanismen wie Markt und Recht, Öffentlichkeit und Demokratie...“. (Meuschel, S., 1992, S.10)
[9] Vgl. Meuschel, S. 1992; S.10-15
[10] Vgl. Meuschel, S. 1992, S.10 und Meuschel, 2000, S.171
[11] „Die Durchsetzung des Totalitätsanspruchs der Partei, den gesamtgesellschaftlichen Umwälzung-sprozeß zu steuern, veränderte den Charakter der Gesellschaft grundlegend. Denn diese Durch-setzung verlangte, die ökonomischen, politischen und sonstigen gesellschaftlichen Ressourcen zu zentralisieren, Klassen und Interessengruppen, Parteien und Assoziationen in ihrer Unabhängigkeit zu zerschlagen...“ (Meuschel, S. 1992; S.10)
[12] Vgl. Meuschel, S., 1992, Überlegungen ..., S.6
[13] Laut Hannah Arendt sei dem Dritten Reich bereits nach dem Ersten Weltkrieg die Transformation der deutschen Gesellschaft in eine klassenlose Gesellschaft vorangegangen. Vgl. Arendt, H. 1986, S.505
Im Bezug auf die SU bezeichnet Arendt die Prozesse der Zwangskollektivierung, der Durchsetzung des stalinistischen Arbeitsregimes und die Säuberungen der Partei, der letztendlich auch die „neue durch die Revolution erst erschaffene Klasse der Sowjetbürokratie“ zum Opfer gefallen sei, als Prozeß der Beseitigung von Klassenverhältnissen im Zuge der Durchsetzung der totalitären Herrschaft Stalins. Vgl. ebenda S.517-523
[14] Die Ausführungen beider Autorinnen erinnern an das marxistische Konzept der sich im organisierten Klassenkampf aus der durch die ökonomischen Bedingungen geformten „Klasse an sich“ konsti-tuierenden „sozialen Klasse für sich“, wobei sie ohne die erste auskommen. Vgl. Mooser, J. (1984): Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M., Suhrkamp, S.17
[15] Ihr Bild von der Nivellierung aller auch kulturellen Unterschiede weist darauf hin, dass die Autorin bei ihrem Verständnis von Klassen Pierre Bourdieu soweit folgt, als dass sie bewußt vorgenommene kulturelle Distintionen als Merkmale von Klassen ansieht. Vgl. Bourdieu, P., 1991, S.174-175
[16] „Es bestand zwar noch soziale Ungleichheit entlang der „Achse Arbeitsteilung“; aber dieser Differenzierung fehlten, um sozial wirksam zu werden, die Verankerung in eigenständigen Subsystemen und der Rückhalt in ihrer spezifischen Rationalität...“ (Meuschel, S., 1992, S.12)
An anderer Stelle geht für sie die Schaffung der „klassenlosen Gesellschaft“ unter Honecker mit der Verfestigung des Machtgefälles und dem Ausbau von Repressionsorganen einher.
Damit steht sie nicht nur im Widerspruch zu Marx sondern auch zu Max Webers Klassentheorie,
nach der „Klassenlagen“ ebenfalls vom Maß der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel bestimmt werden. Die ständische Gesellschaft im Weberschen Verständnis käme als Bezugspunkt auch nicht in Frage, da diese gesellschaftliche Verbände, also Subsysteme, voraussetzt und sie sich selbst von Theorien der einer vormodernen Gesellschaft explizit distanziert. Vgl. Weber, M., 1972, S.177-180 u. Meuschel, S., 1992, Überlegungen..., S.6 Vgl. Meuschel, S., 1992, S. 222
[17] U.a. betont sie noch einmal in ihrer Antwort auf Pollack ihre These von der „Entmachtung der Gesellschaft als Bedingung für die totalitäre Macht der Partei“. Vgl. Meuschel, S., 2000, S.178
[18] Voslensky, Michael (1980): Nomentklatura. Die herrschende Klasse in der Sowjetunion, Wien, Verlag Fritz Molden
Wobei Solga an der Stelle in einem Punkt widersprochen werden muß: Djilas war nicht der erste, der die Sowjetgesellschaft als Klassengesellschaft neuen Typs charakterisiert hat. Vor ihm kamen bereits in den 1930er und 1940er Jahren Laurat, Weil, Rizzi, Burnham und Shachtman zu diesem Schluss.
Vgl. Marcel van der Linden, 1992, Von der Oktoberrevolution..., S.65-77
[19] Vgl. Solga, H., 1995, Auf dem Weg..., S.49
[20] Vgl. ebenda, S.56/57
[21] Vgl. ebenda, S.55 u. 61
[22] Vgl. ebenda, S.60
[23] Vgl. ebenda, S.65
[24] Vgl. ebenda, S.76/77
[25] Vgl. ebenda S.77/78
[26] Hier muß hinzugefügt werden, dass Solga auch Leiter der untersten Ebene, wie Meister und Brigadiere, unter Berufung auf Bender und Meyer (1993, S.132) zur sozialistischen Arbeiterklasse rechnet. Vgl. ebenda, S.74-76
[27] Nicht zu diesen Klassenlagen gehörten Angestellte und Arbeiter ohne Verfügungs- und Eigentums-rechte, die in Genossenschaften arbeiteten. Vgl. ebenda, S.78-83
[28] Vgl. ebenda S.86-87
[29] Zur bürgerlichen Dienstklasse alten Typs zählt Solga langjährige Beamte, bürgerliche Wissen-schaftler und leitende Angestellte der verbliebenen Privatbetriebe bis 1972.
Zur neuen bürgerlichen Dienstklasse rechnet sie kirchliche Würdenträger und Funktionäre, „oppositionelle“ freischaffende Künstler und die freien akademischen Berufe, also Klassenlagen, die bis zum Ende der DDR bestanden. Vgl. ebenda S.88
[30] Vgl. Solga, H., Die Etablierung..., S.57-60
[31] Vgl. ebenda S.60-63
[32] Vgl. ebenda S.63
[33] Interessanterweise greift Solga wiederholt auf Interpretationen Meuschels zurück, ohne sie an irgendeiner Stelle explizit zu kritisieren. So bezieht sie sich auf Meuschel u.a. bei ihrer Charak- terisierung der Zeit von 1980 bis 1989 als Periode zunehmender Redifferenzierung. Vgl. Solga, H., 1995, Auf dem Weg... S.122
- Quote paper
- Alf Zachäus (Author), 2001, War die DDR eine gleichgeschaltete Gesellschaft von Staatsangestellten oder eine neue Klassengesellschaft ?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/207913
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