Die Arbeit greift eine aktuelle Diskussion auf. Hat die PISA-Debatte für die Veränderung von Lern- und Lehrprozessen in Schulen sensibilisiert, so wird hier die Frage nach einer Verbesserung der Betreuung von SchülerInnen gestellt, die nur unter grossen „Problemen“ und Schwierigkeiten die Regelschule besuchen können. Dabei stehen für die Autorin weniger organisatorische oder bildungspolitische Konzepte der Verbesserung von Lehre im Vordergrund, sondern wie die konkrete pädagogische Arbeit und Beziehung der Lehrenden mit den SchülerInnen durch eine professionelle Arbeit sinnvoll gefördert werden kann.
Die Autorin beschäftigt sich mit der Bedeutung von Konzepten psychoanalytischer Pädagogik für die Betreuung, Förderung und Erziehung verhaltensauffälliger und entwicklungsgestörter Kinder insbesonders in schulischen Arrangements. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei, dass Soziale Arbeit ihren Auftrag nur über zielgerichtetes, fachliches, reflexives und selbstreflexives Handeln erfüllen kann, und dass pädagogisches Handeln nur dann erfolgreich sein kann wenn der Pädagoge über ein fundiertes Wissen über seinen „Gegenstand“, im Anwendungsfall dieser Arbeit also über Wissen über die Kinder, ihre Biographien und Lerngeschichten, mit denen er/sie es zu tun hat, verfügt. Ein zweiter Ausgangspunkt sind Zweifel daran, dass Schulen und andere Pädagogische Institutionen über ein solches handlungsbezogenes Wissen verfügen und zu zielorientiertem Handeln in der Lage sind. Prämisse und Setzung von Margareta Weitzig ist, dass die psychoanalytische Pädagogik und psychoanalytisch gebildetes Denken eine Basis für Verstehensprozesse bietet und zielgerichtetes „gegenstandsbezogenes“ pädagogisches Handeln anzuleiten vermag.
Nach der Einleitung in der die Fragestellung entfaltet und begründet wird, setzt sich Margareta Weitzig in vier Kapiteln mit theoretischen Grundlagen und Begründungszusammenhängen auseinander, analysiert in einem weiteren Kapitel die Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit ihres Ansatzes über ein exemplarisches Fallbeispiel zum Umgang mit auffälligem Verhalten in dem theoretischer Anspruch und Begründungszusammenhänge, kozeptionelle Umsetzung und Realisierung zusammengebracht werden. Schliesslich wird in einer Schlussbetrachtung der Ertrag der Arbeit reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sonderpädagogik
2.1. Das neue Bremer Schulgesetz in Hinblick auf Sonderpädagogische Förderung
2.2. Geänderte Anforderungen an Schule
2.3. Schule als Institution
3. Kurzer Abriss der Psychoanalyse
3.1. Entwicklung
3.2. Gemeinsame Grundüberzeugungen der verschiedenen Schulrichtungen
3.3. Theoretische Grundbegriffe und Verfahren der Psychoanalyse als Therapie
3.4. Die analytische Situation
3.5. Indikation
3.6. Ausbildung der Analytiker
4. Psychoanalytische Pädagogik
4.1. Definition
4.2. Geschichte und Entwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik
4.3. Standortfrage
5. Veränderungserfordernisse an die integrative Pädagogik
5.1. Ausbildung der Lehrer
5.2. Die Schüler- Lehrer Beziehung
5.3. Supervision
6. Exemplarisches Fallbeispiel zum Umgang mit auffälligem Verhalten
6.1. Betreuung des Schülers Murat
6.2. Schuleintritt als Konfliktsituation in der Sozialisation der Kinder von türkischen Migranten
6.3. Einbeziehung des familiären Umfeldes
6.4. Symptomverständnis
6.5. Beziehungsgestaltung
6.6. Gewalt und Aggression
6.7. Vorgehen
6.8. Handlungskompetenz
6.9. Teamarbeit
7. Schlussbemerkung
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Umgang mit behinderten, entwicklungsgestörten und verhaltensauffälligen Kindern ist Bestandteil beruflichen Alltags in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Kindertagesstätten und Schulen. Hier sehen sich Pädagogen tagtäglich mit einer Fülle von Problemen konfrontiert, deren Entstehung ihnen oft unverständlich erscheinen und mit deren Lösung sie sich häufig überfordert fühlen. Sie benötigen daher ein ständig aktualisiertes theoretisches und methodisches Wissen, um die schwierigen Anforderungen bewältigen zu können. Nun weiss ich aus Berichten von Lehrern aus Integrationsklassen, dass es häufig weniger die behinderten, als vielmehr die entwicklungsgefährdeten Kinder sind, die aufgrund sozialer oder psychischer Probleme zu aggressivstem Verhalten neigen und oft große Schwierigkeiten haben, sich in den Ablauf der Schule einzufügen.
Im Mittelpunkt sozialer Arbeit steht immer die Begegnung von Menschen. Sozialarbeit wird ihrem Auftrag nur gerecht, wenn diesem Aspekt die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird, geht es doch in ihren Arbeitsfeldern nicht zuletzt auch um pädagogische Prozesse. Für erfolgreiches Denken und Handeln müssen daher zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss man über klare Zielvorstellungen verfügen: Der sozial Handelnde muss möglichst genau wissen, was er mit seinen Bemühungen erreichen möchte. Sonst bliebe er orientierungslos und hätte auch für die Angemessenheit seines Handelns keine Bewertungskriterien. Zweitens braucht man ein detailliertes Gegenstandsverständnis, d. h. für mich, klare, umfassende und möglichst erschöpfende Vorstellungen davon zu haben, an dessen Veränderung man interessiert ist. Man muss also wissen, nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten es „funktioniert“. Welchen Beruf auch immer Menschen ausüben - setzen wir es als selbstverständlich voraus, dass sie etwas davon verstehen - wir erwarten, dass sie über klare und brauchbare Vorstellungen von ihrer „Materie“ verfügen. Professionalität ergibt sich aus dem jeweiligen Gegenstandsverständnis.
Der „Gegenstand“ von Sonderpädagogen und Pädagogen in Integrationsklassen sind Kinder mit Behinderungen oder Kinder, die von Behinderungen bedroht werden. Kinder bringen heute eine ungeheure Vielfalt der verschiedensten Lebenszusammenhänge mit - unterschiedliche Familienstrukturen, materielle, soziale und kulturelle Hintergründe. Integrative Erziehung ist demnach eine Pädagogik der Vielfalt. Immer dann, wenn „reguläre“ Pädagogen nicht mehr weiter wussten, waren Sonderpädagogen gefragt. Damit bin ich bei meinem Problemaufriss angelangt: Es gilt berechtigte Zweifel anzumelden, ob zur Einlösung des Anspruchs, eine Pädagogik der Vielfalt zu sein, das Gegenstandsverständnis in der Integrationspädagogik in ausreichendem Maße klar, eindeutig und detailliert genug vorhanden ist. Dies könnte bedeutsame Folgen für das professionelle Können des Grundschullehrers haben, der sich nach Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes im Lande Bremen als Integrationspädagoge verstehen soll.
Präzise Fachkenntnisse und klare Bestimmungsmerkmale bewegen sich hier oft auf dem Niveau von Alltagsplausibilitäten. Am Begriff der Lernbehinderung lässt sich das exemplarisch festmachen. Eberwein (1997) stellt fest, dass dieser zentrale Begriff trotz langer Diskussion bisher nicht ausreichend geklärt und präzisiert werden konnte. Daher können die Gruppe der sogenannten Lernbehinderten und ihre charakteristischen Merkmale nicht eindeutig bestimmt werden.
Nach Schlee (1977) können auch die Bemühungen, mit Hilfe empirischer Untersuchungen die Merkmale von Lernbehinderung zu erfassen, nicht fruchten. Wenn aber nicht klar und eindeutig ist, was unter einer Lernbehinderung zu verstehen ist, dann werden sich unter dieser ungenauen Gegenstandsvorstellung kaum ergiebige pädagogische Handlungen planen, durchführen und evaluieren lassen.
Konkret bedeutet das für mich, dass eine sonderpädagogische Theorie sich nicht primär von einer Definition der Behinderung her bestimmen lässt, sondern vom Menschen und seinen spezifischen Sozialisationsbedingungen.
Während meines Studiums und der studiumsbegleitenden Einzelbetreuung von Schülern mit Förderbedarf wurde mir unter anderem der Nutzen der Psychoanalyse erkennbar gemacht. Dabei gehe ich aber in diesem Zusammenhang nicht von einem therapeutischen Verständnis von Psychoanalyse aus; sie ermöglichte mir, Beziehungssituationen anders zu sehen und in Verhaltensaufälligkeiten einen Sinn ausmachen zu können. Mit ihren Theorien des dynamischen Unbewussten, des psychischen Konflikts und der Angstabwehr erfasst die Psychoanalyse Phänomene menschlicher Lebenspraxis.
Trescher (1993) bezeichnet die Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse in Hinblick auf Pädagogik als „ Junktim zwischen Fördern und Forschen oder Erziehen und Forschen“ (ebenda S.69). Psychoanalytische Pädagogik erscheint mir als konstruktive Perspektive, um eine vertiefte Auseinandersetzung z. B. mit den Gegenständen „Verhaltensauffälligkeit“ und „Lernbehinderung“, die zudem meist graduell zu sehen sind, zu erreichen. Solange wir Störungen als kognitive Dissonanz zur Normalentwicklung betrachten und diese damit auf eine Ebene bewusster Zugänge abgehandelt werden, tragen wir zur Verstärkung der Ohnmacht auf seiten der Pädagogen bei. Das bewusste Handeln und die exakte Planung werden stets vorgegeben. In solcher Handlungsvorgabe spüren Kinder sehr genau, dass sie so wie sie sind keine Anerkennung finden, was dann oft dazu führt, dass sie sich verweigern, was wiederum als ihrer Störung zugehörig missempfunden wird und zur Stigmatisierung führt.
In meiner Diplomarbeit möchte ich die Notwendigkeit aufzeigen, mit den Mitteln der Psychoanalyse Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen zu sehen und dadurch den positiven Sinn der Auffälligkeiten, d. h. ihre Botschaft, verstehbar zu machen auf dem Hintergrund von Entwicklungsstufen und konkreten Lebenslagen. Ein solches Verstehen bildet die Grundlage für eine andere Form pädagogischen Handelns nicht nur in sonderpädagogisch relevanten Kontexten. Nur wo analytische Räume entstehen, kann sich ein analytischer Prozess entfalten, der eine Chance für sinnvolle Veränderungen und Entwicklungen beinhaltet. An einem Fallbeispiel möchte ich daran anschließend einige Aspekte psychoanalytisch orientierter Pädagogik verdeutlichen. Dazu gehören die Aufzeigung der Handhabung des Rahmens, der Intervention sowie deren Wirkung und der konkreten Interaktion. Durch den psychoanalytischen Verstehensprozess soll das „Verstandene“ in die Interaktion zurückfließen, um hierdurch Schülern den Weg zu einer veränderten Interaktion zu öffnen.
2. Sonderpädagogik
Um angesichts der Gestaltungsfreiheit der Länder in schulischen Angelegenheiten Vergleichbarkeiten und Einheitlichkeiten erreichen und gewährleisten zu können, sind die Arbeit der Kultusministerkonferenz (KMK) und der Deutsche Bildungsrat (der von 1965 bis 1975 bestand) eingerichtet worden.
Die >Ständige Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland< beschloss 1972 eine Empfehlung mit dem Titel „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“. In ihnen war die Weiterführung der Entwicklung, die schon vor 1933 begonnen hatte, nämlich der Aufbau eines differenzierten Sonderschulwesens empfohlen worden, was in allen Ländern, die damals zur Bundesrepublik gehörten, die Einrichtung von Sonderschulen in neun oder zehn Behinderungsfachrichtungen zur Folge hatte.
Seit Ende der siebziger Jahre erwuchs daraus in der Sonderpädagogik, als auch in Behindertenverbänden, Elterninitiativen oder politischen Parteien die Diskussion, dass nicht die Sonderschule als Institution der Zielpunkt sein dürfe, sondern die sonderpädagogische Förderung als pädagogische Aufgabe unabhängig von einer Institution im Mittelpunkt stehen sollte. Sonderpädagogischer Förderbedarf sollte an Stelle einer Sonderpädagogischen Förderung treten, weil allein schon darin der Grundansatz erkennbar sei, dass es sich um einen Bedarf des einzelnen handle, der zudem immer durch pädagogische Intervention beeinflussbar sei. Darum hätten die Maßnahmen individuell auf den einzelnen bezogen zu sein, wobei sie darüber hinaus als zweitem Schritt grundsätzlich in allen Schulen zu ermöglichen sein müssten.
Daraus erwuchsen 1994 die „Empfehlungen für sonderpädagogische Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ der >Ständigen Konferenz der Kultusminister< als Rahmen für die Weiterentwicklung der Sonderpädagogik in den sechzehn Ländern der BRD. Die Förderung soll das Ziel haben, Kinder und Jugendliche durch individuelle Hilfen so zu unterstützen, dass sie ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbstständiger Lebensgestaltung erreichen. Ausgangspunkt sind dabei die bereits entwickelten Fähigkeiten des zu fördernden Schülers, der Förderbedarf stellt immer nur einen Aspekt der Gesamtpersönlichkeit dar. Er soll auf den Abbau der Beeinträchtigung, aber auch auf das Umgehen damit hinzielen – falls ein Abbau nicht möglich ist.
„Die wachsende Vielfalt der Organisationsformen und der Vorgehensweisen in der pädagogischen Förderung, die Erfahrungen mit gemeinsamem Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder, erziehungswissenschaftliche Denkanstöße und schulpolitische Schwerpunktsetzungen in den einzelnen Ländern lassen heute vielfältige Übereinstimmungen erkennen; sie sind Zeichen für eine eher personenbezogene, individualisierende und nicht mehr vorrangig institutionenbezogene Sichtweise sonderpädagogischer Förderung. In diesem Prozess ist neben den Begriff der Sonderschulbedürftigkeit in zunehmendem Maße der Begriff des Sonderpädagogischen Förderbedarfs getreten. Die Erfüllung Sonderpädagogischen Förderbedarfs ist nicht an Sonderschulen gebunden; ihm kann auch in allgemeinen Schulen, zu denen auch berufliche Schulen zählen, entsprochen werden“ (Empfehlungen 1994).
Der Grundschulverband forderte zudem auf seiner Delegiertenkonferenz im November 1998, keine Sonderklassen für Kinder mit Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen neu einzurichten und die sonderpädagogische Förderung neu zu strukturieren.[1] Auslese steht im Widerspruch zu dem Prinzip der Geborgenheit als unerlässliche Bedingung für die Erziehung der Kinder. Daher sind die Bestimmungen über Nichtversetzung und Sonderschulüberweisung durch Regelungen freier Vereinbarungen zwischen Schule und Eltern zu setzen. Ziffernoten behindern eine Erziehung zum Miteinander. Daher sind sie während der gesamten Grundschulzeit durch Berichte über den individuellen Lernerfolg zu ersetzen.
Der Grundschulverband sieht es zudem als unabdingbar, dass zur Verbesserung der Grundschule durch wirksame praxisorientierte Formen alle Grundschulpädagogen sozialpädagogische Fähigkeiten erwerben müssten. Die Autonomie der Grundschule einschließlich des Mitbestimmungsrechts der Eltern sei zu stärken, um mehr Wirksamkeit schulischen Handelns durch Situationsbezug und Selbstverantwortung zu erreichen.
2.1 Das neue Bremer Schulgesetz in Hinblick auf Sonderpädagogische Förderung
Aus der Struktur der Bundesrepublik ergibt sich, dass die Fragen der Bildungspolitik und ihrer Umsetzung Aufgaben der Länder sind. Die freiwillige Bindung an die nur mit Einstimmigkeit möglichen Beschlüsse, also in diesem Fall die „Empfehlungen für sonderpädagogische Förderung in den Schulen der BRD“ schafft eine Grundeinheitlichkeit des Bildungswesens, setzt aber eine Kompromissfähigkeit aller Vorschläge voraus. In der Umsetzung bleiben die einzelnen Bundesländer mit ihren Regelungen in dem so abgesteckten Rahmen, füllen aber keineswegs die Vorschläge alle gleichermaßen aus. So sind innerhalb der Grundeinheitlichkeit in den einzelnen Ländern sehr vielfältige, ganz unterschiedliche oder mit unterschiedlichen Akzenten besetzte Formen der Organisation und der inhaltlichen Ausgestaltung der sonderpädagogischen Förderung entstanden.
Das neue Bremer Schulgesetz versteht sich als Antwort auf die veränderten Anforderungen und Bedingungen, die an das System Schule gestellt werden. Der Senator für Bildung wollte im Sinne des Schulgesetzes die Voraussetzungen dafür schaffen und die Schulen dabei unterstützen, Förderangebote für alle Kinder weitestmöglich im gemeinsamen Unterricht innerhalb der Region (des Stadtteils) zu organisieren. Schul- und Verwaltungsgesetz wurden beide gleichzeitig reformiert, wobei sie ein Ausgangspunkt sein sollen, ein Schulentwicklungsgesetz also, dass den Rahmen vorgibt, in dem die Schulen jedoch ihr eigenes Profil entwickeln sollen. Im §5 (2) heißt es: Die Schule soll besonders erziehen:
(..)
6. zum Verständnis für Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen und zur Notwendigkeit gemeinsamer Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten.
Schule soll dabei mit Institutionen, die allgemein für die Angebote und Hilfe in gesundheitlichen, sozialen und berufsbezogenen Fragen zuständig sind, insbesondere mit sozialen und kulturellen Einrichtungen zusammenarbeiten (§ 12).
Der Unterricht kann jahrgangsstufenunabhängig der individuellen Lernentwicklung der SchülerInnen entsprechend organisiert werden (§ 18).
Das neue Bremer Schulgesetz erteilt also allen Schulen einen konkreten Entwicklungsauftrag zur gemeinsamen Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter SchülerInnen und gibt den Sonderschulen den Auftrag zu ihrer Umwandlung in Förderzentren.
In Bremen gibt es sieben Sonderpädagogische Beratungsstellen und die Praxisberatung zum Fördern als Ansprechpartner für Lehrkräfte, die Kinder mit erhöhtem Förderbedarf unterrichten. Die Praxisberatungsstelle ist bei der Erstellung schuleigener Förderkonzepte behilflich, leistet Hilfestellung bei der konkreten Unterrichtsarbeit, führt in die Nutzung der Ideen- und Materialsammlung ein, arbeitet gemeinsam mit dem förderungsbedürftigen Kind, berät umfänglich Lehrkräfte, Eltern und Kinder von Eltern nichtdeutscher Muttersprache inkl. Sprachstandsdiagnose, führt konkrete Fallbesprechungen durch (Hilfekonferenzen) und nimmt Kontakt zu anderen einzubeziehenden Institutionen auf.
Die einzelnen Beratungsstellen:
Beratungsstelle für Hörgeschädigte - Beratungsstelle für Sehgeschädigte - Beratungsstelle für Erziehungshilfe - Beratungsstelle für Schreib-, Lern- und Kommunikationshilfen (bei Körperbehinderung) - Beratungsstelle für Sprachheilpädagogik – Beratungsstelle für LRS ( Lese-, Schreib- und Rechtschreibschwierigkeiten) - Beratungsstelle für Mathematik.
Viele Kinder versagen in der Grundschule, weil die Ursachen ihrer Lernschwierigkeiten zu spät erkannt werden. Das Programm Förderdiagnose baut auf den theoretischen Grundlagen eines sonderpädagogischen Ansatzes der Diagnostik auf, der versucht, bedeutsame Einsichten und Verfahren anderer Ansätze in einen integrativen Zusammenhang zu bringen. Also in Abkehr herkömmlicher Diagnostik wie Selektions-, Zuweisungs- und Defizitdiagnostik (Ledl 1998 S. 147ff).
Oberste Prämisse ist die Früherkennung und Frühförderung im Sinne der Prävention von schulischen Lernschwierigkeiten, um so zu verhindern, dass Kinder in den Teufelskreis von Schulversagen, Schulunlust, Selbstwertverlust und Verhaltensauffälligkeit geraten.
In der „Verordnung über die sonderpädagogische Förderung“[2] wird die Bezeichnung „Diagnose“ als „Kind-Umfeld-Analyse“ bezeichnet. Sie setzt sich zusammen aus der Einholung eines schulärztlichen Gutachtens, eines schulpsychologischen Gutachtens (auf Wunsch der Eltern!) eines sonderpädagogischen Gutachtens durch Fachkräfte der Sonderpädagogik, der Beteiligung der Erziehungsberechtigten am Untersuchungsverfahren sowie weiterer Personen, soweit notwendig, (wichtige Bezugspersonen etc) sowie der Einbeziehung fach-sprachkundiger Lehrkräfte oder Übersetzer/Dolmetscher bei Kindern nicht deutscher Herkunftssprache. Antragsberechtigt sind die Schule, die Erziehungsberechtigten und der Schulärztliche Dienst. Das abschließende Gutachten umfasst alle Diagnose– (also Kind-Umfeld-Analyse) und Beratungsergebnisse, Aussagen über die Art des Förderbedarfs, Empfehlungen über die Art und den Ort der Förderung sowie Hinweise auf geeignete besondere – auch außerschulische Maßnahmen. Die sonderpädagogische Einrichtung entscheidet im Einvernehmen mit der Schule über die Förderung. Der Verbleib in der Regelschule oder ein Schulwechsel in eine andere allgemeine Schule haben Vorrang. Förderzentren haben die Aufgabe, Förderschwerpunkte in den allgemeinen Schulen durchzuführen. Im Jahr 1997 und 1996 waren immer noch etwa 2700 Schüler in Sonderschulen untergebracht.[3]
Diejenigen, die trotz Stützlehrer und Förderkursen nicht leistungsnormkonform „gemacht“ werden können und Gescheiterte bleiben müssen, werden allzu leichtfertig als „integrationsunfähig“ abgestempelt und gehen leicht aus dem Blickfeld verloren. Sie werden weiterhin in den Sonderschulen unterrichtet, deren Auflösung zwar angestrebt, aber nicht erreicht ist. Als sonderpädagogisches Fernziel dagegen wäre „eine Sonderschule ohne Schüler“ als maximaler Grenzfall wünschenswert (Schiemann 1996, S.8).
So entsteht der Eindruck, dass viele Verantwortliche, die das Wort Integration benennen, zwar einsehen, dass der Ausschluss behinderter/verhaltensauffälliger Kinder aus ihren regulären Lernzusammenhängen nicht zu rechtfertigen ist, aber sie wollen im Grunde die weitgehenden Veränderungen des Erziehungs- und Bildungswesens nicht, zu der eine ernst genommene Integration gesellschaftlich wie fachlich führen müsste, nämlich zu einer Schule für alle. Statt der dafür erforderlichen radikalen Änderungen des Schulwesens wird eher vieles beim alten belassen.
2.2. Geänderte Anforderungen an Schule
Die zur Zeit festzustellende Tendenz, leistungsschwache und vom Scheitern bedrohte Schüler in die traditionelle Regelschule zu integrieren, ohne an dieser nur annähernd etwas zu verändern, ist auch in Bremen erkennbar Wenn man davon ausgeht, dass die Heterogenität in unseren Grundschulklassen weiter steigen wird, dass ferner zunehmend Kinder mit einem speziellen Förderbedarf die Grundschule besuchen werden, kann die Grundschule nicht so bleiben wie sie ist.
Schulen sind im wesentlichen ausgerichtet und ausgestattet für die Zielgruppe der 50er und 60er Jahre. Weder die Institutionsstruktur noch die Ausbildung der dort Tätigen reicht heute aus, um die differenzierten und z.T. neuen Aufgabenstellungen öffentlicher Erziehung angemessen zu bewältigen (vgl. Trescher 1993).
Sowohl die Regel- als auch die Sonderpädagogik haben sich als weitgehend voneinander isolierte pädagogische Praxisfelder entwickelt. Während die Denk- und Handlungsweisen der Sonderpädagogik weitgehend bestimmten defektorientierten medizinisch-psychiatrischen Modellen verpflichtet sind, hat sich die Regelpädagogik fast ausschließlich den leistungsorientierten Werthaltungen und Vorstellungen unserer Gesellschaft verschrieben. Beide Bereiche haben sich also völlig getrennt entwickelt und „so ist die Erziehung und Bildung Behinderter eine Sonderpädagogik wesentlich durch ihr Ausgeschlossensein von den Nichtbehinderten und die Regelpädagogik eine Sonderpädagogik durch den Ausschluss der Behinderten. Diese historisch herausgebildeten Funktionen haben in beiden pädagogischen Bereichen dogmatische Elemente entstehen lassen, die nur durch die Schaffung einer neuen pädagogischen Qualität überwunden werden können“ (Feuser 1996).
Daraus ergibt sich die allgemeine Forderung, dass Regel- und Sonderpädagogen, die gemeinsam im Team integrativ unterrichten sollen, eigentlich eine gemeinsame Ausbildung brauchen. Auf dem Hintergrund einer Psychoanalytischen Pädagogik können sie Handlungskompetenz herausbilden, die einen Abbau der Dogmen erlaubt und so langfristig zu einer kindzentrierten und entwicklungsbezogenen Pädagogik verhilft, die Aussonderung, Ausschluss und Segredierung zu überwinden vermag. Eine gute Förderung der individuellen Entwicklung aller Kinder beim gemeinsamen Lernen ist nur möglich, wenn ihre Verschiedenheit wahrgenommen, respektiert und zur Grundlage des gemeinsamen Unterrichts gemacht wird.
Ein weiterer Aspekt der veränderten Anforderungen an Schule liegt für mich darin begründet, dass die traditionelle Sozialisationsagentur Familie ihre Funktion als „Keimzelle der Gesellschaft“ zunehmend weniger erfüllen kann. Als Beispiel sei hier genannt: Während 1972 in Westdeutschland die Erwerbsquote von Müttern mit Kindern zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr bei 44,2 % lag, war sie 1996 auf 62,3% gestiegen, in den neuen Bundesländern betrug sie sogar 77,9%. Der Prozentsatz klassischer Familien, d. h. von zusammen lebenden Ehepaaren mit ledigen Kindern, ging von 1972 bis 1996 von 38,9 % aller Haushalte auf 26,9% zurück. Maßgebliche Indikatoren sind dabei die sinkende Heiratsneigung, der Rückgang der Kinderzahl, die Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, steigende Scheidungsraten und der Vormarsch der Singles (Engstler 1999). Auch dadurch wird der gesellschaftliche Bezugsrahmen von Schule ein anderer. Kindheit als „Schonraum“ scheint sich in der modernen Gesellschaft immer mehr aufzulösen. Erziehung, insbesondere im Sinne des Erreichens formaler Bildungsabschlüsse, wird als Voraussetzung individueller Lebenschancen dagegen immer wichtiger. Fünf Trendentwicklungen lassen sich skizzieren:
1. zunehmendes Wissen über kindliche Entwicklung
2. eine gewachsene Sensibilisierung für Entwicklungsabweichungen
3. soziökonomische Modernisierungsfolgen kindlicher Lebenswelten, die mit neuen Chancen und Risiken verbunden sind
4. abnehmende psychosoziale Unterstützung für Kinder vor allem in belasteten Lebenswelten und
5. gleichzeitig steigende Leistungsanforderungen an die Kinder
(vgl. Opp, Helbig, Speck-Hamdan u. a. 1999).
Eine sonderpädagogische Theorie bestimmt sich nicht primär von der Definition der Behinderung her, sondern vom Menschen und seinen spezifischen Sozialisationsbedingungen. Das heisst, ihn in seinem Interaktions- und Determinationsfeld zu sehen, das ihn integriert oder absondert und zum Behinderten macht, zur Identitätsfindung verhilft oder sie verhindert. Eine so orientierte Pädagogik als Wissenschaft, die sich in ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit und Wirksamkeit auf Sozialisationsprozesse versteht, dürfte sich dann auch nicht mehr Behindertenpädagogik nennen und die Kategorie Behindertsein vorwegnehmen und damit zugleich Zuschreibung praktizieren. Die Antizipation der Identitätsfindung müsste den zentralen Bezugspunkt einer solchen pädagogischen Theorie ausmachen.
Erich Raab und Hermann Rademacker (1980) zeigen dazu auf, dass Merkmale und Konzepte einer lebensweltorientierten Schule in Ansätzen bereits in der Reformpädagogik der 20er Jahre entwickelt wurden, in Deutschland aber lediglich in Privatschulen, freien Schulen oder Waldorfschulen – und auch dort nur ansatzweise - verwirklicht wurden. Als Voraussetzung sei eine Öffnung von Schulen erforderlich, so z. B. um den Erfahrungshintergrund der Jugendhilfe für die Schule nutzen zu können. Dazu bedarf es eines anderen als des traditionellen Verständnisses von Schule als Lernanstalt. Peniuk (1993) zeigt auf, dass in einer Bremer Befragung 6% der Schulen von einer Abnahme der Gewalt berichten und dafür neben anderem die Öffnung der Schule zum Stadtteil und die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen als Erklärung anführen.
Eine wesentlicher Erkenntnisgewinn bei der Betrachtung kindlicher Verhaltensstörungen wäre also durch eine Erweiterung des Blickfeldes vom Kind auf seine sozialen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge zu erzielen. Diese Änderungen der Sichtweise müssten sich in den Kompetenzen der Pädagogen und den von ihnen praktizierten (über die Erstellung einer „Kind-Umfeld-Analyse hinausreichende) Interventionsformen niederschlagen. Um dies zu verwirklichen, wäre das Verständnis, dass kindliches Verhalten nur aus seinem sozialen Umfeld, also der Familie im sozialen Netzwerk, zu erfassen und zu verstehen ist, notwendig. Ein solches Verständnis verändert grundlegend die Kompetenzerwartungen an die Pädagogen. Interventionsformen sollen nicht mehr am Kind isoliert ansetzen, sondern sie erfordern Techniken, die darauf abzielen, das gesamte System zu verändern. Dies erfordert eine Auflösung der starren Grenzen der verschiedenen Professionen.
Interdisziplinäres Arbeiten integriert die Arbeit der unterschiedlichsten Professionen in einem Teamansatz, wobei die Disziplingrenzen aufgehoben werden (Melvin 1980).
Multidisziplinarität dagegen charakterisiert nach Melvin das Nebeneinander-Arbeiten verschiedener Berufsgruppen in einer gemeinsamen Institution. Es genügt daher nicht, dass die verschiedenen Fachleute einem gemeinsamen Arbeitskontext ausgesetzt sind, sondern erst ein integrativer Gruppenprozess wird der Forderung nach Interdisziplinarität gerecht (ebenda). Dem müsste „ Schule“ entsprechen...
2.3. Schule als Institution
Das Wort „Schule“ stammt aus dem Griechischen und meint ursprünglich „Muße“ oder „Freie Zeit“. Die Griechen wollten damit wohl ausdrücken, dass sich Bildung vor allem in Ruhe ereignet, also in einem Zustand, der einem die Möglichkeit gibt, etwas zu tun, was einem im Leben weiterhilft. Die schulische Bildung war im Mittelalter vornehmlich Angelegenheit der Kirche, erst mit der Aufklärung wurde eine Bildung für alle gefordert, Arbeiterkinder, Landbevölkerung und Mädchen miteinbeziehend. In Preußen wurde im Jahre 1723 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, als letztes deutsches Land schloss sich dem 1870 Hamburg an. Eltern mussten aber für den Schulbesuch ihrer Kinder zahlen, erst in der Weimarer Republik wurde das Schulgeld für die Volksschule abgeschafft, während es für den Besuch von Gymnasien noch bis Ende der fünfziger Jahre erhoben wurde. Im Jahre 1920 beschloss der Deutsche Reichstag die vierjährige Grundschule. Heute umfasst die Grundschule in fast allen Bundesländern die Klassen 1 – 4, in Berlin und Brandenburg zählen auch die Klassen 5 und 6 zum Primarbereich.[4]
Im Verlauf der Geschichte wurden sehr kleine Kinder als primitive Wesen betrachtet, die physischer Fürsorge bedurften, über deren Bedeutung – außer für die Kontinuität menschlichen Lebens – man sich jedoch wenig Gedanken machte. Im westlich-abendländischen Kulturbereich hatte unter anderem die traditionelle christliche Betonung der sündhaften Natur des Menschen und der Notwendigkeit der Kindertaufe zu ihrer Rettung zuvor zu einem Umgang mit Kindern geführt, für den strenge Kontrolle und Manipulation bezeichnend waren. Erst im Zeitalter der Aufklärung vertrat der französische Philosoph J.J. Roussseau (1712-1778) eine entgegengesetzte Auffassung, dass nämlich Kinder ihrem Wesen nach gut seien und lediglich von den Vergiftungen der Zivilisation ferngehalten werden müssten, damit ihr wahres Wesen zutage treten könne. Aus seinen Werken „Emile“ und „Contrat social“ geht hervor, dass die untrennbare Einheit von sozialer Gemeinschaft und einer subjektorientierten Erziehung und Bildung aller ihrer Mitglieder besteht. Diese Einheit steht für mich als Basis der gesellschaftlichen und pädagogischen Bewegung, die man als „Integrative Erziehung“ bezeichnen und als kulturbildenden Prozess verstehen kann.
Mit dem Beginn der industriellen Revolution begann sich graduell auch die Aufmerksamkeit auf den wirklichen Status der Kindheit durchzusetzen. Mit ihr kam das Bewusstsein von dem Wert und der Würde des einzelnen auf, und die Einsicht in die Notwendigkeit, die individuellen Anlagen jeden Kindes zu fördern und zu festigen, damit ihm ein selbstbestimmtes, verantwortungsvolles Leben möglich ist. Eine neue Beziehungswirklichkeit schufen Pestalozzi in seinem Waisenhaus in Stans, Wichern im Rauhen Haus, Bosco im Turiner Oratorium und Korczak im Warschauer Waisenhaus Dom Sierot. In allen Fällen handelt es sich um sozialpädagogische Einrichtungen, in denen Zöglinge ganztägig betreut und pädagogisch geführt werden mussten, was auch dazu führte, pädagogische Beziehungen genauer zu studieren. Die nachhaltige Veränderung lag darin, dass das Kind in diesem Verhältnis einen neuen Stellenwert als Subjekt erhielt.
Bereits Freud (1910 S.62 f.) war der Meinung, die Schule werde ihren Aufgaben nicht gerecht. Die Schule, so sagte er, soll den Schülern
„...Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt bieten in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer Entwicklung genötigt werden, ihren Zusammenhalt mit ihrem elterlichen Haus und ihrer Familie zu lockern. Es scheint mir unbestreitbar, dass sie dies nicht tut, und dass sie in vielen Punkten hinter ihrer Aufgabe zurückbleibt...“.
Diese Mängel können wir noch heute in unseren Schulen antreffen. Freud wies ferner auf die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen im schulischen Raum hin. Das Interesse an der Person des Lehrers sei häufig stärker als das an der Sache. Deswegen lernten viele Schüler des Lehrers wegen. Andere aber würden die Mitarbeit verweigern, weil sie ein gestörtes Verhältnis zum Lehrer hätten. Nur wenige Lehrer seien in der Lage, dieses zu erkennen. Mit der Liebe und dem Hass, den die Schüler auf die Lehrer würfen, seien häufig, so glaubte Freud, nicht diese, sondern ihre eigenen Eltern gemeint. Die Schüler handelten oft nach dem Mechanismus der Übertragung.
In den 20er Jahren gab es im Schul- und Erziehungswesen zahlreiche fortschrittliche Bestrebungen. Maria Montessori, die eine Zeitlang in Kontakt mit Anna Freud stand, trug mit neuen Ideen zur Entwicklung der Erziehung in Kindergärten und Grundschulen bei. Sie stellte die Bedürfnisse und Interessen des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt des Unterrichts. Die freie Wahl der Arbeit war ihr grundlegendes Unterrichtsprinzip. Das Kind kann aus dem Materialangebot frei wählen und bestimmen, wie lange, wie oft und mit wem es arbeiten möchte. Der Lehrer unterstützt dabei das Kind auf seinem Weg zur Persönlichkeitsentfaltung. Die richtige Darbietung des Materials zum richtigen Zeitpunkt ist eine seiner wichtigsten Aufgaben. Anstoß zum Lernen ist die Neugierde der Kinder (Montessori 1952).
Im Rahmen des Studiums beschäftigten wir uns mit dem Werk des Psychologen Erik Eriksson.. Eine große Rolle spielt bei ihm das Postulat einer Entsprechung zwischen der seelischen Entwicklung des Kindes und den Einrichtungen der Gesellschaft. Über die Bedeutung der Schule für die Identitätsbildung erfährt man aber nichts, obwohl er sich zusammen mit Anna Freud in den 20er Jahren für eine Privatschule im psychoanalytischen Geist in Wien bemüht hatte (Erikson 1961). Der größte Teil der psychoanalytischen Literatur, der überhaupt Fragen aus dem Bereich Schule berührt, beschäftigt sich mit Verhaltensstörungen, Lernstörungen, Schulverweigerung etc.. Zum Verständnis der Schule als Institution wird wenig beigetragen, es werden im Rahmen der Kinderpsychotherapie individuelle Vorgeschichten mit krankheitsverursachenden Faktoren und deren Verarbeitung aufgedeckt.
Den Aspekt der Vereinnahmung von Schule durch Einbindung in neu formierte Machtkonstellationen hat Michel Foucault (1977) als (seit Mitte des 18. Jahrhunderts feststellbare) Genealogie der Schule als >Disziplinaranlage< aus der früheren Ständeschule historisch analysiert. Seiner Konzeption nach war damit eine grundlegende Änderung des Verhältnisses zur gesellschaftlichen Macht verbunden. Während in absolutistischen Zeiten die >Macht des Souveräns< direkt und von außen auf die Institutionen einwirkte, war dies mit der Durchsetzung bürgerlich-demokratischer Lebensverhältnisse so nicht mehr möglich, da nun das Volk zum Souverän erklärt und die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz deklariert wurde, in dieser Weise nicht mehr möglich; so bildeten sich Machtstrukturen heraus, durch welche in den Institutionen quasi selbsttätig Ungleichheiten produziert und reproduziert wurden. Dies nach Foucault mittels der internen >Machtökonomie der Disziplinaranlagen<. Er charakterisiert sie als strategische Zu-rüstungen zur Kontrolle ohne direkte Machteinwirkung, was für ihn dadurch möglich wird, dass die Strategien quasi durch die Betroffenen hindurch wirken, d. h. jeder im naheliegenden Interesse die Kontrolle hinnimmt oder sich daran beteiligt, damit aber gleichzeitig jene disziplinären Kontrollmechanismen aufrecht erhält, denen er wiederum selbst unterworfen ist.
Aufgrund der strukturellen Gegebenheiten sind gelegentlich Parallelen gezogen worden zwischen Schulen und Dienstleistungsorganisationen, die ihre Klienten in ähnlicher Weise mehr oder weniger zwanghaft und total vereinnahmen: also im Sinne Goffmans (1973) „Totale Institutionen“ wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Kasernen. Der größte Teil der Definitionsmerkmale (vgl. ebenda S.17) einer „totalen Institution“ trifft auch für die Schule zu. Staatliches Handeln ist notwendigerweise auf Wirksamkeit angelegt, d. h. die Aneignung von Wissen ist oberstes Prinzip. Zur Erreichung des Organisationsziels werden Handlungsabläufe nominiert und komplexe, nicht hinterfragbare Regel- und Kontrollsysteme entwickelt, die von Funktionären (Schulleiter, Lehrer, Hausmeister) überwacht werden. Die hierarchischen und erzwungenen Kommunikationsstrukturen führen zur Unterdrückung der Identität und zur Einübung systemkonformer Verhaltensweisen, so dass affektive interpersonale Beziehungen und spezielle persönliche Qualitäten nicht mehr entwickelt werden können. Lernprozesse richten sich in erster Linie auf die Möglichkeiten des Überlebens ( bzw. im Fall Schule des Erfolgs) in der vorgefundenen Institution. Die Schüler lernen primär wie man sich zu verhalten hat, um Belohnungen zu erleben und Strafen zu vermeiden. Allein außerschulische Erfahrungen und Einflüsse und die tatsächliche Komplexität von Interaktionsstrukturen unterscheiden Schule m. E. von „totalen Institutionen“ im Sinne Goffmans, somit klärt der Vergleich nur tendenziell Prägungseffekte der Schule.
Der Soziologe Fritz Schütze (1994) teilt die Auffassung, dass die Qualität einer einzelnen Schule in bisher unterschätztem Ausmaß von ihrem fallspezifischen soziokulturellen Binnenmillieu und der ebensolchen Einbettung in die jeweilige Ortsgesellschaft abhängt. Nach Schütze hat man in den letzten Jahren die Dynamik kleiner, lokal begrenzter Reformbewegungen und deren Gestaltung von Milieus und sich entfaltende Innovationswirkungen unterschätzt.
Bernd Ahrbeck (1997) zeigt am Beispiel der schulischen Notengebung auf, dass sie nicht unwesentlich aus konfliktvermeidenden, am narzisstischen Wachstum interessierten Erziehungskonzepten resultieren, die seit vielen Jahren verbreitet sind. Zeitmangel für die Berücksichtigung intrapsychischer Vorgänge führt er auf ein „gesteigertes Lebenstempo“ als Ausdruck zeittypischen Lebens zurück.
Das sich durch Konkurrenz abzeichnende Leistungsprinzip bewirkt Feindschaft und Intoleranz, während hingegen Werte wie Nächstenliebe und Duldsamkeit verlangt werden. Triebregungen werden sowohl bei Schülern als auch Lehrern abgewehrt. Einer der Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik, Siegfried Bernfeld, bezeichnet Sinn und Funktion der Pädagogik als Rationalisierung der Erziehung (Bernfeld 1925, S. 15). Als psychische Reaktionsbildung eigne sich diese zeitgenössische Pädagogik allerdings sehr gut für Zwecke der Anpassung an die sozialen und ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft:
„Die Pädagogik, wie sie ist, entspringt einer Reihe von psychischen und sozialen Bedingungen, die in unserer, in der Zeit der unwissenschaftlichen Pädagogik, gegeben sind, sie ist ein Instrument gewisser sozialer und psychischer Tendenzen unserer Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen. Sie ist ein taugliches Instrument gerade durch ihre Mängel“ (ebenda, S. 46).
Das Wesen organisierter Pädagogik erschließt sich für Bernfeld als „Initiationsritus“, mit diesem Konzept interpretiert er den „heimlichen Lehrplan“ der Schule. Am Initiationskomplex sei es nicht weiter problematisch, dass er im Drama der Ablösung von der Familie durch die Schule zur Wirkung kommt, sondern dass er unbewusst bleibt. Die künstliche Organisation schulischer Bildung und Erziehung verdrängt die natürliche in der Familie, ohne zu klären, wie sich dadurch das affektive Erleben aller Betroffenen in einem neuen künstlichen System verändert. Für Bernfeld wird dadurch die „Aggressionsorgie“ (vergl. ebenda S.64f) als unbewusster Komplex wirksam. Bernfelds Überlegungen zur psychoanalytischen Pädagogik der Schule enden folgerichtig in einer Gesellschaftssatire, in welcher er die verkehrte Welt der Schule, also eine Welt der psychischen Spaltung, der Verdrängung, der Wiederholungszwänge und der falschen Strukturbildungen in der Adoleszenz wie in einem Spiegel ironisch vorführt.
Dagegen soll nach Freud (1911, S.235f.) die Erziehung eindeutig in den Dienst einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung gestellt werden, die das Entstehen von Neurosen oder anderen psychischen Krankheiten verhindert. Sie ist eine „Nachhilfe“ die dazu dient, das Lustprinzip durch das Realitätsprinzip zu ergänzen und auf diese Weise jenes durch dieses zu sichern.
Das Ziel der Pädagogik, das Realitätsprinzip durchzusetzen, kann durch die analytische Methode flexibler gestaltet werden, da psychoanalytisch orientierte Pädagogik das singuläre Subjekt im Blick hat. Dabei geht es nicht um Aussagen über allgemeine menschliche Verhaltensgesetzmäßigkeiten, sondern um das Eigene, welches individuell-lebensgeschichtlich gewachsen ist. Dieses Eigene entsteht immer im Zusammenhang mit der individuellen Lebensgeschichte, der mehr und mehr ein unverwechselbarer, persönlicher Sinn zukommt.
Bittner (1986) argumentiert, das die gegenwärtige Pädagogik über kein gültiges Menschenbild mehr verfüge, welches aber für die Möglichkeit pädagogischen Handelns eine unumgängliche Voraussetzung darstelle. Ein solches könne sie jedoch nur von der Psychoanalyse beziehen.
Diesem Gedankengang folgend werde ich zunächst einen Abriss der Psychoanalyse vorstellen, da ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit immer wieder deren Begriffe benutzen werde und von deren Verfahrensweise Elemente aufzeige, die für die Pädagogik nutzbar gemacht werden können. Zudem erscheint es mir notwendig, um der Gefahr einer grundsätzlichen Vermischung der beiden Disziplinen Pädagogik und Psychoanalyse entgegenzutreten, die eben nicht möglich ist, worauf ich im Verlauf der Arbeit (besonders unter punkt 4.3) näher eingehen werde.
3. Kurzer Abriss der Psychoanalyse
3.1 Entwicklung
Der Beginn der Psychoanalyse lässt sich nicht genau bestimmen, er erstreckte sich um 1900 über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Der Nervenarzt Siegmund Freud erarbeitete 1895 den „Entwurf einer Psychologie “ und gab zusammen mit Josef Breuer die „Studien über Hysterie “ heraus. Darin heisst es:
„Wir fanden nämlich anfangs zu unserer großen Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Heftigkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; “ (Freud, 1895 S.85 ).
[...]
[1] Grundsatzprogramm des Grundschulverbandes, 3. überarbeitete Auflage, April 1999
[2] Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen Nr. 18/1998
[3] Statistisches Landesamt: Bremen in Zahlen 1998
[4] Weiterführende Literatur: „Deutsches Bildungswesen seit 1945“ 1. Auflage, Neuwied, Kriftel, Berlin; Luchterhand 1997
- Arbeit zitieren
- Maria-Margareta Weitzig (Autor:in), 2002, Psychoanalytische Pädagogik. Eine neue Basis für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern in den Grundschulen in Bremen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20725
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