Der Essay umreißt den Entstegungskontext von Goethes Drama, ordnet die Szene IV,5 in den Gesamtzusammenhang des Dramas ein, analysiert und deutet sie im Hinblick auf den Fort- und Ausgang des Dramas und stellt einen Zusammenhang zur Dramenkonzeption von Goethes "Götz von Berlichingen" her.
Die vorliegend zu analysierende Textpassage ist Johann Wolfgang Goethes (1749-1832)
Drama „Iphigenie auf Tauris͘ Ein Schauspiel“ entnommen͘ Die Entstehungsgeschichte des Werkes erstreckt sich über fast eine ganze Dekade. Die erste Fassung des Stückes schreibt Goethe im Jahr 1779 innerhalb nur weniger Wochen in mit Versen durchsetzter Prosa. Die Uraufführung dieser Fassung findet noch im selben Jahr in Weimar statt; Goethe selbst spielt in dieser Aufführung die Rolle des Orest. In den folgenden Jahren hat Goethe sein Stück insbesondere formal in mehreren Stadien intensiv überarbeitet. Die letztgültige Handschrift vollendet Goethe in der Zeit zwischen den Jahren 1786/87 während seiner Italienreise, konkret wohl während seines Aufenthaltes in Rom. Es zählt so in seiner 1787 erstmalig veröffentlichten Fassung neben „Egmont“ und „Torquato Tasso“ zu Goethes drei „italienischen Dramen“͘
Während der Umarbeitung steht Goethe in intensivem Austausch mit seinen Zeitgenossen über die sprachliche Form seines Dramas. Die größten Einflüsse auf Goethes Arbeit sind Karl Philipp Moritz und Christoph Martin Wieland zuzurechnen. Insbesondere Wielands Einschätzung der sprachlichen Qualität der Prosa-Fassung, dessen eigener dramatischer Bearbeitung des Alkestis-Stoffes der junge Goethe noch die Farce „Götter, Helden und Wieland“ entgegengesetzt hatte, als „schlotternd“ dürfte die Unzufriedenheit Goethes mit der ersten Fassung des eigenen Werkes auf den Punkt bringen. Das ganze Bemühen der weiteren Bearbeitung des Stückes stand denn auch unter dem Programm, dem inhaltlich schon in der ersten Fassung angelegten, aus Goethes Sicht kathartischen Harmonie- Gedanken auch sprachlich gerecht zu werden. Auch wenn Goethe selbst sein Drama in der Versfassung für letztlich nicht mehr theatertauglich gehalten und seiner Uraufführung unter der Regie von Schiller im Jahr 1802 nicht beigewohnt hat, hat das Anliegen des Transportes eines harmonischen Ideals im an entscheidenden Stellen gebrochenen Blankvers seine adäquate Umsetzung gefunden.
Die Geschichte des Stoffes von Goethes Werk reicht bis weit in die griechische Mythologie zurück und in dieser Weise ist er einer, der schon den ersten europäischen Tragödiendichtern zur Zeit der Entstehung der neuen literarischen Gattung des Dramas als Grundlage gedient hat͘ Schon ischylos hatte sich im „Iphigeneia“-Fragment seiner „Orestie“ mit dem Stoff auseinandergesetzt. Erst die euripideische Bearbeitung des Stoffes macht allerdings Goethes Werk möglich, insofern er der bei Aisychlos mit der erfolgreichen Opferung Iphigenies abgeschlossenen Aulis-Handlung die Tauris-Handlung hinzudichtet. Die hier schon begonnene literarische Umdeutung des Mythos ist eine Tendenz, die sich, wie noch zu zeigen sein wird, auch bei Goethe fortsetzt. uch Racines „Iphigénie en ulide“ hat Einfluss auf Goethes Stück genommen. Dessen Werk ist etwa die sonst nicht überlieferte Figur des Arkas entnommen. Auch hinsichtlich des Aufbaus und des Stils seines Werkes hat Goethe sich deutlich an französischer Tradition orientiert: Seine „Iphigenie“ setzt die wesentlichen Maßgaben der „doctrine classique“ mit seiner Aufteilung in 5 Akte, auf die Exposition, Anagnorisis, Peripetie und Auflösung des Konfliktes regelmäßig verteilt sind, seiner strikten Einhaltung der drei Einheiten, der Drei-Personen-Regel, der Ständeklausel, der Dezenz und dem Gebot der Versifikation mustergültig um. Die dramatische Konzeption der Figur der Iphigenie in allen drei hier genannten Werken allerdings ist im Blick auf eine Untersuchung von Goethes Werk hauptsächlich hinsichtlich der Abweichungen aufschlussreich, die Goethes Iphigenie im Vergleich zu den stoffgeschichtlichen Vorläufern macht: Wie schon die Titelfigur sich in ihrer Entwicklung im Fortgang des Stückes von jeder Form der Fremdbestimmung emanzipiert, emanzipiert sich auch Goethes Bearbeitung des Stoffes von der getreuen Umsetzung des Mythos zu Gunsten der Etablierung eines grundlegenden dramatischen Ethos. Diese beiden Behauptungen zu belegen, wird das hauptsächliche Anliegen dieser Arbeit sein.
Im Zentrum von Goethes Werk steht Iphigenie, die Tochter Agamemnons und Klytaimnestras. Von der Göttin Diana durch die Umstehenden unbemerkt vor der Opferung durch ihren Vater gerettet und auf die Insel Tauris überführt, dient sie hier im Einflussbereich des skythischen König Thoas im Tempel der Göttin als Priesterin. Auch nach Jahren des Dienstes, während derer sie die Weiterführung des barbarischen Brauchs des Menschenopfers durch die Skythen erfolgreich verhindern konnte, richtet sich ihre Sehnsucht noch nach der Heimat, in die zurückzukehren dank der unvermittelten Ankunft zweier Griechen, von denen sich bald herausstellt, dass es sich bei ihnen um Iphigenies Bruder Orest und dessen Freund Pylades handelt, sie nun neue Hoffnung hegen kann. Allein, mehrere Konfliktfelder scheinen die Rückkehr der Iphigenie in die Heimat zu erschweren, oder nur unter von Iphigenie als unbotmäßig empfundenen Bedingungen möglich zu machen. Erst, als es Iphigenie gelingt, die äußeren Konflikte, die sich in ihr inneres als ethisch-moralischer Konflikt fortschreiben, mit den Mitteln des wahr gesprochenen, an den Gedanken der Humanität appellierenden Wortes auszusöhnen und beizulegen, sind die Hindernisse zur Rückkehr in ihre Heimat ausgeräumt und das Stück kann seinen glücklichen Ausgang nehmen.
Die hier zu analysierende Textpassage ist dem 5. Auftritt des 4. Aufzugs des Stückes entnommen. Die ganze Szene ist monologisch angelegt, lässt sich allerdings in zwei größere Sinnabschnitte unterteilen. Die erste Hälfte der Szene bildet ein lyrischer Monolog Iphigenies, dem außerdem reflexive Momente eingeschrieben sind. Die zweite Hälfte der Szene wird dominiert vom durch Iphigenie wiedergegebenen und kommentierten Lied der Parzen.
In ihrem Monolog reflektiert Iphigenie den aktuellen Stand des Geschehens des Dramas im Hinblick auf ihre eigene Position innerhalb dieses Geschehens. Die Position, in die Iphigenie sich durch dieses Geschehen gerückt sieht, ist eine, aus der sich der oben bereits erwähnte innere Konflikt in einem von ihr zu diesem Zeitpunkt noch als dilemmatisch wahrgenommenen Ausmaß entwickelt. Sie ist eng verbunden mit der strikt symmetrischen Personenkonstellation des Dramas, deren Zentrum die zu beiden Seiten von jeweils zwei männlichen Figuren flankierte Iphigenie selbst bildet. Ihr zur einen Seite gestellt sind der skythische König Thoas und sein diplomatisch-taktischer Berater Arkas, zu ihrer anderen Seite stehen ihr Bruder Orest und dessen Freund und Stratege Pylades. Beide Seiten verfolgen Interessen, die denen der Gegenseite jeweils diametral entgegenstehen. Der nach einer Schlacht kinderlos gewordene König Thoas will Iphigenie zur Sicherung der eigenen Macht zu seiner Frau machen und so auf Dauer an ihren Aufenthalt in Tauris binden; Arkas versucht, Iphigenie zur Zustimmung zu den Heiratsplänen des Thoas zu bewegen, um im Interesse des skythischen Volkes zu erreichen, dass ihre in den vergangenen Jahren humanisierende Wirkung auf ihn erhalten bleibe. Orest und Pylades, die durch Thoas‘ erpresserische Maßnahme der Wiedereinführung des Menschenopfers in ihrem Leben bedroht sind, weil sie seit langen Jahren die ersten auf Tauris gestrandeten Fremdlinge sind, die diesem Brauch wieder zum Opfer fallen sollen, haben ein verständliches Interesse daran, dieser Opferung zu entgehen; außerdem wollen sie, ihrer Auslegung des apollonischen Orakelspruches folgend, das „Bild der Schwester“, vermeintlich also die Statue von polls Schwestergöttin Diana heim holen, um ihren Teil für die schon erfolgte Befreiung Orests von der Verfolgung durch die Eumeniden nachträglich noch zu leisten, und das Standbild der Göttin Diana aus dem taurischen Tempel rauben.
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- Lukas Rieger (Author), 2012, Analyse der Szene IV, 5 aus Johann Wolfgang Goethes "Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel.", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205349