Übernahmeverfahren prominenter Gesellschaften haben zu einer sich intensivierenden Diskussion über die Fortentwicklung des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) geführt . Als gesetzgeberische Reaktion sind mit dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz (AnsFuG) bereits neue Vorschriften der Beteiligungstransparenz mit Wirkung zum 1. Februar 2012 eingeführt worden . Demzufolge sind nunmehr gem. § 25 a WpHG auch solche Instrumente meldepflichtig, die nach ihrer Ausgestaltung einen Aktienerwerb lediglich ermöglichen. Das primäre Regelungsziel besteht darin, den unbemerkten Beteiligungsaufbau an börsennotierten Unternehmen über spezielle Derivatkonstruktionen zu vereiteln .
Insbesondere im Zuge der Hochtief-Übernahme durch den spanischen Baukonzern ACS wird in Kreisen der Wissenschaft, Beratungspraxis und der Politik zudem über eine Änderung der übernahmerechtlichen Pflichtangebotsregelung nach § 35 WpÜG und der maßgeblichen Zurechnungsvorschrift des § 30 WpÜG debattiert . So wird vereinzelt eine Lücke in dem mit einem Pflichtangebot beabsichtigten Minderheitenschutz angenommen, soweit ein Erwerber unter Zahlung einer marginalen Prämie 30 % der Stimmrechte an einer Zielgesellschaft erwirbt und diese Beteiligung weiter ausgebaut („low balling“) . Stimmen mehrere Aktionäre ferner ihr Verhalten untereinander ab („acting in concert“), kann dies nach § 30 Abs. 2 WpÜG zu einer gegenseitigen Stimmrechtszurechnung führen. In der Praxis erweist sich der Nach-weis eines abgestimmten Verhaltens i. S. v. § 30 Abs. 2 WpÜG regelmäßig als problematisch . Insofern fordern mehrere Stimmen auch für diese Rechtsfigur, deren Tatbestand die Rechtsprechung und Lehre seit jeher beschäftigt , Modifikationen . Einzeländerungen zum WpÜG werden jedenfalls noch im laufenden parlamentarischen Jahr erwartet .
Die vorgelegte Masterarbeit befasst sich folglich mit der Untersuchungsfrage, ob vergangene Übernahmeverfahren Anlass zu gesetzgeberischen Reformen im Hinblick auf §§ 35, 30 WpÜG geben, um die betroffenen Aktionäre einer Zielgesellschaft angemessen zu schützen.
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
A. Einleitung
B. Strukturierungen zur Vermeidung von Pflichtangeboten - Rechtliche Würdigung de lege lata
I. Low-balling am Beispiel ACS / Hochtief
1. Rechtliche Würdigung
a) Umgehung des Schutzzwecks von § 35 Abs. 2 WpÜG
b) Verstoß gegen das kapitalmarktrechtliche Gleichbehandlungsgebot
2. Zwischenergebnis
II. Koordinierte Aktienerwerbe mittels Finanzderivaten am Beispiel Schaeffler / Continental
1. Rechtliche Würdigung
a) Funktionsweise der angewandten Cash-Swaps
b) Halten für Rechnung des Bieters, § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG
c) Einem Dritten als Sicherheit übertragen, § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG
d) Erwerb durch Willenserklärung, § 30 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG
e) Acting in Concert, § 30 Abs. 2 WpÜG
aa) Verhaltensabstimmung durch Vereinbarung oder in sonstiger Weise
bb) Bezug zur Zielgesellschaft
cc) Gemeinsames Ziel einer dauerhaften Änderung der Unternehmensausrichtung
2. Zwischenergebnis
C. Überlegungen de lege ferenda
I. Rechtspolitische Argumente für ein stärker reguliertes Übernahmerecht
II. Internationale Bestandsaufnahme
1. Gemeinschaftsrechtlicher Rahmen
2. Low-balling aus internationaler Sicht
3. Acting in Concert im City Code on Takeovers and Mergers und anderen Rechtsordnungen
III. Reformvorschläge und Lösungsmöglichkeiten
1. Einführung einer low-balling Vorschrift
a) Angebotsverpflichtung beim Hinzuerwerb weiterer Aktien
b) Mindestannahmeschwellen bei Übernahme- und Pflichtangeboten
c) Individuelle Kontrollschwellen durch Satzungsautonomie („opting up“)
d) Empfehlung
aa) Erweiterung der Beteiligungstransparenz
bb) Ausgestaltung der Mitteilungsschwellen
2. Beweiserleichterung im Hinblick auf § 30 Abs. 2 WpÜG
a) Analogieverbot und Auswirkungen auf die Beweisführung
b) Rechtsfigur der Normabspaltung und BGH NZG 2011, 1147
c) Rechtliche Würdigung
aa) Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht
bb) Einheit der Rechtsordnung
cc) Zwischenergebnis
d) Empfehlung
aa) Halten meldepflichtiger Finanzinstrumente
bb) Paketerwerbe unterhalb der Kontrollschwelle
cc) Wesentlicher Wechsel von Aufsichtsratsmitgliedern
D. Zusammenfassung
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Börsenwert Hochtief AG und Abfindungsbemessung
Abbildung 2: Typische CfD Stuktur bei Übernahmen
Abbildung 3: Börsenwertentwicklung Continental und Hochtief nach
Übernahmeangeboten
Abbildung 4: Vermutung bei Derivaten
Abbildung 5: Vermutung bei Paketerwerben
Abbildung 6: Vermutung bei Wechsel von Aufsichtsratsmitgliedern
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
„Experten fordern mehr Schutz vor Übernahmen“1. Insbesondere die Übernahme von Hochtief durch die spanische ACS hat zu der rechtspolitischen Diskussion geführt, ob das WpÜG einer Änderung bedarf, um nationale Unternehmen besser vor Übernahmen zu schützen2. Im neuen Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz (AnsFuG) hat der Gesetzgeber lediglich die kapitalmarktrechtliche Beteiligungstransparenz auf spezielle Derivatkonstruktionen erweitert, um das unbemerkte „Anschleichen“ an deutsche Zielunternehmen zu verhindern3. Dagegen läuft die Diskussion über einen Reformbedarf im Übernahmerecht weiter4 - Änderungen zum WpÜG werden noch in der laufenden Legislaturperiode erwartet5.
Nach derzeit geltendem Recht muss ein Bieter, der unmittelbar oder mittelbar die Kontrolle über eine Zielgesellschaft erlangt, dies unter Angabe der Höhe seines Stimmrechtsanteils unverzüglich nach § 35 Abs. 1 WpÜG veröffentlichen. Ferner muss er innerhalb von vier Wochen ab dem Kontrollerwerb ein öffentliches Pflichtangebot i. S. v. § 35 Abs. 2 S. 1 WpÜG unterbreiten, in welchem er den übrigen Aktionären der Zielgesellschaft anbietet, ihre Aktien zu übernehmen. Nach § 31 Abs. 2 WpÜG hat die Gegenleistung in einer Gegenleistung oder in liquiden Aktien zu bestehen und muss i. S. d. §§ 3 ff. WpÜG-AV mindestens dem höchsten Vorerwerbspreis innerhalb der letzten sechs Monate und dem gewichteten, dreimonatigen Börsendurchschnittskurs vor der Angebotsveröffentlichung entsprechen. Als Erwerb der Kontrolle definiert der Gesetzgeber formal das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an einer Zielgesellschaft, § 29 Abs. 2 WpÜG.
Hintergrund dieses Pauschalansatzes ist die Annahme, dass 30 % der Stimmrechte regelmäßig zu einer Präsenzmehrheit in Hauptversammlungen verhelfen6. § 30 WpÜG enthält hinsichtlich der Berechnung die entscheidende Bestimmung über die Zurechnung von Stimmrechten Dritter an den Bieter7. Gem. § 30 Abs. 2 WpÜG soll bspw. eine Zurechnung im Falle eines abgestimmten Verhaltens zwischen dem Bieter und einem Dritten erfolgen (sog. „acting in concert“). Soweit ein Pflichtangebot pflichtwidrig unterbleibt, sieht das WpÜG zivilund ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktionen vor8. Es drohen ein Verlust des Stimm- und Dividendenbezugsrechts (§ 59 WpÜG), ein Bußgeld (§ 60 WpÜG), eine Verzinsungspflicht (§ 38 WpÜG) sowie ggf. eine Sperrfrist für die Abgabe eines freiwilligen Übernahmeangebots (§ 15 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 26 Abs. 1 WpÜG). Die Vorschriften des WpÜG vermitteln Aktionären dabei keinen Drittschutz zur Erzwingung eines behördlichen Einschreitens der BaFin gegen einen Bieter9.
Mit der beschriebenen Pflichtangebotsregelung wird im Falle einer Kontrollerlangung durch einen Bieter beabsichtigt, die Erwartungen der Anleger in eine Kontinuität der Beteiligungsverhältnisse zu schützen10. Bei einem Kontrollwechsel oder bei einer Änderung einer reinen Publikumsgesellschaft zu einer von einem Großaktionär dominierten Gesellschaft wird eine entscheidende Veränderung des Investments des Aktionärs der betreffenden Gesellschaft angenommen11. § 35 Abs. 1 WpÜG dient dabei der Offenlegung von Kontrollsituationen und der Unterrichtung über erfolgte Kontrollerwerbsvorgänge12. Regelungszweck des Abs. 2 ist die Verwirklichung des Schutzes von
Minderheitsaktionären, indem im Falle des Abhängigwerdens einer Gesellschaft eine Desinvestitionsmöglichkeit zu einem angemessen Preis ermöglicht werden soll13. Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht wird das Pflichtangebot teilweise als Konzerneingangsschutz gesehen14. Als wesentliches Instrument des WpÜG fördert es dessen zentralen Zweck, die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Wertpapiermärkte sowie das Vertrauen der Anleger in eine ordnungsgemäße Abwicklung von öffentlichen Angeboten15.
Gem. § 35 Abs. 3 WpÜG besteht die Verpflichtung auf Abgabe eines Pflichtangebots allerdings nicht, wenn die Kontrolle über die Zielgesellschaft auf Grund eines freiwilligen Übernahmeangebots erworben wurde. Diese Privilegierung ist Teil der in § 39 WpÜG zum Ausdruck kommenden „Parallelisierung“16 von Pflicht- sowie freiwilligem Angebot und soll doppelte Angebote vermeiden. Gleichwohl nutzten mehrere Bieter diesen Begünstigungstatbestand durch Abgabe freiwilliger Angebote mit marginaler, „lustloser“ Kontrollprämie kurz vor Erreichen einer 30 %-Beteiligung aus, um nach knapper Überschreitung dieser Schwelle Zukäufe ohne weitere Konsequenzen tätigen zu können (sog. „low-balling“)17. Folglich wird im kapitalmarktrechtlichen Schrifttum die Frage aufgeworfen, ob in diesen Fällen eine Lücke im Schutz der Aktionäre bzw. Anleger angenommen werden kann18. Oechsler sieht schon in dem Formalcharakter des § 29 Abs. 2 WpÜG eine Einladung zur Normumgehung, welcher auch durch die Zurechnungsprinzipien des § 30 WpÜG nicht ausreichend vorgebeugt werde19. Soweit in Übernahmeverfahren Finanzinstrumente zur Kontrollerlangung genutzt wurden, blieb ein acting in concert beim Aktiener- werb zwischen Investoren und Banken in der Tat nur schwer be- stimmbar20. Insofern werden für diesen Tatbestand, der nach Auffassung seitens von Bülows zu den „praxisrelevantesten“ und am „meisten diskutierten Fragen“ des Übernahmerechts21 zählt, klarere Definitionen gefordert22. Vor diesem Hintergrund liegt der Ausarbeitung die Untersuchungsfrage zu Grunde, ob exemplarische Übernahmeverfahren Anlass zu gesetzgeberischen Reformen im Hinblick auf die Pflichtangebotsregelung nach § 35 WpÜG und der Zurechnungsvorschrift nach § 30 WpÜG geben, um deutsche Zielgesellschaften und deren Aktionäre besser vor Übernahmen zu schützen. Dabei gilt es im ersten Hauptabschnitt B. zu untersuchen, ob derartige Transaktionsstrukturen im Lichte des Wortlauts und der Ziele der Übernahmerichtlinie 2004 / 25 / EG vom 21. April 200423 als unzulässige Umgehungstatbestände de lege lata oder vielmehr als „achtbare strategische Entscheidungen“24 gewertet werden können. Die Hochtief-Übernahme durch ACS und die Continental-Übernahme durch Schaeffler sollen jeweils als konkrete Prüfungsgegenstände dienen. Während das Manöver der spanischen ACS durch das low-balling geprägt ist, steht das acting in concert im Mittelpunkt der Conti-Transaktion. Somit ist Teil B. durch zwei getrennt voneinander zu betrachtenden Argumentationssträngen gekennzeichnet.
Freilich verleiten öffentlichkeitswirksame Fallbeispiele dazu, gesetzgeberischen Reformbedarf herzuleiten. Gleichwohl handelt es sich bei den hier erörterten Fällen um vermehrt aufgetretene, repräsentative Gestaltungsmodelle, die den Rechtsanwender in der Vergangenheit vor schwer lösbare Herausforderungen gestellt haben. Von der Frage der Zulässigkeit de lege lata ist zu differenzieren, ob ein stärker regu- liertes WpÜG de lege ferenda - z. B. aus rechtspolitischen oder öko- nomischen Erwägungen - erstrebenswert ist25. Im Hauptabschnitt C. werden daher die sich in der Diskussion befindlichen Regelungsvorschläge hinsichtlich der §§ 35, 30 WpÜG einer Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitsprüfung unterzogen. Eine Revision der EUÜbernahmerichtlinie ist dagegen nicht Gegenstand der Arbeit26. Bei der Beantwortung der aufgeworfenen Frage sollen internationale Vergleichsregelungen nicht unberücksichtigt bleiben. Eine nur punktuelle Betrachtung einzelner Vorschriften ohne Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes (z. B. der Aktionärsstrukturen oder Unternehmensverfassungen) kann dem Erfordernis einer Rechtsvergleichung27 allerdings nicht gerecht werden28. Gleichwohl können die Regelungen anderer Staaten als Argumentationsstütze für eigene Empfehlungen dienen.
B. Strukturierungen zur Vermeidung von Pflichtan geboten - Rechtliche Würdigung de lege lata
I. Low-balling am Beispiel ACS / Hochtief
Nachdem der spanische Baukonzern ACS am 27. März 2007 25,08 % der Stimmrechte an der Hochtief AG von der Custodia Holding für 72 EUR je Aktie übernommen hat, wurde der Hochtief-Anteil bis Anfang 2009 auf rund 29 % aufgestockt29. Die Entscheidung zur Abgabe eines Übernahmeangebots wurde schließlich Mitte September 2010 veröffentlicht. Hiernach beabsichtigt ACS die Beteiligung an Hochtief von 29,98 % auf knapp über 50 % der stimmberechtigten Aktien mit dem Ziel der Vollkonsolidierung zu erhöhen30. Im Rahmen der vierwöchigen Frist des § 14 Abs. 1 S. 1 WpÜG wurde den außenstehenden Aktionären der Hochtief AG ein Übernahmeangebot vorgelegt, in dem ein Umtausch der Aktien in Aktien der ACS im Verhältnis 5:8 offeriert wurde31. Für das Umtauschverhältnis wurde nach §§ 5, 7 WpÜG-AV der durchschnittliche Börsenkurs während der letzten drei Monate vor der Ankündigung zugrundegelegt32. Das vorgesehene Umtauschverhältnis enthielt damit eine sehr geringe Prämie auf den Durchschnittskurs, der seinerseits unter dem Stichtagskurs am Tag der Ankündigung des Übernahmeangebots lag (siehe Abbildung 1). Infolgedessen wurde seitens ACS gerade nicht erwartet, dass die angestrebte Beteiligungshöhe von 50 % mit dem Tauschangebot erreicht werden kann33. Die Überschreitung der Stimmrechtsmehrheit wurde in der Folge erst im Juni 2011 vollzogen34.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Börsenwert Hochtief AG und Abfindungsbemessung35
1. Rechtliche Würdigung
Bei dem geschilderten Vorgehen des spanischen Baukonzerns (vgl. B. I.) können mehrere, für das low-balling typische Etappen identifiziert werden. Die erste Etappe besteht im Erwerb einer Beteiligung an der Zielgesellschaft knapp unterhalb der 30%-Schwelle, um gerade kein Pflichtangebot auszulösen. Mit einem Übernahmeangebot, das typischerweise auf einer geringen Börsenbewertung basiert, beabsichtigt der Bieter daraufhin, eine nur geringe Annahmequote zu erreichen, um gerade die 30%-Hürde zu nehmen36. Im Anschluss erwirbt er zu höheren Preisen über die Börse und nach Ablauf der für die Nachbesserung maßgebenden Jahresfrist des § 31 Abs. 5 WpÜG außerbörslich Zielaktien37. Dieser höhere Preis kommt den Aktionären dann nicht zugute, wohingegen der Bieter mangels kapitalmarktrechtlicher Mitteilungspflichten zwischen 30 % und 50 % öffentlichkeitsfern und meist günstig weitere Zielaktien erwerben kann38.
Nachstehend soll diese Transaktionsstruktur rechtlich gewürdigt werden. Hier ist zunächst der Frage nachzugehen, ob low-balling Praktiken den dem Pflichtangebot zugrundeliegenden Gedanken vereiteln, indem Anleger um eine Kontrollprämie gebracht werden. Im Anschluss wird untersucht, ob das allgemeine kapitalmarktrechtliche Gleichbehandlungsgebot nach § 3 Abs. 1 WpÜG eingehalten wird39.
a) Umgehung des Schutzzwecks von § 35 Abs. 2 WpÜG
§ 35 Abs. 2 WpÜG soll den Aktionären eine Desinvestitionsmöglichkeit zu einer angemessenen Gegenleistung eröffnen (vgl. A.). Im Schrifttum wird teils diskutiert, ob ein Übernahmeangebot, welches nur marginal über dem Durchschnittskurs vor der Ankündigung liegt, diesem Angemessenheitserfordernis ausreichend Rechnung trägt40.
Etwaige Verbundvorteile oder andere positive Effekte, die der Markt nach Ankündigung des Pflichtangebots einpreisen könnte, finden nämlich im Rahmen der Preisbestimmung nach § 5 WpÜG-AV gerade keine Berücksichtigung41. Gleichwohl steht es jedem Angebotsempfänger frei, das Übernahmeangebot anzunehmen. Infolgedessen erhebt die allgemeine Ansicht keine rechtlichen Bedenken gegen low-balling Strategien42. Baums sieht lediglich in der Abgabe eines Tauschangebots i. S. v. § 31 Abs. 2 WpÜG eine Möglichkeit des Bieters, Aktien „aufzudrängen“ und u. U. eine Benachteiligung für außenstehende Aktionäre43. Dennoch steht diese Privilegierung des Bieters im Einklang mit der ÜbRL (Art. 2 Abs. 1 lit. e ÜbRL). Darüber hinaus sehen die Berechnungsvorschriften der WpÜG-AV ausreichende Schutzvorkehrungen vor und gehen mit der Börsenpreisregel sogar über die Vorkehrungen der ÜbRL in Art. 5 Abs. 4 S. 1 hinaus. Ob die einzelnen Mechanismen der Angebotsverordnung (z. B. die Referenzzeiträume oder die Gewichtung nach Handelsvolumina) zu einer angemessenen Exit-Abfindung führen, kann im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht erörtert werden44.
b) Verstoß gegen das kapitalmarktrechtliche Gleichbehand lungsgebot
§ 3 Abs. 1 WpÜG statuiert das allgemeine übernahmerechtliche Gleichbehandlungsgebot, wonach alle Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft, die derselben Gattung angehören, gleich zu behandeln sind. Die Regelung des Pflichtangebots berücksichtigt diesen Grundsatz, indem die Aktien der Zielgesellschaft innerhalb der gesetzlichen Annahmefrist zum gleichen Preis veräußert werden können45.
Merkt sieht im Hinblick auf das geschilderte Vorgehen eine Verlet- zung dieses Gebots de lege lata dahingehend, dass der Bieter nach Erreichen der Kontrollmehrheit anderen Großaktionären deren Aktienpakete zu einem höheren Preis abkaufen kann46. Baums entgegnet mit guten Gründen, dass § 31 Abs. 5 WpÜG ehemaligen Aktionären gerade einen Geldanspruch i. H. d. Differenzbetrags zwischen der ihnen gewährten Gegenleistung und der späteren Gegenleistung des Bieters für einen außerbörslichen Erwerb von Wertpapieren an der Zielgesellschaft verschafft47. In der Tat ist diese Nachbesserungsregel eine Ausprägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, weshalb der letzteren Auffassung zuzustimmen ist48. Es darf allerdings nicht verkannt werden, dass es regelmäßig zu Nachweisproblemen im Hinblick auf etwaige Abreden über Paketerwerbe kommt49. Wegen fehlender Offenlegungspflichten im Bereich zwischen der Kontrollschwelle von 30 % und der Mehrheitsschwelle von 50 % könnten somit Informationsasymmetrien entstehen50. Infolgedessen könnte die Nachbesserungsregel des § 31 Abs. 5 WpÜG u. U. ins Leere laufen und der Gleichbehandlungsgrundsatz de lege lata verletzt sein.
2. Zwischenergebnis
Low-balling Strategien verstoßen im Grundsatz nicht gegen die Pflichtangebotsvorschrift51. Gleichwohl erscheint der Umstand fragwürdig, dass erst nach Kontrollerwerb hohe Zuschläge gezahlt werden. Daher sollten die Überlegungen de lege ferenda sowohl an dieser Stelle, als auch an der erörterten Problematik hinsichtlich der Nachbesserungsregel des § 31 Abs. 5 WpÜG anknüpfen.
II. Koordinierte Aktienerwerbe mittels Finanzderivaten am Beispiel Schaeffler / Continental
Am 15. Juli 2008 kündigte die Schaeffler KG ein freiwilliges Übernahmeangebot zu 69,37 EUR je Aktie an die Aktionäre der Continental AG an52. Im Vorfeld hatten Schaeffler und Gesellschaften der Schaeffler-Gruppe Aktien der Continental AG über 2,97 % und Finanzinstrumente, die zum Erwerb Aktien i. H. v. 4,95 % - also jeweils unterhalb der meldepflichtigen Schwellengrenzen der §§ 21 WpHG erworben53. Daneben hatte Schaeffler mit mehreren Banken um den Konsortialführer Merrill Lynch54 in bar zu erfüllende Swap-Geschäfte über 28 % der Aktien abgeschlossen (sog. Cash settled total return equity swaps / contracts for difference, im Folgenden: „CfD“ oder “Cash-Swaps”)55. Nach Kündigung dieser Derivate und im Rahmen des Übernahmeangebots stockte Schaeffler schließlich den Anteil an Continental um diese 28 % zum 22. August 2008 auf56.
1. Rechtliche Würdigung
Continental bezeichnete das geschilderte Vorgehen als Verstoß gegen die Vorschriften über das Pflichtangebot nach §§ 35, 30 WpÜG57. Die BaFin hatte keine rechtlichen Bedenken58. Diese Auffassung beruhte allerdings auf der Rechtslage vor Einführung des Risikobegrenzungsgesetzes zum 12. August 2008, womit die Zurechnungsnorm des acting in concert modifiziert wurde59. Im Folgenden ist die Rechtsnatur der angewandten Derivatstrukturen zu untersuchen und anschließend der Frage nachzugehen, ob sie vom Anwendungsbereich des § 30 WpÜG de lege lata erfasst werden.
a) Funktionsweise der angewandten Cash-Swaps
Cash-Swaps haben allgemein den Austausch von Zahlungsströmen zum Gegenstand. Sie beziehen sich dabei auf eine bestimmte Anzahl von Aktien (underlying) und enthalten die Verpflichtung der Parteien, Zahlungsströme in Abhängigkeit der Wertentwicklung dieser Aktie auszutauschen60. Ein CfD wird zwischen dem Investor und der Bank in der Regel auf bestimmte Zeit abgeschlossen und sieht regelmäßig das Kündigungsrecht des Investors vor, so dass vorzeitig abgewickelt und abgerechnet werden muss61. Steigt der Wert einer Aktie, zahlt die (short gehende) Bank die Differenz zwischen Aktien- und Referenzkurs an den (long gehenden) Investor; umgekehrt erhält die Bank den Betrag etwaiger Kursverluste (vgl. dazu Abbildung 2)62. Um sich gegen das Kursrisiko abzusichern, erwirbt das Bankenkonsortium i. d. R. physisch die entsprechenden Aktien, so dass im Falle einer Kurssteigerung die infolge des CfD zu leistenden Zahlungen kompensiert werden können63. Eine physische Unterlegung erfolgt dabei zweckgemäß nur in einem solchen Ausmaß, dass eine Beteiligungsoffenlegung nach den §§ 21 ff. WpHG vermieden werden kann64.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Typische CfD Struktur bei Übernahmen65
Im Wesentlichen ist ein CfD also so konstruiert, dass für den Investor die Vermögensrechte eines Aktionärs abgebildet werden und vermittelt die gleichen wirtschaftlichen Chancen wie ein direktes Investment in Aktien66. Seibt veranschaulicht dies mit dem Bild eines „wirtschaftlichen Substrats“ an einer Aktie, das rechtlich kein Stimmrecht vermittelt67. Im Falle der Kündigung der Derivate durch den Investor wird die Bank die als Sicherung gehaltenen Aktien wieder veräußern68. Zwar besteht kein Anspruch seitens des Investors auf physische Lieferung, als Erwerber wird aber meist der spätere Bieter im Übernahmeverfahren in Frage kommen69. Wenn die Kündigung des Swaps im zeitlichen Zusammenhang mit der Ankündigung einer Übernahme erfolgt, ist die Annahme eines Pflicht- oder Übernahmeangebots die technisch unkomplizierteste Abwicklungsmethode für die Banken70. Andernfalls kann ein Verkauf großer Aktienpakete am Kapitalmarkt kaum marktschonend erfolgen71. In der Literatur wird jedenfalls über- einstimmend davon ausgegangen, dass Schaeffler die Aktien als Hauptabnehmer angedient bekam72.
b) Halten für Rechnung des Bieters, § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG
Bei der vorstehend dargestellten Übernahmestruktur - deren Erwägungen im Wesentlichen auch für den Einsatz anderer Aktienderivate wie z. B. Call-Optionen gelten73 - stellt sich die Frage, ob das Bankenkonsortium die Conti-Aktien ggf. „für Rechnung des Bieters“ i. S. v. § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG gehalten hat. Nach überwiegender Ansicht ist es hierfür erforderlich, dass das formale und das wirtschaftliche Eigentum an einer Aktie auseinanderfallen, der Bieter das wirtschaftliche Risiko trägt und auf die Stimmrechtsausübung des Eigentümers Einfluss nimmt74. Entsprechend müssten insbesondere das Kurs- und Zahlungsrisiko vom Bieter zu tragen und der Dritte verpflichtet sein, Erträge an den Bieter abzuführen75. Ein Stimmrechtseinfluss soll gegeben sein, wenn der Dritte nach Weisungen des Investors abstimmt, wobei ein faktischer Einfluss genügen soll76. Primär sind von diesem Tatbestand Treuhandkonstellationen erfasst77.
Infolge der Verlautbarungen der Schaeffler-Gruppe kann davon ausgegangen werden, dass die Banken ihre Position physisch mit Aktien unterlegt und somit das formelle Eigentum innehatten (vgl. B. II. 1. a). Dagegen lag infolge der typischen Konstruktion der CfD das wirtschaftliche Risiko bei dem Bieter78. Fraglich und im Folgenden zu prüfen ist jedoch, ob in Übereinstimmung mit Habersack aus der Übertragung des wirtschaftlichen Risikos geschlussfolgert werden kann, dass die Banken die Stimmrechte im Interesse des Bieters aus- übten79. Habersack argumentiert, dass die Banken infolge ihres Ve- räußerungszwanges aus eigenen ökonomischen Interessen gehalten waren, ihre Stimmrechte im Sinne von Schaeffler auszuüben80. Tatsächlich weist eine Untersuchung der britischen Kapitalmarktaufsicht FSA darauf hin, dass die Inhaber einer Swap-Position versuchen, auf die Stimmrechtsausübung Einfluss zu nehmen81. Gleichzeitig wird jedoch darauf hingewiesen, dass Banken oftmals ihr Stimmrecht nur partiell ausüben und eine „no-voting-policy“ verfolgen82. Der BaFin jedenfalls ist der Nachweis eines Stimmrechtseinflusses nicht gelungen, was im Schrifttum auf Gegenwehr stößt83. So sehen Weber / Meckbach infolge „kaum lösbarer Beweisfragen“84 eine restriktive Auslegung hinsichtlich § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG nicht geboten und betrachten es als allein ausreichend, wenn den Bieter die wirtschaftlichen Chancen und Risiken treffen. In einer nicht rechtskräftigen, jüngeren Entscheidung verneinte das LG Köln jedoch diese Annahme hinsichtlich § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG85 . In der Sache ging es um einen gestreckten Erwerbsvorgang mit Hilfe einer Pflichtwandelanleihe und wechselseitigen Optionen. Das Gericht stellte klar, dass sich auch bei Derivatkontrakten zwei Vertragspartner mit eigenen Interessen gegenüberstehen86. Auch Fleischer / Schmolke weisen gut begründet darauf hin, dass für eine Vermutung der Stimmrechtsmacht von Investoren die empirische Basis fehle; Banken können über die betreffenden Aktien frei disponieren und diese z. B. auch im Wege der Wertpapierleihe weiterreichen87.
Auch nach hier vertretener Auffassung kann es nicht überzeugen, dass aus ökonomischen Motiven der Tatbestand des Stimmrechtseinflusses - auch wenn er den Rechtsanwender vor Probleme stellt - unberücksichtigt bleiben soll. Die Banken hielten die Zielaktien der Continental eben nicht auf Rechnung von Schaeffler, sondern zu eigenen Sicherungszwecken. Insofern waren die entsprechenden Aktien faktisch „aus dem Spiel genommen“88. Im Ergebnis kann also bei Übernahmekonstellationen, die durch ein Anschleichen mittels Finanzderivaten gekennzeichnet sind, ohne Nachweis des Stimmrechtseinflusses auf einen Intermediär kein Halten auf Rechnung des Bieters angenommen werden. Die ÜbRL steht nach allgemeiner Ansicht einer solch restriktiven Auslegung des § 30 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG nicht entgegen89.
c) Einem Dritten als Sicherheit übertragen, § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG
Nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG werden einem Bieter Stimmrechte aus Aktien einer Zielgesellschaft zugerechnet, die der Bieter einem Dritten als Sicherheit übertragen hat, es sei denn, der Dritte ist zur Ausübung der Stimmrechte aus diesen Aktien befugt und bekundet die Absicht, die Stimmrechte unabhängig von den Weisungen des Bieters auszuüben. Im hier zu prüfenden Fall haben die Banken mutmaßlich ihre Swap-Positionen zu Sicherungszwecken mit Aktien des Zielunternehmens physisch hinterlegt90. Somit ist der Anwendungsbereich des § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG gerade nicht betroffen; eine Auslegung entgegen des klaren Wortlauts des § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG ist auch nicht geboten91.
d) Erwerb durch Willenserklärung, § 30 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG
Nach § 30 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG stehen Stimmrechten des Bieters Stimmrechte aus Aktien der Zielgesellschaft gleich, die der Bieter durch Willenserklärung erwerben kann. Nach überwiegender Ansicht betrifft Nr. 5 nur dingliche Optionen; ein rein schuldrechtlicher An- spruch auf Aktienübertragung soll nicht ausreichend sein92. Eine Zurechnung nach § 30 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG erfolgt also nur, wenn der Aktieninhaber dem Bieter ein dingliches Angebot auf Aktienübertragung macht. In jenen Fällen vermutet der Gesetzgeber unwiderleglich, dass zwischen Verkäufer und Erwerber Abmachungen über die Ausübung des Stimmrechts getroffen sind93. Wie auch hinsichtlich § 30 Abs. 1 Nr. 3 WpÜG steht hier der klare Wortlaut einer anderen Auslegung entgegen94. CfD geben dem Bieter i. d. R. einen Anspruch auf Zahlung eines Differenzbetrags. Ein dinglicher Realerfüllungsanspruch auf Aktienlieferung wird gerade nicht begründet95, weshalb für eine Zurechnung über § 30 Abs. 1 Nr. 5 WpÜG kein Raum gegeben ist96.
e) Acting in Concert, § 30 Abs. 2 WpÜG
Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass ein Einfluss von Schaeffler auf das Stimmrechtsverhalten der Banken nicht angenommen werden kann. Gleichwohl liegt es sehr nah, dass die Transaktionsstruktur und der Erwerb des kontrollbegründenden Stimmenanteils zwischen dem Bieter und dem Bankenkonsortium koordiniert war, was im Folgenden vorausgesetzt werden soll97. Daher gilt es nachstehend zu prüfen, ob die von den Banken gehaltenen Stimmrechte dem Erwerber ggf. im Wege des acting in concert i. S. v. § 30 Abs. 2 WpÜG zugerechnet werden können. Dies würde voraussetzen, dass der Bieter sein Verhalten in Bezug auf die Zielgesellschaft auf Grund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise abstimmt, § 30 Abs. 2 S. 1 WpÜG. Gem. § 30 Abs. 2 S. 2 WpÜG müssten sich der Bieter und ein
Dritter über die Ausübung von Stimmrechten verständigen oder mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der unternehmerischen Ausrichtung in sonstiger Weise zusammenwirken98. Des Weiteren darf es sich nicht um einen Einzelfall handeln.
aa) Verhaltensabstimmung durch Vereinbarung oder in sonstiger Weise
Erforderlich für eine Abstimmung ist zunächst eine Koordinierung der Verhaltensweisen infolge eines bewussten geistigen Kontakts99. Während unter den Begriff der Vereinbarung sämtliche Absprachen fallen, werden auch in sonstiger Weise erfolgende Abstimmungen erfasst100. Eine Abstimmung in sonstiger Weise liegt vor, wenn tatsächliche Umstände geschaffen wurden, die eine gleichgerichtete Stimmabgabe lediglich erwarten lassen101. Soweit die Banken zur Absicherung ihrer Position Continental Aktien bezogen haben, wird zwischen ihnen und Schaeffler ein abgestimmtes Verhalten zumindest in „sonstiger Weise“ vorliegen102. Ausgenommen vom Anwendungsbereich des § 30 Abs. 2 WpÜG sind allerdings Vereinbarungen in Einzelfällen. Diese Einzelfallausnahme stellt im Hinblick auf die drohende Rechtsfolge eines Pflichtangebots ein Korrektiv dar, um den Zurechnungstatbestand des § 30 Abs. 2 WpÜG nicht zu weit reichen zu lassen103. Der Wortlaut des § 30 Abs. 1 S. 1 2. HS WpÜG stellt zwar nur auf Vereinbarungen ab, aus teleologischen Gründen muss dieses Privileg nach allgemeiner Auffassung auch auf den schwächeren Koordinationstatbestand „in sonstiger Weise“ entsprechend Anwendung finden104. Der Meinungsstreit, ob das Vorliegen eines Einzelfalls anhand formeller oder materieller Kriterien zu ermitteln ist, kann in diesem Rahmen unberücksichtigt bleiben105. Soweit der Bieter eine Übernahme mit einem Dritten beabsichtigt, wird dies jedenfalls in formeller Hinsicht einen ganzen Abstimmungsbündel erfordern, was auch bei materiell wertender Betrachtung angesichts der damit verbundenen Intensität keine Einzelfallentscheidung für die Zielgesellschaft darstellen kann106. Weniger eindeutig und im Schrifttum höchst umstritten ist dagegen die im Folgenden zu klärende Frage, ob ein koordinierter Aktienerwerb auch eine Abstimmung „in Bezug auf die Zielgesellschaft“ darstellt.
bb) Bezug zur Zielgesellschaft
Mit dem in § 30 Abs. 2 WpÜG geforderten Bezug auf die Zielgesellschaft ist allgemein jedes Verhalten gemeint, dass sich direkt oder indirekt auf diese Gesellschaft auswirkt107. Im Rahmen einer restriktiven Auslegung des § 30 Abs. 2 WpÜG (a. F.) legte der BGH in seiner WMF-Entscheidung vom 18. September 2006 fest, dass lediglich Vereinbarungen über die Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung von § 30 Abs. 2 WpÜG erfasst werden108. Im konkreten Fall schloss der BGH die abgestimmte Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern als Tatbestandsvariante des § 30 Abs. 2 WpÜG aus. Nach Auffassung des Senats würde eine Berücksichtigung anderer Abstimmungsvorgänge die Wortlautgrenze des § 30 Abs. 2 WpÜG „sprengen“109. Aufgrund der Bußgeldbewährung i. S. v. § 60 WpÜG sei zudem ein wortlautgemäßes Verständnis geboten110.
[...]
1 Wadewitz, Börsen-Zeitung vom 07.12.2011, 2.
2 Vgl. nur den Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung des WpÜG, BTDrucks. 17/3481.
3 BGBl. I 2011, S. 538; vgl. dazu: Seibt, CFL 2010, 502.
4 Vgl. Seibt, ZIP 2012, 1, der mit Freshfields in diesem Zusammenhang eine Expertenbefragung veröffentlicht hat.
5 Seibt, ZIP 2012, 1, 11.
6 Süßmann in: Geibel / Süßmann, § 29 Rn. 25; Wackerbarth in: MünchKommAktG, § 29 Rn. 43; Wernicke, NZG 2011, 1404, 1405.
7 Noack / Zetzsche in: Schwark / Zimmer, § 30 Rn. 1.
8 Über die Reichweite dieser Sanktionen wird im Schrifttum intensiv diskutiert, vgl. von Falkenhausen, NZG 2010, 1213.
9 So die überwiegende Auffassung, vgl. OLG Frankfurt NZG 2012, 302; von Falkenhausen, NZG 2010, 1213, 1215; a. A.: Meilicke / Meilicke, ZIP 2010, 558, 564 ff.
10 Schlitt / Ries in: MünchKommAktG, § 35 Rn. 5.
11 Baums, ZIP 2010, 2374, 2382.
12 Merkt in: Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 54, 55.
13 Harbarth, ZIP 2002, 321, 322; Hirte, Stellungnahme zum RegE eines Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, abrufbar unter: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/12_S anierung_von_Unternehmen/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Hirte.pdf; Meilicke / Meilicke, ZIP 2010, 558; Schlitt / Ries in: MünchKommAktG, § 35 Rn. 5.
14 Von Falkenhausen, ZHR 2010, 293, 300; a. A. Sohbi in: Heidel, § 35 Rn. 2.
15 Schröder / Schöfer in: Schüppen / Schaub, MAH Aktienrecht, § 51 Rn. 159.
16 Schlitt / Ries in: MünchKommAktG, § 35 Rn. 250.
17 U. a. ACS / Hochtief, VW / MAN, Schaeffler / Continental.
18 Merkt, NZG 2011, 561 (bejahend); a. A. Baums, ZIP 2010, 2374.
19 Oechsler, ZIP 2011, 449; wohl auch Cahn in: Mülbert / Kiem / Wittig, 10 Jahre WpÜG, 78, 97 f. und AG 1997, 502, 503.
20 U. a. in den Verfahren Deutsche Bank / Postbank; Schaeffler / Continental; vgl. dazu Habersack, AG 2008, 817 sowie Meilicke / Meilicke, ZIP 2010, 558.
21 Von Bülow in: KölnerKommWpÜG, § 30 WpÜG Rn. 203.
22 Lüßmann / Hopp, Börsenzeitung vom 04.02.2012, 13.
23 So sind die nationalen Vorschriften nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auszulegen, vgl. EuGH, Slg. 1990, I-4135.
24 So hinsichtlich der Beteiligungstransparenz nach dem WpHG, Eichner, ZRP 2010, 5.
25 Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1505.
26 Vgl. dazu Seibt, ZIP 2012, 1, der auf Basis der gesamtpolitischen Gesamtsituati on von einer Änderungsrichtlinie betreffend „technischer Einzelfragen“ ausgeht.
27 Oder dem Erfordernis einer rechtsvergleichenden Auslegung nationaler Normen, so aber Berger / Filgut, AG 2004, 592, 601.
28 Ausführlich zu methodischen Vorbehalten: Baums, ZIP 2010, 2374, 2378.
29 Schumacher et. al, Chronik einer Übernahmeschlacht,
http://www.wiwo.de/unternehmen/hochtief-vs-acs-die-chronik-der- uebernahmeschlacht/4637902.html.
30 Angebotsunterlage ACS abrufbar unter: http://www.acs- offer.com/deutsch/angebotsunterlage.php.
31 Angebotsunterlage ACS: http://www.acs- offer.com/deutsch/angebotsunterlage.php.
32 Weber, NJW 2012, 274, 276.
33 Angebotsunterlage ACS: http://www.acs- offer.com/deutsch/angebotsunterlage.php.
34 NTV GmbH, 50 % überschritten - ACS hat Hochtief im Sack, http://www.n- tv.de/wirtschaft/ACS-hat-Hochtief-im-Sack-article3605071.html.
35 Eigene Darstellung. Historische Börsenpreisentwicklung abrufbar unter:
http://de.finance.yahoo.com/q;_ylt=Ats7y7T1HEtdb5x3uiB9LWOtPqZG;_ylu=X 3oDMTFidDQ1YmJrBHBvcwMxMgRzZWMDeWZpU3ltYm9sTG9va3VwUm VzdWx0cwRzbGsDaG90ZGU-?s=HOT.DE.
36 Noack / Zetschke in: Schwark / Zimmer, § 35 Rn. 11; von Bülow in: Mülbert, Kiem, Wittig, 10 Jahre WpÜG, 9, 34.
37 Baums, ZIP 2010, 2374, 2388; Cascante / Tyrolt, AG 2012, 97, 105.
38 Cascante / Tyrolt, AG 2012, 97, 105; Hitzer / Düchting, ZIP 2011, 1084, 1087.
39 Dazu eingehend Baums ZIP 2010, 2374, 2383, der ferner verfassungsrechtliche Erwägungen berücksichtigt.
40 Baums, ZIP 2010, 2374, 2383, der dies allerdings deutlich verneint.
41 Noack in: Schwark / Zimmer, § 31 Rn. 26; Süßmann in: Geibel / Süßmann, § 31 Rn. 103
42 Vgl. nur Baums, ZIP 2010, 2374, 2382 ff.; Cascante / Tyrolt, AG 2012, 97, 105; Hitzer / Düchting, ZIP 2011, 1084; von Falkenhausen, ZHR 2010, 293, 298; mit Bedenken: Merkt in: Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 54, 70 ff.
43 Baums, ZIP 2010, 2374, 2382.
44 Vgl. dazu aber eingehend von Bülow in: Mülbert, Kiem, Wittig, 10 Jahre WpÜG, 9, 36 ff. sowie von Falkenhausen, ZHR 2010, 293, 301 ff.
45 Fuchs in: Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 22 Rn.73.
46 Merkt in: Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 59, 72; wohl auch von Bülow in: Mülbert, Kiem, Wittig, 10 Jahre WpÜG, 9, 25.
47 Baums, ZIP 2010, 2374, 2383.
48 Noack in: Schwark / Zimmer, § 31 Rn. 74.
49 Merkt in: Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 59, 72.
50 Baums, ZIP 2010, 2384, 2386; Hitzer / Düchting, ZIP 2011, 1084, 1088.
51 Vgl. nur Baums, ZIP 2010, 2374, 2382 ff.; Cascante / Tyrolt, AG 2012, 97, 105; Hitzer / Düchting, ZIP 2011, 1084; von Falkenhausen, ZHR 2010, 293, 298; mit Bedenken, Merkt in: Veil, Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 54, 70 ff.
52 Sächsische Zeitung GmbH, Schaeffler legt Angebot für Conti vor, http://www.sz- online.de/nachrichten/artikel.asp?id=1883117&swbm=all.
53 Weber / Meckbach, BB 2008, 2022.
54 U. a. Merrill Lynch, Dresdner Bank, Unicredit und Credit Suisse, wobei lt. Pres seberichten Merrill Lynch dieses Konsortium führte, vgl. Maier / Wihofszki, An schleichtaktik,
http://www.ftd.de/unternehmen/finanzdienstleister/:anschleichtaktik-merrill- lynch-fuehrt-angriff-auf-conti/386315.html.
55 Schanz, DB 2008, 1899.
56 Bischoff, Börsen-Zeitung vom 23.08.2008, 9.
57 Weber / Meckbach, BB 2008, 2022. Ferner wurde ein Verstoß gegen die Beteili gungstransparenz moniert, was aber nicht Gegenstand dieser Arbeit ist.
58 Lüßmann / Hopp, Börsen-Zeitung vom 04.02.2012, 13.
59 BGBl. I 2008, S. 1666; vgl. dazu von Bülow / Stephanblome, ZIP 2008, 1797.
60 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292; Weber / Meckbach, BB 2008, 2022 f.
61 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292.
62 Cascante / Topf, AG 2009, 53, 60; Schanz, DB 2008, 1899, 1901; Weber / Meckbach, BB 2008, 2022f.
63 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292; vorsichtiger Schanz, DB 2008, 1899, 1901.
64 Seibt, ZGR 2010, 795, 811.
65 Eigene Darstellung.
66 Fox / Trost, CF biz 2006, 37, 38 ff.; Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292.
67 Seibt, ZGR 2010, 795, 797, der dies vor dem Hintergrund des § 8 Abs. 5 AktG diskutiert.
68 Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2023.
69 Schiessl, Der Konzern 2009, 291. 292; Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2023.
70 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 293.
71 Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501; Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 293.
72 Seibt, ZGR 2010, 795, 811, der sogar eine vertragliche Vereinbarung diesbezüg lich vermutet sowie Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2023.
73 Baums / Sauter, ZHR 2009, 454, 456.
74 OLG München ZIP 2009, 2095 ff.; OLG Schleswig ZIP 2006, 421, 423; von Bülow in: KölnerKommWpÜG, § 30 Rn. 54; Wackerbarth in: MünchKom mAktG, § 30 Rn. 21.
75 Süßmann in: Geibel / Süßmann, § 30 Rn. 6.
76 Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1503; Wackerbarth in: MünchKom mAktG § 30 Rn.21.
77 Veil in: FS K. Schmidt 2009, 1645, 1649.
78 Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2007.
79 Habersack, AG 2008, 817, 818; wohl auch, aber ohne Begründung Engert, ZIP 2006, 2105, 2110.
80 Habersack, AG 2008, 817, 818.
81 Weber / Meckbach, DB 2008, 2022, 2028.
82 Financial Services Authority: Disclosure for Contracts of Difference, http://www.fsa.gov.uk/pubs/cp/cp07_20.pdf.
83 Habersack. AG 2008, 817; Weber / Meckbach, DB 2008, 2022.
84 Weber / Meckbach, DB 2008, 2022; wohl auch Schanz, DB 2008, 1899, 1902 f.
85 LG Köln ZIP 2012, 229 (n. rkr.) hinsichtlich der Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank, ausführlich dazu: Meilicke / Meilicke, ZIP 2010, 558 sowie Wackerbarth, ZIP 2012, 253, 257 f.
86 LG Köln ZIP 2012, 229 (n. rkr.).
87 Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1506; auch von Bülow in: Kölner KommWpÜG, § 30 Abs. 124.
88 So veranschaulicht von Wackerbarth in: MünchKommAktG, § 30 Rn. 21.
89 Mülbert, NZG 2004, 633, 636; Veil in: FS K. Schmidt 2009, 1645, 1662; von Bülow: KölnKommWpÜG, § 30 Rn. 98.
90 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292; Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2027.
91 Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2030.
92 Engert, ZIP 2006, 2105, 2110; Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1504; Noack / Zetschke in: Schwark / Zimmer, § 30 Rn. 14.
93 Wackerbarth in: MünchKommAktG, § 30 Rn. 25.
94 Cascante / Topf, AG 2009, 53. 63.
95 Schiessl, Der Konzern 2009, 291, 292; Schneider / Anzinger, ZIP 2009, 1,7.
96 So auch das LG Köln ZIP 2012, 229, 231 (n. rkr.) im Hinblick auf wechselseitige Optionen; auch Fleischer / Schmolke, ZIP 2008, 1501, 1505.
97 So auch Weber / Meckbach, BB 2008, 2022, 2026, auch wenn es sich um eine Tatfrage handelt.
98 Pluskat, DB 2008, 383, 385.
99 Von Bülow in: Merkt, Übernahmerecht in Wissenschaft und Praxis, 137, 142; Wackerbarth in: MünchKommAktG, § 30 Rn. 38.
100 Noack / Zetschke in: Schwark / Zimmer, § 30 Rn. 42; Wackerbarth in: Münch KommAktG, § 30 Rn. 34 f.
101 Gätsch / Schäfer, NZG 2008, 846, 850; Wackerbarth in: MünchKommAktG, §
30 Rn. 34 f.
102 Schanz / Schalast, Schaeffler / Continental im Lichte der CSX Corp.-
Entscheidung, Frankfurt School - Working Paper Series No. 100, S. 21; http://www.frankfurt-school.de/dms/Arbeitsberichte/Arbeits100.pdf.103 Noack / Zetschke in: Schwark / Zetschke, § 30 Rn. 46.
104 So Noack / Zetschke in: Schwark / Zetschke, § 30 Rn. 46; von Bülow / Stephan blome, ZIP 2008, 1797, 1799.
105 M. w. N. Gätsch / Schäfer, NZG 2008, 846, 850; Hamann, ZIP 2007, 1088,
1094 und Kocher, Der Konzern 2010, 162, wonach die formelle Auffassung dabei auf die Zahl der Abstimmungen abstellt, während es bei der materiellen Auffassung auf die Auswirkungen einer Abstimmung ankommt.
106 Kocher, Der Konzern 2010, 162, 165.
107 Berger / Filgut, AG 2004, 592; von Bülow in: Mülbert / Kiem / Wittig, 10 Jahre WPÜG, 137, 142.
108 BGH NZG 2006, 945.
109 BGH NZG 2006, 945, 948.
110 BGH NZG 2006, 945, 948.
- Quote paper
- Stefan Schrewe (Author), 2012, Strukturierungen zur Vermeidung von Pflichtangeboten nach § 35 WpÜG, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203497