In dem pseudoautobiografischen Werk Lazarillo de Tormes entwickelt sich der Schelm durch seine Dienste bei 7 verschiedenen Herren vor den Augen des Lesers vom naiven Lazarillo zum Lazarus.
Das letztendlich für den Picaro geltende Wertesystem basiert auf der Grundlage seines Lebensweges als Diener durch die verschiedenen Stände der Gesellschaft.
Aus diesem Grunde beinhaltet, auch unter Berücksichtigung der notwendigen Komplementärlektüre, die Selbstrechtfertigung des Lazarillo eine Kritik an der Gesellschaft, welche seine Taten aufgrund der in ihr herrschenden Strukturen mitverantwortet.
Hinsichtlich dieser Kritik muss jedoch die Frage berücksichtigt werden, welche Gesellschaftsmerkmale des Siglo de Oro sich in dem Roman – in Gestalt der Herren Lazarillos als Repräsentanten der Gesellschaft – wiederfinden lassen.
Innerhalb dieser Arbeit soll die Entwicklung des Lazarillo erarbeitet und die Repräsentation der Gesellschaftsmerkmale des Siglo de Oro durch die verschiedenen Typen der Herren von Lazarillo untersucht werden. Mit Hilfe dieser Ergebnisse soll Lazarillos Entwicklung auf ihren Zusammenhang und ihre Bedeutung als Kritik der sozialen Strukturen der Gesellschaft des Siglo de Oro untersucht werden
1) Einleitung
Der von einem anonymen Autor veröffentlichte Roman Lazarillo de Tormes entstand in der Epoche des Siglo de Oro in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Roman lässt sich als der Prototyp des Schelmenromans definieren, da er die typologischen Aspekte beinhaltet, die sich bei späteren Werken dieser Gattung, wie zum Beispiel Guzmán de Alfarache und El Buscón charakteristisch wiederfinden.[1]
In dem pseudoautobiografischen Werk entwickelt sich der Schelm durch seine Dienste bei sieben verschiedenen Herren vor den Augen des Lesers vom naiven Lazarillo zum Lázarus. Das letztendlich für den Picaro geltende Wertesystem bildet sich auf der Grundlage seines Lebensweges und seinen Erfahrungen als Diener durch die verschiedenen Stände der Gesellschaft.
Auch unter Berücksichtigung der notwendigen Komplementärlektüre der Selbstrechtfertigung des Lazarillo wird deutlich, dass es in der Gesellschaft für Lazarillo keine Chance gibt allein mit Werten und Tugenden in der Legalität zu überleben. Dadurch bleibt Lazarillo trotz seiner Taten nachvollziehbar und sympathisch, da diese aufgrund der äußeren Umstände für ihn zum Überleben notwendig sind.
In dieser Art und Weise erscheint Lazarillo de Tormes als meisterhafte Gesellschaftssatire, die die Unzulänglichkeiten der Welt, getarnt durch die naive Sicht eines Ich Erzählers, abbildet.[2]
Hinsichtlich dieser kritischen Lesart muss jedoch die Frage berücksichtigt werden, ob sich Parallelen feststellen lassen zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Siglo de Oro und ihrer Repräsentation im Roman in Form der sieben Herren des Lazarillo. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Zusammenhangs lässt sich ein kritischer Bezug zwischen der Entwicklung von Lazarillo und den Gesellschaftsverhältnissen des Siglo de Oro diskutieren.
Innerhalb dieser Arbeit soll die Entwicklung des Lazarillo auf ihre Bedeutung als Kritik an den sozialen Strukturen des Siglo de Oro untersucht werden.
Hierfür wird im ersten Teil der Arbeit die Gesellschaft des Siglo de Oro anhand ausgewählter Merkmale und historischer Kontexte beschrieben, um dann im Hauptteil die Entwicklung des Lazarillo in ihren einzelnen Stufen zu erläutern und die verschiedenen Herren des Lazarillo im Hinblick auf die Präsenz von charakteristischen Gesellschaftsmerkmalen des Siglo de Oro zu analysieren. Mit Hilfe dieser Ergebnisse soll Lazarillos Entwicklung auf ihren Zusammenhang und ihre Bedeutung als Kritik der sozialen Strukturen der Gesellschaft des Siglo de Oro beurteilt und zusammengefasst werden.
2) Besondere Merkmale der Gesellschaft von Spanien im Siglo de Oro
Das Siglo de Oro, das das 16. und 17. Jahrhundert umfasste, steht für eine klassische Epoche, in der Spanien besonders auf literarischem Gebiet kulturell hervorstach. Neben Persönlichkeiten wie Cervantes, Lope de Vega, Velázquez und Zurbarán sind die vier Romangattungen Ritter-, Schäfer-, Morisken- und Schelmenromane charakteristisch für dieses goldene Zeitalter Spaniens.[3]
Historisch einordnen lässt sich der Beginn der Epoche des Siglo de Oro in Spanien mit dem Ende der Reconquista. Die Eroberung des letzten arabischen Stützpunktes Granada begünstigte die schon 1479, durch die Vereinigung der beiden Königreiche Aragón und Kastilien, geschaffenen Vorraussetzungen für ein spanisches Weltreich.[4] Durch das Gold und Silber aus dem 1492 von Kolumbus entdeckten Amerika, konnte Spanien seine Macht in der Zeit des Siglo de Oro über erhebliche Teile Europas ausdehnen. Innerhalb Spaniens wuchsen jedoch die ökonomischen Schwierigkeiten, so dass das goldene Zeitalter mit seinen gesellschaftlichen Veränderungen für große Teile der Bevölkerung eine eher problematische Zeit darstellte.[5]
Während die Juden in den sieben Jahrhunderten der Reconquista eine wichtige Rolle bei der interkulturellen Kommunikation zwischen der christlichen und der islamischen Welt in Spanien gespielt hatten, störten sie nun nach der territorialen Einigung das Bild von einem einheitlichen Spanien. Andere kulturelle und religiöse Einflüsse sollten aus Spanien entfernt werden, um das nach der Zeit der Reconquista geschwächte Nationalgefühl der Spanier wieder zu stärken. Mit diesen Gedanken der sozialen und religiösen Umwälzungen begann 1492 die Vertreibung der Juden aus Spanien.[6]
Hinzu kam die seit 1480 geltende Differenzierung zwischen Juden und getauften Juden, den so genannten converso s. Für die Inquisition waren die conversos häretische Christen, die nur vermeintlich zum Christentum übergetreten waren, um weiterhin mit ihrem jüdischen Glauben und einem Leben nach der Tora in Spanien zu bleiben. So begann ab 1490 die Verfolgung und Überprüfung der conversos durch die Inquisition mit Prozessen, die auf Denunziation und Folter basierten und ein Klima der Angst und des Misstrauens in Spanien schufen. Nach der Ausdehnung des Begriffs converso auf alle Spanier mit jüdischen Vorfahren, wurde es innerhalb der Gesellschaft immer wichtiger einen rein christlichen Stammbaum vorweisen zu können um der Inquisition zu entgehen. Aber auch für das Leben innerhalb der Gesellschaft war ein reiner Stammbaum wichtig, da conversos aus dem sozialen Leben ausgeschlossen wurden, indem man sie für viele Ämter und zahlreiche Zünfte nicht mehr zuließ. Die äußere Erscheinung war wichtiger als Tatsachen, um nicht denunziert zu werden, so dass jeder Spanier auf die Reinheit seines Blutes ohne jegliche jüdischen Einflüsse bestand.[7] Hierbei besaßen die Bauern den Adligen gegenüber den Vorteil, dass über die Familien niedriger Schichten keine Stammbäume geführt wurden, so dass alle Bauern automatisch als Altchristen galten. Dadurch und aus dem damals in allen Schichten verbreiteten Wunsch nach sozialem Aufstieg entwickelte sich die Vorstellung, die Reinheit des Blutes mit einer Art Adel gleichzusetzen, der dem Geburtsadel sogar qualitativ aufgrund der Unbeflecktheit überlegen sein sollte.[8]
Nach einer Verurteilung durch die Inquisition übertrug sich der Verlust der Ehre des Verurteilten auf seine gesamte Familie mit allen noch folgenden Nachkommen. Die gesamte Familie wurde nach einer solchen Verurteilung aus dem sozialen Leben der Gesellschaft ausgeschlossen. Diese Ausgrenzung der bekehrten Juden und ihrer gesamten Nachkommen aus der Gesellschaft Spaniens ist einer der entscheidenden Faktoren für die wirtschaftliche Krise in der Zeit des Siglo de Oro.[9]
Zusätzlich zu dieser legalen, erblichen Diskriminierung fanden allgemein immer mehr Menschen keinen Platz mehr innerhalb der Gesellschaft, so dass sich eine Randgesellschaft aus Kriminellen und Bettlern bildete. Auch der niedrige Adel lebte oft hungernd in den Städten, da es für sie nach der Reconquista keine ihrem Stand entsprechende gesellschaftliche Funktion mehr gab mit der sie ihren Unterhalt verdienen konnten.
Diesen Missstand kompensierten die Hidalgos durch ein übertriebenes Ehrgefühl, indem sie bewusst Hunger der Ausübung von Handel oder ähnliche Tätigkeiten unter ihrem Stand vorzogen. Dieses krankhaft übersteigerte Ehrgefühl der Hidalgos steht repräsentativ für die damalige Überbewertung des Begriffs Ehre in der gesamten Gesellschaft des Siglo de Oro. So wie die Bauern versuchten sich aufgrund der Reinheit ihres Blutes mit dem Adel gleichzustellen, strebte fast die gesamte Gesellschaft hochmütig nach Adelstiteln oder dem Aufstieg in eine höhere soziale Schicht.[10]
Zusätzlich zum Ehrgefühl charakterisiert der katholische Glaube die Gesellschaft Spaniens des 16. und 17. Jahrhunderts in besonderer Weise. Die Kirche war damals in jedem Lebensbereich präsent und durch den rasanten Zuwachs an Geistlichen nahm die gesellschaftliche Macht der Kirche immer mehr zu. Dieser Anstieg an Geistlichen lag nicht nur in religiöser Inbrunst, sondern oft auch in weltlichen Überlegungen begründet. So war eine Karriere in der Kirche für viele die einzige Möglichkeit aus ihren, oft durch die Geburt festgelegten, Lebenswegen auszubrechen und mit einem Amt in der Kirche gesellschaftliches Ansehen zu erreichen. Für adlige Zweitgeborene, denen kein Erbe zustand, bot die Kirche einen raschen Karriereaufstieg und einen gesicherten Beruf. Aus diesen Gründen sowie auch durch die aus dem übertriebenen Ehrgefühl resultierende Verachtung körperlicher Arbeit, stieg die Zahl der Kleriker 1625 auf fast drei Prozent der Gesamtbevölkerung Spaniens. Damit steigerte die Kirche zwar ihre finanzielle Macht, aber so gab es auch immer mehr Geistliche ohne ehrliche Gesinnung, unter denen die moralische Haltung der Kirche verfiel und sich die Sitten lockerten.[11] Besonders dem niedrigen Klerus wurde mangelnde moralische Integrität und das Fehlen einer ausreichenden theologischen Ausbildung vorgeworfen.[12]
Die Situation der conversos und das daraus resultierende geschwächte, zwischenmenschliche Vertrauen innerhalb der Gesellschaft, der übersteigerte Begriff der Ehre und die große Macht der Kirche sind wichtige Merkmale um die Bevölkerung des Siglo de Oro und das gesellschaftliche Leben in Spanien zu charakterisieren.
[...]
[1] Vgl. Bauer, Matthias: Der Schelmenroman, Stuttgart 1994, S. 36.
[2] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Picara – Landtstörtzer – Simplicius, Darmstadt 1972, S. 6.
[3] Vgl. Simson, Ingrid: Das Siglo de Oro, Stuttgart 2001, S. 115-117.
[4] Vgl. ebd., S. 7.
[5] Vgl. Defourmeaux, Marcelin: Spanien im goldenen Zeitalter, Stuttgart 1986, S. 9.
[6] Vgl. Bauer 1994, S. 32.
[7] Vgl Poliakov, Léon: Die Geschichte des Antisemitismus, Worms 1981, S. 44-90.
[8] Vgl. Defourmeaux 1986, S. 44.
[9] Vgl Poliakov 1981, S. 44-90.
[10] Vgl. Defourmeaux 1986, S. 44-49.
[11] Vgl. Defourmeaux 1986, S. 125-129.
[12] Vgl. Simson 2001, S. 20.
- Arbeit zitieren
- Alexandra Westhoff (Autor:in), 2010, Lazarillo de Tormes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203231
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