Was ist Zeit? Woher kommt sie? Wie ist ist sie zu fassen?
Immanuel Kant beschäftigte sich bereits im 18. Jhd. "Kritik der reinen Venunft" mit den "Grundlagen der Wahrnehmung" - "Zeit" und "Raum". Im Abschnitt zur "transzendentalen Ästhetik" beschreibt er: "Wir verfügen einerseits über einen äußeren Sinn, der uns Vorstellungen im Raum gibt. Wir haben andererseits einen inneren Sinn, mit dem wir Vorstellungen in der Zeit erzeugen. Raum und Zeit sind Voraussetzung der sinnlichen Vorstellungen, weil wir uns keine Gegenstände ohne Raum und Zeit vorstellen können. Gleichzeitig sind unsere Sinne rezeptiv, d. h. sie werden von einer begrifflich nicht fassbaren Außenwelt („dem Ding an sich selbst“) affiziert."
Nach Kant erkennen wir nicht das Ding an sich, sondern nur dessen Erscheinung oder das Ding für uns. Diese Erscheinung wird aber durch uns als Subjekt, durch die apriorischen Sinnlichkeitsformen gegeben. Nach unserer Vorstellung der Außenwelt gibt es Gegenstände, die von den Sinnen aufgenommen werden – es wird affiziert. Diese sinnlichen Anschauungen werden uns nur als räumliche Gegenstände gegeben. Das Räumlich-Sein ist sogar die Bedingung ihrer Existenz. Die Außenwelt ist dabei bereits eine "subjektive" Vorstellung. Solche aus einzelnen Elementen zusammengesetzten empirischen Anschauungen nennt Kant Empfindungen. "Raum" und "Zeit" aber werden als reine Formen der sinnlichen Anschauung den Empfindungen (der Materie) hinzugefügt. Sie sind reine Formen der menschlichen Anschauung und gelten nicht für Gegenstände an sich. Dies bedeutet, dass Erkenntnis immer vom Subjekt abhängig ist. Unsere Realität sind die Erscheinungen, d. h. alles was für uns in "Raum" und "Zeit" ist. Dass wir uns keine Gegenstände ohne Raum und Zeit vorstellen können, liegt nach Kant an unserer Beschränktheit und nicht in den Gegenständen an sich. Ob "Raum" und "Zeit" in den Dingen an sich existieren, können wir nicht wissen.
Verschiedene "Neukantianer" haben inzwischen versucht, den Fragen und Antworten über "Raum" und "Zeit" erneut auf den Grund zu gehen und Kants Lehre weiter zu entwickeln. Lesen Sie mehr über Kants und ihre Erkenntnisse in diesem Buc
Gliederung
A. Einführung – Wie spät war es am Anfang oder Was ist Zeit?
B. Kants transzendentale Ästhetik und ihre Bedeutung für die neuzeitliche
naturwissenschaftliche und philosophischen Zeitinterpretation
I. Zur subjektiven bzw. objektiven Bestimmung der Zeit
1. Der objektive Zeitbegriff und seine Bedeutung für die Naturwissenschaft
2. Der subjektive Zeitbegriff und seine Bedeutung für die Geisteswissenschaften
II. Zur Zeit-Interpretation bei Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft
1. Immanuel Kants Zeit-Interpretation in der Kritik der reinen Vernunft
2. Thesen zur Zeit-Anschauung bei Immanuel Kant
2.1 Die 1. These: Zur Apriorität der Zeit
2.2 Die 2. These: Zur Apriorität und den Vorstellungen der Zeit
2.3 Die 3. These: Zu den Erscheinungen in der Zeit
2.4 Die 4. These: Zeit als reine Form der sinnlichen Anschauung
2.5 Die 5. These: Zur Unendlichkeit der Zeit
3. Zu Inhalt und Methode der Zeit-Interpretation in der Kritik der reinen Vernunft
3.1 1. Interpretationsansatz: Raum-Zeit-Idealismus
3.2 2. Interpretationsansatz: Raum und Zeit als Anschauungsformen
3.3.3 Interpretationsansatz: Raum und Zeit für den Gebrauch der Wissenschaft
3.4 4. Interpretationsansatz: Von der Anthropologie zur Epistemologie
3.5 5. Interpretationsansatz: Kritik der reinen Vernunft als
„Metaphysik von der Metaphysik“
III. Neuzeitlicher Entwurf von Kants Zeit-Interpretation
1. Die Zeit und Kants religionsphilosophische Frage: Was dürfen wir hoffen?
2. Die Zeit als „Freiheit durch Kausalität“ im Umkehrschluß zu I. Kant
3. Die Zeit und ihre „neutrale Dimension“ als „Gebiet des Naturbegriffs“
4. Die Feldtheoretische Transzendentalphilosophie
C. Schlußbetrachtung – Zur Interpretation der Zeit und ihrer rein sinnlichen Anschauung bei Immanuel Kant
D. Anhang
Literaturverzeichnis
Gibt es wirklich die Zeit, die zerstörende?
Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg?
Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehörende,
Wann vergewaltigts der Demiurg?
Sind wir wirklich so ängstlich Zerbrechliche,
wie das Schicksal uns wahr machen will?
Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche,
in den Wurzeln – später – still?
Ach das Gespenst des Verfänglichen,
durch den arglos Empfänglichen
geht es, als wär es ein Rauch.
Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden
Kräften als göttlicher Brauch.
Rainer Maria Rilke
(Duineser Elegien. Die Sonette XXVII an Orpheus)
A. Einführung - Wie spät war es am Anfang oder Was ist Zeit?
Was oder wer treibt die Zeit an, läßt sie entstehen und vergehen, verweilen, fließen oder rasen? Zum zweiten möchte mancher, gar als Betroffener, gern wissen, wen oder was alles die Zeit eigentlich mit ihrem Druck auf Trab und in Bewegung hält, voranpeitscht und eben (an)treibt. Schließlich mag einer auch neugierig erkunden wollen, wie es der Zeit so geht und was sie halt den ganzen Tag treibt. Die kleine Frage, was die Zeit treibe, fragt also nach Subjekt, Objekt und Tätigkeitsinhalt. Zunehmende Zeitsensibilität ist ein Symptom für das Fortschreiten unseres Zivilisationsprozesses. Vieles dreht sich um die Zeit. In Phasen kulturellen Umbruches und Übergangs mag Zeit zum thematischen Kern des Lebensstils werden. Das Fragen nach der Zeit gehört zu den ungelösten Urfragen der Menschen, schlägt Brücken, verbindet Disziplinen und schafft Kontaktstellen zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Kulturen. Es wird sowohl überlegt, was Zeit überhaupt sei, als auch, was wir mit ihr anfangen sollen, wie auch, was die Zeit mit uns anstellt. Antworten auf diese Fragen sind ausschlaggebend für das Verständnis von Natur, Technik, unseres Alltagslebens – des woher, Wohin und Wozu des Menschen. Was ist Zeit? Gibt es sie überhaupt, und wenn, dann seit wann? Wie spät war es Anfang?[1] Was ist Zeit und/oder was ist Ewigkeit?
Nach der Ansicht von Immanuel Kant (1724-1804), dessen transzendentale Elementarlehre der Zeit und ihrer Bedeutung für die neuzeitliche philosophische und naturwissenschaftliche Debatte mit diesem Essay untersucht werden soll, gibt es zwei reine Formen der Erkenntnis apriori – Raum und Zeit. Raum und Zeit seien keine Begriffe des Denkens, sondern haben Anschauungscharakter. Zeit sei kein Begriff, sondern eine notwendige Vorstellung, die der Wahrnehmung zugrunde liegt. Der innere Sinn der Zeit sei hierbei dem äußeren Sinn des Raumes übergeordnet, denn alles Räumliche müsse zeitlich angeschaut werden. Die Zeit ist nichts, hat nur empirische, aber keine absolute Realität und ist lediglich subjektive Bedingung unserer Anschauung.
Die Debatte zur Bestimmung der Zeit, ihrer Struktur, ihrem Verlauf und ihre Beziehung zur Ewigkeit bzw. ihre Bedeutung für Mensch und Natur, als objektiv-physikalische oder subjektiv-psychologische Zeit, hat seit der Antike immer wieder zu Diskussionen und Interpretationen geführt. Im Folgenden sollen nun verschiedene Zeit-Interpretationen mit Hilfe ausgewählter Beispiele aus Wissenschaft (s. B. I.1.) und Philosophie ( bzw. Religion) (s. B. II.2.) beleuchtet werden. (s. B. I.1.) Anschließend soll die Zeit als rein sinnliche Anschauung unter dem Aspekt von metaphysischer und transzendentaler Erörterung aus Sicht der kantischen transzendentalen Elementarlehre analysiert (s. B II.1) und erläutert werden (s. B. II.2 ), um zugleich ihre Bedeutung für die neuzeitliche feldtheoretische Transzendentalphilosophie von Peter Rohs zu veranschaulichen (s. B. III.).
B. Kants transzendentale Ästhetik und ihre Bedeutung für die neuzeitliche naturwissenschaftliche und philosophischen Zeit-Interpretation
Je mehr wir den neuesten Entwicklungssprüngen der Informationsgesellschaft und ihrer Kommunikationstechnologien hinterherhasten, desto dringlicher scheint die Frage nach der Zeit zu werden: als Richtungspfeil, als Maß von Gegenwart, für die Ordnung der Geschlechter, als Waffe im Wettbewerb und vieles andere mehr.
Naturwissenschaftler wie Philosophen haben sich daran gemacht Anfang und Ende, Fortschreiten und Geschwindigkeit der Zeit und ihre Bedeutung für die Menschheitsgeschichte zu ergründen. Dabei ist zu erkennen, daß sich die z.T. unüberwindbaren Gegensätze von Naturwissenschaft, Philosophie und Religion sich in Fragen von Entstehung, Verlauf und Endzeit einander anzunähern scheinen...
I. Zur subjektiven bzw. objektiven Bestimmung der Zeit
Die bereits aus der Antike entstammende Zeit-Debatte, die sich bis heute sowohl in der Philosophie als auch in der Naturwissenschaft immer noch mit die Frage nach Anfang, Verlauf und Ende der Zeit aus objektiver oder subjektiver Zeit-Interpretation beschäftigt, soll veranschaulichen, inwieweit mit den gegenwärtigen Erkenntnissen auch mit und gegen Kants Zeit-Anschauung argumentiert werden kann.
Die Unterscheidung dieser verschiedenen Positionen erfolgt somit mit der Einteilung in eine objektiv-physikalische und eine subjektiv-psychologische Zeit, was zugleich den Übergang von der subjektiven Zeitlichkeit der Person zur Geschichtszeit symbolisiert:
1. Der objektive Zeitbegriff und seine Bedeutung für die Naturwissenschaft
Die Zeit ist als Naturzeit ist sowohl als rhytmischer Wechsel von Jahres- und Tageszeiten als auch als einmaliger Entwicklungsgang im Sinne von Evolution zu verstehen. Man spricht dann von objektiver Zeit. Zu dieser gehört als Grundbedingung das Vergehen. Unter dieser objektiven Auffassung läßt sich Zeit alsdann dreifach bestimmen: 1.
- als Jetzt-Folge,
- als Fluß bzw. Verlauf, und
- als Auslegung, d.h. Zeit als eine „bleibende Einheit im Wechsel“[2] zu interpretieren. Im objektiven Sinn hat J.W. von Goethe den Zeitbegriff in seinem Gedicht „Prometeus“ bereits treffend beschrieben:
„Hat mich nicht zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal
Meine Herren und Deine?“
Der objektiv-physikalische Zeitbegriff ist daher auch eng mit der wissenschaftlichen Forschung nach der Zeit verbunden. Wissenschaftlich gesehen sind Zeit und Raum die grundlegenden Existenzformen der Materie. Umgekehrt ist die Zeit auch stets an Materie gebunden – es gibt keinen an sich seiende, unabhängig von der Materie existierende, absolute Zeit. Denn die physikalische Zeit beginnt mit dem erst mit dem Urknall. Es kann davor eine „Zeit“ gegeben haben oder auch nicht.[3] Die moderne physikalisch-mathematische Theorie der Zeit ist die Relativitätstheorie.
In der Entwicklung der philosophischen Raum- und Zeittheorien widerspiegelt sich ein deutlicher Kampf materialistischer und idealistischer, dialektischer und metaphysischer Tendenzen. Dieser beginnt bereits vor der Zeitauffassung von Aristoteles, mit welcher aber aus Platzgründen hier begonnen werden soll.
Aristoteles` (384-322 v. Chr.) Zeitauffassung beinhaltet sowohl Bewegung als auch Veränderung. Denn die „Zeit ist die Zahl der Bewegung gemäß dem Früher und Später.“[4] Die Zeitdauer wird als „Äon“ bezeichnet und kommt jedem einzelnen Ding, nicht nur dem Menschen, zu. Sie ist sie zugleich ewig. Raum und Zeit und ihre Veränderungen hingegen bleiben an die Gegebenheiten dieser Welt gebunden.[5] Isaac Newton indessen glaubte an eine absolute Zeit, daß bedeutete, daß das Zeitintervall zwischen zwei Ereignissen eindeutig zu bestimmen wäre und die Zeit dabei immer die gleiche bliebe, ohne Beziehung zu einem „äußeren Gegenstand“.[6] Nach dieser Auffassung ist Zeit aber auch getrennt und unabhängig vom Raum. Die Zeitabfolge existiert objektiv, die Zeit selbst ist eine abstrakt gleichförmige und ungerichtete Zeit. Die Augenblicke dieser absoluten Zeit sind als Punkte auf einer geometrischen Geraden festgelegt.[7] In seinen „Mathematischen Prinzipien der Naturlehre“ von 1686 schreibt er: „Die absolute, wahre Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äußeren Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen Dauer belegt.“[8] Leibnitz hingegen sieht die Zeit nicht als eine absolute Größe, sondern er sieht sie, wie den Raum, als etwas Relatives an. Zeit ist lediglich eine Ordnung von Phänomenen. Die Materie ist dem Raum und der Zeit vorangestellt.[9]
Mit der neueren Naturwissenschaft und der Messung des Lichts konnte die absolute Zeitauffassung von Newton überwunden werden. Von Ole Christensen Romer ( 1676) und James Clerk Maxwell (1865) wurde entdeckt, daß Licht sich mit endlicher, hoher Geschwindigkeit (224000 km/s - heute jedoch mit 300000 km/s) bewegt. Nun mußte man noch angeben in bezug worauf diese Geschwindigkeit zu messen sei. Man kreierte eine Idee des „Äther“, eine allgegenwärtige Substanz - auch im leeren Raum - zu welchem die Geschwindigkeit der Lichtwellen relativ sei. Zwischen 1887 und 1905 wurden Versuche unternommen zu erklären, daß sich Gegensände zusammenziehen und Uhren langsamer gehen, wenn sie sich durch diesen „Äther“ bewegen.
Doch 1905 zeigte Albert Einstein mit seiner „Relativitätstheorie“, daß die Vorstellung des „Äther“ überflüssig sei, wenn man die Vorstellung von der absoluten Zeit aufgäbe, da die Naturgesetze für alle bewegten Beobachter unabhängig von ihrer Geschwindigkeit gleich sein müßten. Dies bedeutete eine wichtige Konsequenz für die Vorstellung von Raum und der (absoluten) Zeit. Jeder Beobachter hat demnach sein eigenes Zeitmaß. Alle Zeiten sind vorhanden. Die Zeit erstreckt sich als Pfeil nach vorn und hinten und es gibt mindestens drei verschiedene Zeit-Richtungem:
- den thermodynamischen Zeitpfeil, die Richtung der Zeit, in der die Unordnung zunimmt;
- den psychologischen Zeitpfeil, die Richtung, in der unserem Gefühl nach die Zeit fortschreitet und in der wir die Vergangenheit erinnern;
- und den kosmologischen Zeitpfeil, die Richtung der Zeit, in der sich das Universum ausdehnt und nicht zusammenzieht.
Somit kann der Zeitpfeil in seiner Irreversibilität subjektivisch, als auch objektivisch verstanden werden. Außerdem wird - am Beispiel der Lichtsekunde als Längeneinheit (Entfernung, die das Lichts in einer Sekunde zurücklegt = 0,000000003335640952 sek. = 1m) deutlich, daß Zeit nicht völlig losgelöst und unabhängig vom Raum existiert, sondern sich mit ihm zu einer Einheit verbindet – der vierdimensionalen Raumzeit. In Anbetracht, daß die Lichtstrahlen in der Raumzeit „geodätischen Linien“ (d.h. trotz Krümmung durch Gravitation beste Annäherung an eine geradlinige Bahn) folge, müßte die Zeit in der Nähe eines massereichen Körpers wie der Erde langsamer verstreichen, da sich das Licht im Gravitationsfeld der Erde aufwärts bewegt und an Energie und damit auch an seiner Frequenz (Anzahl von Lichtwellen pro Sekunde.) verliert (vgl. Abb. 2).[10] Raum und Zeit versteht Einstein im Sinne von Aristoteles als Distanz zwischen den Körpern und nicht mehr im Sinne Newtons (s.o.), der den Raum als einen Behälter empfand, in welchem die Zeit zu messen ist. Daher ist heute nach Einsteins Theorien der Begriff einer bloßen objektiven, absoluten Zeit nicht mehr anwendbar.
Jewgenij Lifshitz und Isaak Chalatnikow versuchten 1963 einen anderen Ansatz, indem sie die unendliche Vergangenheit zur unendlichen Zukunft verbinden wollten. Sie meinten, daß es vor der Expansionsphase des Universums eine Kontraktionsphase gegeben habe, in der die Materie zusammenstürtzte und fast mit sich selbst kollidierte. Diese Phasen würden sich bedingen und seien in einen unendlichen Wechsel inbegriffen. Gegenwärtig befänden wir uns demnach in einer Expansionsphase, die uns unweigerlich wieder auf einen Zusammenfall zu bewege .
Bis zum Jahre 1964 galt außerdem die symetrische Form der Zeitumkehrbarkeit. Doch dann fanden Physiker der Princeton Universität heraus, daß bestimmte Teilchen die Zeitsymetrie verletzen und sich demnach asymetrisch verhalten. Von einer möglichen Zeitumkehr für die Interpretation der Zeit ließe sich folglich auch nicht mehr sprechen.[11] Stephen Hawking und Roger Penrose wählten einen anderen Ansatz. Sie gingen nicht von Lösungen aus, sondern von der globalen Struktur der Raumzeit, die durch massebehaftete Objekte und ihre eigene Energie gekrümmt wird und dabei die Bahnen der Lichtstrahlen aufeinander zu biegt (vgl. Abb.) Mit Hilfe der „Singularitätstheoremen“ (Singularitäten, die auftreten müssen m nfang oder Ende des Universums) bewiesen sie, daß die klassische Raumzeitregion in Vergangenheit und Zukunft durch Regionen begrenzt wird, in denen die Quantengravitaion (d.h. Theorie, die Quantenmechanik in Vereinigung mit der Relativitätstheorie) zum Tragen kommt. Danach hat die Zeit im sogenannten Urknall ihren Anfang und im Zusammensturz der Sterne und Galaxien durch ihre eigene Schwerkraft zu Schwarzen Löchern ein Ende[12]. Hawking konnte somit zugleich die Antinomie der reinen Vernunft Kants umgehen, indem er die Annahme aufgab, die Zeit habe eine vom Universum unabhängige Bedeutung.[13] Vielmehr wird der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft aus der kosmischen Perspektive herausgelöst, denn „Die Naturgesetze unterscheiden nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft.“
Die mathematisch-physikalische Zeit besitzt folglich Eigenschaften wie Stetigkeit und Irreversibilität. Anders verhält es sich dagegen mit der vom Menschen persönlich bewerteten Zeit. Das Leben läuft in der Wahrnehmung des Menschen nicht rückwärts, sondern ist eine meßbare mechanisch zerrinnende Uhrzeit, die von der Geburt her auf das Ende zuführt. Zur personalen Einschätzung der Zeit kommen somit noch andere Elemente hinzu, wie beispielsweise ihre soziale Beziehung, der Produktionsfaktor, als Wettbewerbsfaktor, Arbeitszeit, Probleme des Zeitdrucks und auch die Freizeit ... , die eine subjektive Komponente notwendig erscheinen lassen.
2. Der subjektive Zeitbegriff und seine Bedeutung für die Geisteswissenschaften
Der subjektive Zeitbegriff wird geprägt durch das Empfinden von Zeit, das sich in unterschiedlicher Form zeigt. Dabei spielt der Inhalt der Zeit und nicht ihr Ablauf eine wesentliche Roll, das, was das Wesen der Zeit ausmacht. Der Mensch nutzt seine Zeit und füllt sie mehr oder weniger intensiv aus. Dabei läßt sich eine verfehlte oder verlorene Zeit nicht zurückholen. Darum ist nicht die Zeit als solche bedrängend, sondern das, was der Mensch mit ihr macht, wie er sie füllt. Die subjektive Zeit steht unter einem psychologischen Aspekt. Der Mensch erfährt seine Zeit aus der ihm als Kreatur mitgegebenen Zeitlichkeit, „die sein Sein als ein Hervorstehen aus dem Nichtsein definiert“. Vergangenheit und Zukunft zeigen dort, wo sie sich schneiden, also in der Gegenwart, die Zeitlichkeit des Menschen auf.[14]
Heute wird den Elementarteilen bereits eine „Eigenzeit“ zugebilligt; „Eigenzeit ist die Zeit, die in einem Ruhesystem einer Körpers gemessen wird. Physikalische Systeme und auch Lebewesen besitzen eine solche Eigenzeit. Diese wird durch Physiologie, Alter, Ernährung oder Sozialkontakte bestimmt.“[15] „Eine Kommunikation zwischen den Lebewesen ist aber nur dann möglich, „wenn die unterschiedlichen individuellen Eigenzeiten über eine intersubjektiv identifizierbare und nachprüfbare Skala synchronisiert werden. Eine Synchronisation bedeutet dabei, daß einem Ereignis mit unterschiedlichen Eigenzeiten ein Zeitpunkt auf der intersubjektiven Skala zugeordnet werden kann. “[16] Mit dieser Zubilligung einer „Eigenzeit“ eröffnen sich somit auch neue Möglichkeiten für die philosophische und theologische Interpretation.
Aurelius Augustinus (354–430 n. Chr.) gilt als der erste Theologe, der Zeit und Ewigkeit in seinen „Bekenntnissen“ systematisch erörterte und vom Menschen aus dachte. Nach seiner Lehre ist die Zeit auf die Frage ausgerichtet: Wer ist der Mensch? Wozu dient des Menschen Zeit?[17] Entgegen Aristoteles bezog er die Zeit auf das Individuum. Zeit ist die Grundstruktur der Endlichkeit und ihre Hinfälligkeit und nicht ewig. Die Zeit ist mit der Welt entstanden und eine Eigenschaft der von Gott geschaffenen Welt. Daß es keine Zeit vor dem Schöpfer gab, sondern nur Gottes Ewigkeit ist auch später die Ansicht von Karl Barth. Die Zeit ist für ihn im Unterschied zur Ewigkeit ein Zeitfluß des Seienden von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinein, während Augustinus von der Zukunft in die Vergangenheit (rückwärts) geht. Erst die gleichzeitige Erfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt somit die Wirklichkeit dar.[18] Dem Grundgedanken der „Zeitmodi“ und des Vorlaufs auf den antipizierten Tod ist hingegen Heidegger gefolgt (s.u.).[19]
[...]
[1] Kurt Weis, Was treibt die Zeit? München, 1998, S. 8
[2] Rolf Kramer - Phänomen Zeit, Berlin, 2000, S. 19
[3] Henning Genz – Wie die Zeit in die Welt kam, München, Wien, 1996, S. 30 f.
[4] Aristoteles: Physikvorlesung. Übersetzt von H. Wagner, Darmstadt, 1967, Buch 4, Kap. 11, 219b1f., 220a24f., S. 113 ff.
[5] Samuel Sambursky – Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich, Stuttgart, 1965, S. 68 ff.
[6] Peter Mittelstaedt – Über die Bedeutung und Begründung der speziellen Relativitätstheorie, in: Philosophie und Physik der Raum-Zeit, Mannheim, Wien, 1988, S. 84
[7] Bernd Bievert/Martin Held – Zeit in der Ökonomik, Frankfurt u.a., 1995, S. 24
[8] vgl. Peter Mittelstaed – Der Zeitbegriff in der Physik, Heidelberg u.a., 1996, S. 15
[9] vgl. Rolf Kramer – Phänomen Zeit, Berlin, 2000, S. 72
[10] Stephen Hawking - Kurze Geschichte der Zeit, Hamburg, 2001, S. 28 ff.
[11] Martin Gardner – Kann die Zeit rückwärts gehen? in: Peter C. Aichelburg, Zeit im Wandel der Zeit, Braunschweig, Wiesbaden, 1988, S. 208 ff.
[12] Stephen Hawking - Das Universum in der Nußschale, Hamburg, 2001, S. 49
[13] Stephen Hawking - Das Universum in der Nußschale, Hamburg, 2001, S. 49
[14] Rolf Kramer – Phänomen Zeit, Berlin, 2000, S. 20
[15] Rolf Kramer – Phänomen Zeit, Berlin, 2000, S. 110
[16] Gernot Eder – Physikalische Aspekte von Eigenzeit und Synchronisation, in: Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein, Zeit und Wahrheit, Wien, 1994, S. 93
[17] Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XXI Buch der Confessiones. Frankfurt, 1993, S.251
[18] Rolf Kramer – Phänomen Zeit, Berlin, 2000, S. 35
[19] Hans Michael Baumgartner – Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, München, 1994, S. 198