Da in der wissenschaftlichen Forschung dem Aspekt der Transformation von Medienlandschaften bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, versucht diese Arbeit, eine Lücke zu schließen. Dafür
wurde explizit die "Junge Welt" ausgewählt, da sich diese einst von der auflagenstärksten Tageszeitung in der Deutschen Demokratischen Republik – noch vor dem "Neuen Deutschland" – als Zentralorgan der FDJ hin zu einer marginalisierten linksextremistischen Tageszeitung im vereinten Deutschland entwickelte und somit als idealtypisches Beispiel eine große Aussagekraft für die Transformationsforschung
besitzt. Kernbestandteile dieser Arbeit bilden eine Untersuchung, Analyse, Bewertung und Einordnung der Entwicklungen und der Hintergründe des Transformationsprozesses der einst größten ostdeutschen Tageszeitung. Dabei wird die Transformation in den historischen Rahmen der kollabierenden DDR mit Fokus auf die Jahre 1989 und 1990 eingebettet und auf vier differenten Ebenen - ökonomisch, personell, institutionell und inhaltlich - betrachtet. Besondere Berücksichtigung auf der inhaltlichen Ebene findet hierbei der Zeitraum des demokratischen Umsturzes im Rahmen der friedlichen Revolution, wobei auch die Zeiträume zuvor – um mittels chronologischer Abfolge die Geschehnisse verständlicher
erscheinen zu lassen – in Form eines geschichtlichen Abrisses seit der Gründung der "Jungen Welt" näher betrachtet werden. Um eine aktuelle Würdigung der inhaltlichen Ebene der Zeitung vornehmen zu können, wird zum Ende hin der Zeitrahmen von 1989 und 1990 verlassen, um Vergleichsaspekte zu schaffen, die dazu dienen, die Entwicklung des Transformationsprozesses der "Jungen Welt" zum heutigen Tag besser einschätzen zu können.
Inhaltsverzeichnis
A) Abbildungsverzeichnis
B) Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Untersuchungsgegenstand
1.2 Problemstellung
1.3 Forschungsstand
1.4 Aufbau
1.5 Methodik
2. Begriffserklärungen
2.1 Medien/Presse
2.2 System/Systemwechsel, -wandel, -transformation
3. Die Printmedien im Wandel: Neue rechtliche Rahmenbedingungen als legislative Grundlage des Transformationsprozesses
4. Die „Junge Welt“: Vom Zentralorgan der FDJ zur linksextremistischen Tageszeitung
4.1 Die wechselvolle Geschichte einer Zeitung
4.2 Die „Junge Welt“ im Transformationsprozess
4.2.1 Ökonomische Ebene
4.2.2 Personelle Ebene
4.2.3 Institutionelle Ebene
4.2.4 Inhaltliche Ebene
5. Einordnung und Bewertung der Transformation der „Jungen Welt“
6. Schlussbetrachtung
6.1 Zusammenfassung
6.2 Ausblick
7. Bibliographie
7.1 Druckwerke
7.2 Internetquellen
7.3 Tageszeitungen
7.4 Sonstiges
A) Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der Auflagenstärke am Beispiel ausgewählter Zeiträume (eigene Anfertigung)
Abbildung 2: Entwicklung der Abonnentenzahlen am Beispiel ausgewählter Zeiträume (eigene Anfertigung)
Abbildung 3: Auflistung aller bisherigen Chefredakteure der „Jungen Welt“ (eigene Anfertigung)
Abbildung 4: Auflistung des aktuellen Redaktionsteams der „Jungen Welt“ (eigene Anfertigung, Stand: 17. Juli 2012)
B) Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
1.1 Untersuchungsgegenstand
Als die Menschen zur ersten Großdemonstration am 7. Oktober 1989 im vogtländischen Plauen gegen die Staatsmacht der DDR öffentlich aufbegehrten, waren sich viele der De- monstranten den anstehenden Umbrüchen, Umwälzungen und Zäsuren, die kurze Zeit später das gesellschaftliche Leben der Menschen auf Jahrzehnte bestimmen sollten, nicht bewusst. Einige dieser einschneidenden Veränderungen vollzogen sich auch im Bereich der Medien- landschaft der DDR: Neben Fernsehen und Rundfunk war vor allem das Ressort der Printme- dien, dem in der SED-Diktatur eine bedeutende ideologische Rolle zugeschrieben worden war, im besonderen Maße von den anstehenden - für diesen Wirtschaftszweig schmerzhaften - Transformationen betroffen. Dabei ist es erstaunlich, dass in der politikwissenschaftlichen Forschung diese Thematik bisher nur marginal behandelt und beschrieben worden ist1, wie ein Blick auf den Forschungsstand im weiteren Verlauf dieses Oberkapitels verrät. Zu diesem Entschluss kamen auch Barbara Thomaß und Michaela Tzankoff2: „ Die Rolle der Medien ist in der deutschsprachigen Literatur bislang nicht untersucht worden, weder von der Politik- wissenschaft noch von der Kommunikationswissenschaft. “ Es scheint, als wird diesem Be- reich innerhalb eines Transformationsprozesses keinerlei Bedeutung beigemessen. Dabei wa- ren es die Printmedien, allen voran die in der DDR bald zur auflagenstärkste Zeitung avancie- rende „Junge Welt“, die eine führende Rolle im „ Kampf für die Durchsetzung und Verwirkli- chung der Grundrechte [...], der Verteidigung der Einheit der Jugend und der Herstellung der Einheit Deutschlands “3 übernahmen, wie es Erich Honecker in einem Grußwort zur Erstauf- lage vom 12. Februar 1947 der zu Beginn als FDJ-Wochenzeitung veröffentlichten „Jungen Welt“ verstand.
Als Superlative kann dabei wahrlich die Auflage von zeitweise täglich 1,6 Millionen Exemplaren Ende der 1980er Jahre bezeichnet werden. Dabei war die „Junge Welt“ nur eine unter mehr als 40 Tageszeitungen, die auf dem Gebiet der DDR erschienen sind. Bei einer Einwohnerzahl von einst rund 17 Millionen Menschen stellt die „Junge Welt“ somit einen bedeutsamen Multiplikator für die Ideologie, Propaganda und Agitation der sozialistischen Weltanschauungen der FDJ und SED dar. Der Zusammenbruch der DDR sowie anderer Staa- ten in Mittelosteuropa leitete die erste Phase der politischen Transformation ein, die auch die Medienwelten erfasste und die Wandlung derer beschleunigte. Zur Etablierung einer demokratischen Gesellschaft ist der Aufbau von unabhängig agierenden Massenmedien von substantieller Bedeutung.4 Nicht umsonst wird der Medienlandschaft die Stellung als „vierte Macht“ in einem demokratischen Gefüge beigemessen.
Die „Junge Welt“ stellt, wenngleich die Leserschaft heute marginal geworden und die Auflage drastisch eingebrochen ist, ein idealtypisches Beispiel für eine solche Transformation im Bereich der Printmedien dar. Einst als Zentralorgan der FDJ fungierend und die Presse- freiheit geißelnd, beruhen sich die Autoren in der Redaktion heute auf genau diesen Passus, um ihren Positionen Ausdruck zu verleihen. Dabei muss die „Junge Welt“ als ein printmedia- les Erzeugnis des linksextremistischen Spektrums eingeordnet werden, denn das Bundesmi- nisterium des Inneren5 charakterisiert die „ traditionskommunistische “ Plattform „Junge Welt“ auch als ein „ bedeutendes Printmedium im linksextremistischen Bereich “, wie es aus den letztjährigen Verfassungsschutzberichten zu entnehmen ist. Insgesamt zählte das Bundesmi- nisterium des Inneren im Jahre 2010 mehr als 20 Verlage und Vertriebsdienste, die Zeitschrif- ten, Zeitungen und andere Publikationen mit „ zumindest teilweise “ linksextremistischen In- halten veröffentlichen, wobei die „Junge Welt“ jedoch als einziger Vertreter aus diesem Be- reich seit Jahren genauer unter die Lupe genommen wird.
1.2 Problemstellung
Da in der wissenschaftlichen Forschung diesem Aspekt der Transformation bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, versucht diese Arbeit, eine Lücke zu schließen. Dafür wurde explizit die „Junge Welt“ ausgewählt, da diese sich einst von der auflagenstärksten Tageszeitung der DDR - noch vor dem „Neuen Deutschland“ - als Zentralorgan der FDJ hin zu einer marginalisierten linksextremistischen Tageszeitung im vereinten Deutschland entwi- ckelte und somit als idealtypisches Beispiel eine große Aussagekraft für die Transformations- forschung besitzt. Kernbestandteile bilden eine Untersuchung, Analyse, Bewertung und Ein- ordnung der Entwicklungen und der Hintergründe des Transformationsprozesses der einst größten ostdeutschen Tageszeitung. Dabei wird die Transformation in den historischen Rah- men der kollabierenden DDR mit Fokus auf die Jahre 1989 und 1990 eingebettet und auf vier Ebenen betrachtet. Besondere Berücksichtigung auf der inhaltlichen Ebene findet hierbei der Zeitraum des demokratischen Umsturzes im Rahmen der friedlichen Revolution, wobei auch die Zeiträume zuvor - um mittels chronologischer Abfolge die Geschehnisse verständlicher erscheinen zu lassen - in Form eines geschichtlichen Abrisses seit der Gründung der „Jungen Welt“ näher betrachtet werden. Um eine aktuelle Würdigung der inhaltlichen Ebene der Zeitung vornehmen zu können, wird zum Ende hin der Zeitrahmen von 1989 und 1990 verlassen, um Vergleichsaspekte zu schaffen, die dazu dienen, die Entwicklung des Transformationsprozesses der „Jungen Welt“ zum heutigen Tag besser einschätzen zu können.
Realisiert wurde diese Arbeit durch eine umfangreiche Quellen-, Literatur- und Internetrecherche, belegt anhand zahlreicher Zitate. Die zentrale Fragestellung dieser BachelorArbeit lautet: Wie und in welcher Form wandelte sich die „Junge Welt“ auf ökonomischer, personeller, institutioneller und inhaltlicher Ebene? Dabei kristallisiert sich folgende Unterfrage heraus: Welche Rolle spielten die äußeren Rahmenbedingungen der Transformation für Kontinuität und Wandel der „Jungen Welt“?
1.3 Forschungsstand
Die Geschichte der Transformationsforschung ist noch sehr jung. Erste Arbeiten wurden im Zuge der dritten Demokratisierungswelle6 Anfang der 1970er Jahre7 herausgegeben. Trotz der vergleichbar jungen Tradition des Forschungsschwerpunktes ist dieser wissenschaftliche Be- reich innerhalb des politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes politischer Systeme und Insti- tutionen fest verankert. Die zunächst auf den makrosoziologisch-strukturalistischen Theorien der Sozialwissenschaft nach Talcott Parson (1951, 1969), Seymour Martin Lipset (1959) und Samuel Huntington (1969) ausgerichtete Transformationsforschung wandelte sich während den 1980er Jahren zu mikrosoziologisch-akteurstheoretischen Betrachtungen nach den Theo- rien von Adam Przeworski (1986, 1991, 1992), Guiseppe Di Palmas (1990) und Samuel Hun- tington (1991). Die theoriegeleitete Diskussion der Systemwechselforschung in Deutschland, die sich maßgeblich konzeptionelle Ansätze zu eigen gemacht hat, beruht vordergründig auf den Errungenschaften Wolfgang Merkels8. Als wegweisende Persönlichkeiten müssen eben- falls Klaus von Beyme9, Manfred G. Schmidt10 und Eckhard Jesse11 genannt werden. Beyme ordnete die Umbrüche in Mittelosteuropa einer neuen vierten Welle zu, Schmidt ging insbe- sondere auf den Demokratiebegriff ein, während Jesse rückblickend alle deutschen System- wechsel einer Analyse und Einordnung unterzog. Ein erstaunlicher und interessanter Aspekt hierbei ist, dass sich im Bereich der Politikwissenschaft kaum mit der Verquickung und Inter- dependenz der Transformationen von (Print-)Medienlandschaften beschäftigt worden ist. Während es - vor allem in der Kommunikations-12, Sozial-13 und Geschichtswissenschaft14 - Analysen und Studien über Rundfunk, Fernsehen und Presse in der DDR gibt, blieb eine in- tensive Forschung in der Politikwissenschaft aus. Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit der deskriptiv-chronologischen Sphäre des Untersuchungsgegenstandes - häufig in Form von „Oral History“, in der Kommunikationswissenschaft überwiegen sprachwissenschaftlich- analytische Werke, die sich intensiv und im Besonderen mit dem „Neuen Deutschland“ und der „Jungen Welt“ auseinandersetzen. Die Sozialwissenschaften ähneln sich in ihrer Herange- hensweise politikwissenschaftlichen Arbeitsweisen. Als englischsprachiger Vertreter der Transformationsforschung von Medien im Allgemeinen ist John Downing15 der Politikwis- senschaft zuzuordnen. Aus der praktischen Forschung sind die beiden Institute „Bertelsmann Stiftung“16 und „Freedom House“17 nicht mehr wegzudenken, die sich auf die quantitative Messung und qualitative Bewertung des Standes der Transformation und Demokratie in aus- gewählten Ländern spezialisiert haben. Beide Organisationen entwickelten auch zuverlässige und transparente Parameter für die Messung der Pressefreiheit in den Transformationsstaaten.
Um eine Lücke im Forschungsstand der Politikwissenschaft zu schließen, knüpft diese Arbeit mit der Untersuchung der Transformation der Tageszeitung „Junge Welt“ an die Sys- temwechselforschung in Deutschland an. Eine wichtige Basis dafür bildete ein Werk Arne Kapitzas18. In seiner kommunikationswissenschaftlichen Publikation „Transformation der ostdeutschen Presse“, so der Haupttitel, arbeitete er nicht nur die Geschichte des Untersu- chungsgegenstandes auf, sondern rekonstruierte auch die Transformation der Zeitung von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft; beide Aspekte flossen in den hier dargestellten Transformationsprozess in erheblichem Maße ein. Des Weiteren beschäftigte er sich mit den institutionellen Veränderungen der medialen Gesetzgebung der DDR, welches die Grundlage für ein Kapitel dieser Arbeit darstellt. Ebenfalls von essentieller Bedeutung ist ein Aufsatz von Norman Bock19, der in einem Zeitschriftenporträt über die „Junge Welt“ weitere histori- sche Abrisse darlegt sowie eine kurze inhaltliche Verortung der „Jungen Welt“ vornimmt. Auch unternimmt er darin eine Würdigung der redaktionellen Mitarbeiterschaft und gibt einen Ausblick. Seine Aufarbeitungen waren Ideen stiftend für die Konzeption dieser Arbeit und wurden im Besonderen auf der historischen sowie redaktionellen Ebene verarbeitet. Für einen generellen Überblick über den Zusammenhang von Medien und Transformation ist ein Werk von Barbara Thomaß und Michaela Tzankoff20 herangezogen worden, um zu einem besseren Verständnis der Verflechtungen von Systemwechsel und Presse zu gelangen. In diesem geben die Autorinnen einen Überblick über die deutsche Transformationsforschung nach 1989, ehe der Wandel der Medienlandschaft in ausgewählten Staaten Mittelosteuropas untersucht wur- de. Zuvor schließen sich Überlegungen zur Rolle der Medien in Transformationsgesellschaf- ten auf Basis der Kommunikationswissenschaften an.
1.4 Aufbau
Um eine Analyse und Bewertung des Transformationsprozesses der „Jungen Welt“ vornehmen zu können, müssen eingangs die wesentlichen politikwissenschaftlichen Terminologien, die im Fokus der Betrachtung stehen, spezifiziert, eingegrenzt und letztendlich definiert werden. Für die Beibehaltung einer gewissen Kohärenz wartet diese Arbeit mit einer in erster Linie chronologischen und in zweiter Instanz inhaltlichen Abhandlung der zu untersuchenden Gegenstände auf. Dazwischen werden die Kapitel immer wieder durch statistische Erhebungen und Zusatzinformationen ergänzt.
Der Einstieg in das Thema erfolgt im Kapitel 3, in dem der Fokus auf die neuen recht- lichen Rahmenbedingungen als legislative Grundlage des Transformationsprozesses während des Kollapses der DDR 1989/1990 gelegt wird, von dem der weitere Verlauf der Wandlung der Medienlandschaft determiniert wurde. Daran schließt sich das mit Abstand umfangreichs- te Kapitel der Arbeit an, in dem zunächst ein historischer Abriss über die geschichtliche Ent- wicklung der „Jungen Welt“ von ihrer Gründung im Jahre 1947 bis zur Gegenwart präsentiert wird, ehe der Transformationsprozess unter Berücksichtigung vier differenter Ebenen analy- siert wird. Die ausgewählten Eben sind: a) die ökonomische Ebene, b) die personelle Ebene, c) die institutionelle Ebene sowie d) die inhaltliche Ebene. Auf der ökonomischen Ebene wer- den vordergründig die finanziellen und wirtschaftlichen Aspekte herangezogen, die die Um- firmierungen des Verlages mit sich führten. Die personelle Ebene beschäftigt sich allein mit den in der Redaktion tätig gewesenen bzw. immer noch tätigen Kadern und deren höchst inte- ressanten Biographien. Auf der institutionellen Ebene wird näher auf die Rolle des Verfas- sungsschutzes und die Positionierung der „Jungen Welt“ als linksextremistisches Medium eingegangen, das demokratischen Verfahren abgeschworen hat. Dieses Teilkapitel ist als ein bedeutender Bestandteil zur Generierung eines aussagekräftigeren Gesamtbildes der Trans- formation der Zeitung notwendig. Die letzte Ebene ist zugleich die umfangreichste: Mit einer stichprobenartigen Inhaltsanalyse zweier ausgewählter Jahrgänge und einem damit gezogenen Vergleich zur gegenwärtigen Positionierung der Zeitung wurde das größte Element, welches es zu untersuchen galt, innerhalb einer eigenen Methodik, die später in dieser Einleitung ge- nauer dargelegt wird, bearbeitet. Dies wurde durch ein journalistisches Telefoninterview mit einem langjährigen Mitarbeiter der „Jungen Welt“ ergänzt.
Der letzte Teil beschäftigt sich dann im Punkt 5 mit der Bewertung des Transformationsprozesses der Tageszeitung „Junge Welt“. Eine Schlussbetrachtung, in der einerseits die behandelte Thematik zusammengefasst und andererseits ein kurzer Ausblick über künftige Entwicklung der „Jungen Welt“ gegeben wird, schließt sich dem an.
Direkte Zitate und originalgetreu wiedergegebene Textpassagen aus Primär- und Se- kundärliteratur sowie aus Interviews sind im Text kursiv und in Anführungszeichen darge- stellt, um diese besonders hervorzuheben. Dies dient zur Erleichterung des Leseflusses. Nichtkursiv in Anführungszeichen gesetzte Worte, Wortgruppen und Satzteile sind entweder umgangssprachliche Terminologien oder Textpassagen, von denen sich der Autor bewusst distanzieren möchte.
1.5 Methodik
Die Darlegung des Prozesses der Transformation der „Jungen Welt“ besteht aus mehreren Elementen. Zunächst einmal werden die äußeren Rahmenbedingungen der sich veränderten legislativen Rechtsnormen dargelegt, ehe ein deskriptives Exzerpt der Geschichte der Tages- zeitung folgt. Daran schließt sich dann die für die Beantwortung der Fragestellung eigentliche Methodik an: Der Transformationsprozess wird anhand mehrere Ebenen deskriptiv und analy- tisch aufgezeigt. Die eingesetzte Methodik greift dann im Punkt 4.2.4 („Inhaltliche Ebene“) aktiv in das Geschehen ein. Konkret soll hier ein möglicher inhaltlicher Wandel anhand der Positionen der „Jungen Welt“ zu bestimmten Themen dargelegt werden. Diese Themen wur- den in drei - für die „Junge Welt“ - idealtypische Kategorien unterteilt: Die Fragestellung in diesem Kapitel lautet: Welche Einstellung vertritt die „Junge Welt“ in Bezug auf die Ober- themen a) Bundesrepublik Deutschland, b) friedliche Revolution und c) Deutsche Demokrati- sche Republik heute und welche Position vertrat die „Junge Welt“ vor der Deutschen Einheit zu diesen Themen? Um diese Fragestellung in der Kategorie entsprechend beantworten zu können, wurden zwei verschiedene Herangehensweisen ausgewählt. Eine der Methoden be- zieht sich auf ein journalistisches Interview in Form eines Sachverhaltinterviews21 mit dem langjährigen Redaktionsmitglied der „Jungen Welt“, Peter Rau, der die Entwicklung der Posi- tionen dieser Tageszeitung rekonstruiert. Um einen Vergleichsaspekt zu generieren, wurde des Weiteren auf die so genannte qualitative Inhaltsanalyse22 nach Philipp Mayring zurückge- griffen. Konkret entschied sich der Verfasser dieser Arbeit für die vorbereitende Interpretation der Hermeneutik als Methode der Textanalyse. Anhand dieser beiden Vorgehensweisen soll ein Bild projiziert werden, welches im Stande ist, die differenten inhaltlichen Prozesse im Laufe der Transformation der Tageszeitung zu konstruieren und zugleich dem Umfang einer Bachelor-Arbeit gerecht wird. Bei der vorbereitenden Interpretation stehen insbesondere fol- gende Voraussetzungen im Mittelpunkt: 1. Der Interpretierende muss einen authentischen Text bearbeiten, 2. Der Interpretierende muss über ein gewisses Maß an persönlichem Vor- verständnis für die zu behandelnde Thematik verfügen, 3. Der Interpretierende muss eine kon- krete Fragestellung vorweisen können. Das Ziel dieser Methode besteht in der Feststellung einer Kernaussage einerseits durch aktives Lesen des authentischen Materials und andererseits durch Hinweise eines Dritten, in diesem Falle in Person von Peter Rau. Die Auswahl des Ma- terials für die vorbereitende Interpretation erfolgt mittels Stichproben, die der temporären Beschränkung des Titels gerecht werden. Zur Eingrenzung des relevanten Zeitraumes der Untersuchung orientierte sich der Verfasser an zwei für die „Junge Welt“ richtungsweisenden Schlüsselereignissen: Das Jahr des Beginns der Protestbewegungen in der DDR 1989 und das Jahr des Überganges beider deutscher Staaten zu einem vereinigten Deutschland im Jahre 1990. Untersucht wird demnach die Entwicklung der Positionen der „Jungen Welt“ mit Fokus auf die Jahre 1989 und 1990. Hierbei werden die Ausgaben jeweils am 5., 10., 15., 20., 25. und 30. Tag aller ungeraden Monate als Grundlage einer Analyse aus den oben genannten Jahrgängen herangezogen. Zusätzlich werden zur Feststellung der Position der Zeitung ge- genüber der friedlichen Revolution alle Ausgaben des Monats Oktober 1989 analysiert. Die Gesamtgröße der Stichproben beträgt 98 eingesehene Zeitungen. Die aus dieser Auswahl ge- wonnenen Erkenntnisse werden mit der aktuellen Position der „Jungen Welt“ mittels des journalistischen Interviews und einer Analyse des Standpunktes der Zeitung aus den Jahrgän- gen 2011 und 2012 verglichen, um den aktuellen Stand der Transformation einschätzen und bewerten zu können. Beide Methodiken zusammen eignen sich in besonderer Art und Weise, um Kontinuität und Wandel der Inhalte eines printmedialen Erzeugnisses sachgerecht bear- beiten und wiedergeben zu können, da alle notwendigen Voraussetzung, die für eine Bearbei- tung der Problemstellung sprechen, erfüllt sind.
2. Begriffserklärungen
2.1 Medien/Presse
Die Online-Enzyklopädie des „Brockhauses“ definiert den Begriffes Medien ganz allgemein als eine „ Sammelbezeichnung für alle technischen Mittel zur Verbreitung von Informationen, d. h. für Kommunikationsmittel (z. B. Zeitung, Zeitschrift, Buch, Plakat, H ö rfunk, Fernsehen, Film, Internet) “23. Wie Norman Bock in seinem Beitrag erklärt, bestand „ nach dem Ver ständnis der Funktionäre [der Abteilung Agitation des Zentralkomitees der SED sowie des Presseamtes; Anm. d. Verf.] die primäre Aufgabe der Medien darin, politischeüberzeu gungsarbeit zu leisten “24. Demnach hat sich eine Redaktion im tradiert-kommunistischen Weltbild an eben diese Anweisung der beiden Institutionen zu binden, um „ das Wort der Partei kritiklos in die Massen “25 zu tragen. Zugleich werden die Medien in dieser Gesellschaftsform als „ bedeutendes politisches Führungsinstrument “ angesehen, welches „ü ber ein nicht zu unterschätzendes Mobilisierungspotential “26 verfügt.
Die Presse als Begriff der Publizistik war „ bis ins 19. Jahrhundert hinein [die] Be- zeichnung für alle durch die Druckerpresse hergestellten Schriften “27, zu denen neben Bü- chern und Flugblättern/-schriften auch Plakate, Zeitungen wie Zeitschriften gehörten. Heute werden darunter „ die periodischen Printmedien Zeitung und Zeitschrift, häufig auch Bezeich- nung für die in den Presseverlagen beschäftigten Journalisten “ verstanden. Dabei zählt die Presse zum „ ä ltesten publizistischen Massenmedium “ , welches erst mit der Publikation ge- druckter Texte eine größere Öffentlichkeit hinter sich vereinen konnte und somit ausschlag- gebend für sich zügig verbreitende „ innovative oder revolutionäre Ideen “ sowie für eine „ö f- fentliche Meinung und politische Willensbildung “ war . Noch bis Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Entwicklungsprozess der Presse durch „ staatliche und kirchliche Eingriffe “ ge- hemmt, wozu neben Vor- und Nachzensur auch eine Impressumspflicht, Stempelsteuer, hohe Beförderungsgebühren, Untersagung bestimmter Themen und Aussageformen sowie die Be- schränkung der Erscheinungshäufigkeit zählten: „ Die Geschichte der Presse ist insofern eng mit der Herausbildung bürgerlicher Freiheiten verknüpft. “ Gemeint ist hier die Pressefreiheit.
Hans Dietrich Genscher, der frühere Außenminister der BRD, bezeichnete 1989 die Rolle der Presse in den Staaten des Warschauer Paktes als „ Artillerie der Freiheit “28 . Zugleich verdeutlichte er die enorme Bedeutung, die eine Berichterstattung über die dort statt- findenden gesellschaftspolitischen Veränderungen für die weitere Entwicklung in diesen Län- dern hätte.
2.2 System/Systemwechsel, -wandel, -transformation
Ein System kann „ im gesellschaftlichen Verständnis [als] der Obergriff für eine Reihe von Bestandteilen, die miteinander in Verbindung stehen “29, erläutert werden. Der „Brockhaus“ erklärt den Systembegriff im politikwissenschaftlichen Sinne als die „ Gesamtheit der Institu- tionen, die am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sind oder beteiligt sein k ö nnen “30. Dazu zählt das Lexikon neben dem politischen System als solches auch die Regierungen, Par- lamente, Verwaltungen und Gerichte sowie die Bürgerschaften, die Öffentlichkeit, Parteien, Verbände und die Medien. Die neuere Politikwissenschaft möchte unter dem Begriff ein Sys- tem verstanden wissen, dass das „ in einem differenzierten gesellschaftlichen Gesamtsystem neben den kulturellen, ö konomischen und rechtlichen Subsystemen zu unterscheidende politi- sche Entscheidungssystem [ist], durch das die Verteilung von Gütern und Werten mit Geltung für die gesamte Gesellschaft geregelt und mit Sanktionsgewalt durchgesetzt wird “31 .
Wolfgang Merkel definiert den Begriff Systemwechsel als „ Aufl ö sung der alten und den Aufbau einer neuen politischen Herrschaftsstruktur “ in Politik, Wirtschaft und Gesell- schaft, verbunden mit „ erheblicher Entdifferenzierung und anschlie ß end erneuter Differen- zierung inübereinstimmung mit den neuen Prinzipien, Normen und Umwelterfordernis- sen “32. Evolutionäre oder reformistische Wandlungstendenzen können hierbei die Vorboten eines Systemwechsels darstellen.33 Klar abzugrenzen ist der Begriff des Systemwechsels vom Systemwandel, der einen „ adaptiven Wandel der politischen Strukturen und Verfahren ange- sichts einer gewandelten Umwelt “ beschreibt, bei dem es um die „ Wiederherstellung einer neuen Stabilität bzw. eines neuen Gleichgewichts in der alten politischen Ordnung “34 geht.
Die Online-Enzyklopädie des „Brockhauses“ versteht unter einer Systemtransformation: „ [Eine] Bezeichnung für die grundlegende Veränderung eines politischen und wirtschaft lichen Systems entweder durch einen revolutionären Umsturz beziehungsweise eine revolutionäre Umwälzung ( ‚ Schocktherapie ’ ) oder eine evolutionäre Umgestaltung beziehungsweise eine schrittweise Reformierung ( ‚ partielle Transformation ’ ). “35
Ein Systemwechsel muss nicht immer zwangsläufig von einer Diktatur hin zu einer Demokratie verlaufen, er ist auch vice versa möglich. Der Wechsel eines Systems ist im poli- tischen Sinne dann beendet, wenn „ substantiell neue Kriterien zur Regelung des Zugangs und des Verlustes von politischen Herrschaftspositionen institutionalisiert werden “36. Vollzogen ist der Systemwechsel nach dieser Lesart also dann, wenn die Basisinstitutionen der neuen Herrschaftsstruktur in Politik und Ökonomie fest institutionalisiert sind, von den wichtigsten Gruppen als Spielregeln akzeptiert werden und sich politisch und kulturell verwurzeln. In diesem Falle spricht die Wissenschaft von der Konsolidierung eines politischen System, der letzten Phase einer Systemtransformation.
3. Die Printmedien im Wandel: Neue rechtliche Rahmenbedingungen als legislative Grundlage des Transformationsprozesses
Der Tag, an dem der unumkehrbare Wandel der Medienlandschaft in der DDR einsetzte, war zweifelsohne der Tag der größten Protestdemo am 4. November 198937, an dem schätzungs- weise zwischen 500.000 und einer Millionen Menschen die Straßen Ostberlins bevölkerten. Dieser Sturm des Protestes, den das DDR-Fernsehen live auf die Bildschirme der Republik projizierte, muss daher als Zäsur bewertet werden. Arne Kapitza bezeichnet dieses Datum als „ medienpolitische Wendemarke “38. Eingebettet in die Geschehnisse zwischen der ersten Großdemonstrationen mit rund 15.000 Teilnehmern vom 7. Oktober 1989 im vogtländischen Plauen und der ersten Massendemonstration in Leipzig mit ca. 70.000 Demonstranten nur zwei Tage später, setzte in diesen Oktobertagen ein als offizielle „Wende“-Politik bezeichne- ter Dialogprozess39 ein, der auch die Lenkungs-Institutionen der Medienlandschaft der DDR nachhaltig verändern sollte. Dies betraf in erster Instanz die Auflösung der Abteilung „Agita- tion und Propaganda“ des Zentralkomitees der SED, die kurzzeitig in die von Günter Scha- bowski geleitete „Abteilung für Informations- und Medienpolitik“ umbenannt worden war. Die Eliminierung derer fand zeitgleich mit der Auflösung des gesamten Anleitungssystems der Einheitspartei statt, welches auf der zehnten Tagung des Zentralkomitees der SED zwi- schen dem 8. und 10. November 198940 beschlossen wurde. Dies sollte auch den sofortigen Stopp jeglicher weiterer so genannter „Argumentationssitzungen“ der Agitationsabteilung beinhalten. Die letzte Zusammenkunft dieser Art fand Ende Oktober oder Anfang November 1989 statt. Die Quellenlage diesbezüglich ist leider nicht eindeutig.41 Damit ging auch das sofortige Ausbleiben regelmäßiger Anweisungen der Presse, der Agentur und der Medien im Allgemeinen einher - das Medienmonopol der SED war damit de facto außer Kraft gesetzt. Ein neues Zeitalter der unabhängigen Berichterstattung sollte sich nun allmählich entwickeln können, da sich die medienpolitischen Kompetenzen nun schrittweise auf die Regierung Hans Modrows übertrugen. Die nun bereits in SED-PDS umbenannte Partei reduzierte die „Kom- mission für Medienpolitik“ auf wenige Personen, die dem Parteivorstand unter Leitung Lothar Biskys angehörte.42 Der nächste Schritt wurde am 17. November 1989 mit der Bildung des Kabinetts Modrow unternommen, als das seit 1958 von Kurt Blecha geführte „Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates“ in „Presse- und Informationsdienst der Regierung der DDR“ umfunktioniert wurde, an deren Spitze der Regierungssprecher Wolfgang Meyer43 stand. Die Idee der Einberufung eines Regierungssprechers mit Ministerrang ging auf einen Vorschlag des VDJ zurück. Das einzige Element, welches weiterhin an die Zeiten der Argu- mentationssitzungen erinnern sollte, war fortan eine regelmäßig jeden Donnerstag stattfinden- de offizielle Pressekonferenz. „ Mit diesen Schritten fand die Medienpolitik der Wende-DDR, fand der ‚ Dialog ’ zu ersten institutionalisierten Formen “44, formulierte Kapitza treffend in seinem hier mehrfach zitierten Werk. Was folgte, war ein Austausch fast aller Redaktionsspit- zen der von der SED oder FDJ geführten Zeitungen und Zeitschriften. So erhielt u.a. die „Junge Welt“ am 21. November 1989 mit Jens König einen neuen Chefredakteur, der vom Zentralrat der FDJ vorgeschlagen45 wurde. Dieser Austausch wurde notwendig, um damit die „ wichtigsten personellen Drähte zu den alten Medienlenkungs-Institutionen “46 zu kappen. Nur wenige Chefredakteure konnten weiterhin auf das Vertrauen innerhalb ihres Redaktions- teams bauen. Lediglich Wilfried Geißler vom „Sonntag“ und Brigitte Zimmermann von der „Wochenpost“ durften in ihrer Funktion als Redaktionsleiter tätig bleiben. Bei den Zeitungen, die sich schon seit jeher eher den Blockparteien zugehörig fühlten, „ blieb etwa die Hälfte der Chefredakteureüber die ‚ Wendezeit ’ hinaus im Amt “47. Die Auswirkungen auf die sich ver- ändernde Szenerie wurde in den Redaktionsräumen der Printmedien zu großen Teilen positiv wahrgenommen. Selbst die Zeitungen der beiden Massenorgane SED und FDJ zeigten sich mit den neuen Rahmenbedingungen zufrieden. So bewertete Holger Becker vom „Neuen Deutschland“ die neu angebrochene Ära als „ selbstbestimmt und entfremdungsfrei “48. Sein Kollege von der „Jungen Welt“, Frank Schumann, bezeichnete sie als das „ Abklingen eines Magenleidens “49. Der bis zum Herbst 1989 beim FDJ-Zentralorgan als Chefredakteur tätig gewesene Hans-Dieter Schütt äußerte sich zur Beendigung des Medienmonopols mit dem Wort „ Erl ö sung “50. Christa Schaffmann von der „Berliner Zeitung“ sprach von einem „ Ge- fühl, [sich] zum ersten Mal ausleben [zu k ö nnen] “51. Viele Journalisten erlebten diese Zeit des Umbruchs als „ Phase ‚ absoluter Pressefreiheit ’“52, zu der vor allem eine starke finanziel- le Komponente beitrug; schließlich arbeiteten die Medien weiterhin mit staatlichen Subventionen, aber ohne Zensur.
In zweiter Instanz wurde der Transformationsprozess der Medien von der Kommando- zur Marktkommunikation mit dem Volkskammerbeschluss vom 5. Februar 1990 weiter be- schleunigt. Auf Initiative des Justizministeriums der DDR wurde zuvor der Jurist Anselm Glücksmann damit beauftragt, eine Gesetzgebungskommission zu konstituieren, die am 20. Dezember 1989 erstmals zusammentrat.53 Teilnehmer der Kommission waren neben Journa- listenverbänden und dem Schriftstellerverband auch Vertreter der Blockparteien, der Kirchen sowie seit Anfang 1990 auch die Mitglieder des Zentralen Runden Tisches. Die Volkskammer beriet im Anschluss über die von der Kommission vorgeschlagenen Gesetzesänderungen. Am 5. Februar 1990 fasste dann die Volkskammer den „Beschluss über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit“. Diese Gesetzesverabschiedung beruhte auf der Medienerklärung der UNESCO aus dem Jahre 1978. Bereits 1975 führte die DDR mit ihrer Unterschrift unter die Schlussakte der KSZE in der Theorie die Pressefreiheit ein; es sollte weitere 15 Jahre dauern, bis diese Unterschrift auch in der Praxis Anwendung fand. Der in 17 Absätzen verfasste Medienbeschluss der Volkskammer war „ ausdrücklich alsüber- gangsregelung formuliert “54, bis eine eigene Mediengesetzgebung im Rahmen der geplanten neuen Verfassung der DDR ausgearbeitet werden sollte. Doch der „Dritte Weg“, die Erneue- rung der DDR, blieb aus. Somit besaß der Beschluss der Volkskammer in einigen der so ge- nannten „neuen Ländern“ noch bis 1993 hinein Gültigkeit, bis auch die letzten Parlamente eigene Landespressegesetze verabschiedeten. Dies hatte allerdings zur Folge, dass beispiels- weise das Gegendarstellungsrecht55 bis dato ungeregelt blieb, da im Artikel 9 des Einigungs- vertrages einschränkend festgehalten wurde, dass alle erlassenen Gesetze mit Artikel 5 des Grundgesetzes vereinbar sein müssen. Die ersten fünf Abschnitte des Beschlusses der Volks- kammer lehnten sich dabei deutlich an eben diesen fünften Artikel des Grundgesetzes an: als Rechtsgrundlage wurde darin die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit verankert. Im weiteren Verlauf sind Einschränkungen bezüglich des Missbrauchs der Medien durch die Be- kundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass sowie hinsichtlich der Darlegung militaristi- scher, faschistischer, revanchistischer und sonstiger antihumanistischer Propaganda gemacht worden. Während das Mediengesetz im westlichen Teil Deutschlands mit Sorge auf eine neue staatliche Zensur Ablehnung fand, zeichneten die Medien der DDR, die zum Jahreswechsel 1989/1990 in der Majorität antifaschistische und sozialistische Perspektiven vertraten, ein eher düsteres Bild hinsichtlich rechtsradikaler Publikationen.56 Als die rechtlichen Rahmenbedingungen mit dem „Überleitungsgesetz zu Hörfunk und Fernsehen (Rundfunk) der Deutschen Demokratischen Republik“ auch andere Bereiche der Medienlandschaft erfassten, äußerte sich darüber die „Junge Welt“ in einem publizierten Artikel kritisch: „ [...] Die gro ß en Parteien sichern sich bei dieser Art ‚ Gleichstellung ’ fette Pfründe, und den kleinen wirft man die Brosamen zu. Manipulation pur. So wird Macht festgeschrieben. Abschnitt 4 und 5 end lich rücken das ganze Papier in die Nähe eines Komplotts. “57
Der dritte Schritt im Transformationsprozess der Medienlandschaft der DDR schloss sich direkt dem Medienbeschluss der Volkskammer an. Die staatliche Lizenzpflicht für pres- serechtliche Erzeugnisse wurde aufgehoben; eine bloße Registrierung genügte von nun an. Eine von der Regierung eingesetzte neuerliche Kommission besaß Anfang 1990 die Aufgabe, das immer noch rare Druckpapier den Zeitungen zuteilen zu müssen. Das neu firmierte Pres- se- und Informationsamt übernahm dabei die Registrierung neuer Zeitungen. Im Medienbe- schluss selbst war angekündigt worden, eine regionale und von der Partei unabhängige Tages- zeitung58 publizieren zu wollen. Die Idee ging auf eine Forderung des „Neuen Forums“ aus dem Oktober 1989 zurück. „ Diese Pläne zerschlugen sich jedoch bald, zumal in Berlin be- reits ein halbes Dutzend Tageszeitungen erschienen, die auf eine Verbreitungüber Berlin hinaus hofften. “59 In dieser Zeit kam es auf dem Gebiet der DDR zu einer sprunghaft anstei- genden Zahl von zumeist regionalen Zeitungsneugründungen. Von den einst mehr als 300 neu publizierten Printmedien ist nur der in Plauen ansässige „Vogtland-Anzeiger“ die einzige, noch verbliebene Tageszeitung.
Die formale Transformation der DDR-Medien kam weiter in großen Schritten voran. Bald wurden Rundfunk, Fernsehen und der ADN - das zentrale Leitorgan aller Medien der DDR - von der Volkskammer zu „ unabhängigen ö ffentlichen Einrichtungen, die nicht der Regierung unterstehen “, ernannt. Inwiefern aber noch immer die sozialistische Perspektive allgegenwärtig war, beweist eine weitere Verlautbarung der Volkskammer: „ Sie [die Medien] sind Volkseigentum. “ Dass auch hier noch kein komplett demokratisches Grundgerüst etab- liert werden konnte, lässt sich anhand der vom Ministerrat eingesetzten Generaldirektoren beweisen.
[...]
1 Vgl. u.a. Sverdel, Marina: Medienoligarchen. Chancen und Grenzen für die Pressefreiheit in der Ukraine - eine Fallstudie, Köln 2008, S. 20.
2 Thomaß, Barbara/Tzankoff, Michaela: Medien und Transformation in Osteuropa, 1. Auflage, Wiesbaden 2001, S. 7.
3 Junge Welt vom 12. Februar 1947: Endlich! Die „Junge Welt“ ist da, zitiert nach: Bock, Norman: Zeitschriftenporträt: junge Welt, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 20 (2008), Baden-Baden 2009, S. 235.
4 Vgl. Sverdel, Marina: S. 15.
5 Vgl. u.a. Bundesministerium des Inneren: Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2011, S. 131.
6 Die Transformationsforschung setzte sich zu Beginn mit dem Militärputsch in Portugal, der Umwälzungen in Griechenland und Spanien Anfang und Mitte der 1970er Jahre auseinander, ehe die Forschung auch auf die Umbrüche in Lateinamerika in den beginnenden 1980er Jahren einging und in der Mitte der 1980er Jahre auf Ostasien überschwappte, ehe der Zerfall der sozialistischen Staaten in den Mittelpunkt rückte.
7 Vgl. Thomaß, Barbara/Tzankoff, Michaela: S. 11.
8 Vgl. Die fünf Bände „Systemwechsel“, herausgegeben von Wolfgang Merkel.
9 Vgl. Beyme, Klaus: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt am Main 1994.
10 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Der Januskopf der Transformationsperiode. Kontinuität und Wandel der Demokratietheorie, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 26 (1995), S. 182-210.
11 Vgl. Jesse, Eckhard: Systemwechsel in Deutschland: 1918/19 - 1933 - 1945/49 - 1989/90, 2. Auflage, Köln u.a. 2011.
12 Vgl. Sverdel, Marina: Medienoligarchen. Chancen und Grenzen für die Pressefreiheit in der Ukraine - eine Fallstudie, Köln 2008; Vgl. Haller, Michael/Puder, Klaus u.a. (Hrsg.): Presse Ost - Presse West. Journalismus im vereinten Deutschland, Berlin 1995; Vgl. Claus, Werner (Hrsg.): Medien-Wende - Wende-Medien? Dokumentation des Wandels im DDR-Journalismus Oktober '89 - Oktober '90, Berlin 1991.
13 Vgl. Ko, Hong-Sook: Bürgerbewegungen und Öffentlichkeit: Zeitungsneugründungen durch Bürgerbewegun- gen nach dem politischen Umbruch in Ostdeutschland - Eine Untersuchung am Beispiel der Zeitungen die ande- re (Berlin), Die Leipziger Andere Zeitung (Leipzig) und Die Andere Zeitung (Magdeburg), Leipzig 2004.
14 Vgl. Ciesla, Burghard/Külow, Dirk: Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung „Neues Deutschland“, Ber- lin 2009.
15 Vgl. Downing, John: Internationalizing Media Theory - Transition, Power, Culture. Reflection on Media in Russia, Poland and Hungary 1980-95, 1. Auflage, London u.a. 1996.
16 Siehe: Bertelsmann Stiftung: Bertelsmann Transformationsindex, online abrufbar unter http://www.bti- project.de, letzter Zugriff am 17. Juli 2012.
17 Siehe: Freedom House, online abrufbar unter http://www.freedomhouse.org, letzter Zugriff am 17. Juli 2012.
18 Vgl. Kapitza, Arne: Transformation der ostdeutschen Presse. „Berliner Zeitung“, „Junge Welt“ und „Sonntag/Freitag“ im Prozess der deutschen Vereinigung, Opladen 1997.
19 Vgl. Bock, Norman: Zeitschriftenporträt: junge Welt, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 20 (2008), Baden-Baden 2009, S. 235-250.
20 Vgl. Thomaß, Barbara/Tzankoff, Michaela: Medien und Transformation in Osteuropa, 1. Auflage, Wiesbaden 2001.
21 Ein Sachverhaltinterview ist eine Unterordnung eines journalistischen Interviews, welchem eine bestimmte Fragestellung zu Grunde gelegt wird. Weitere Informationen zur Methodik journalistischer Interviews sind bei- spielsweise erhältlich unter: Deutscher Fachjournalisten-Verband e.V.: Das journalistische Interview, online einsehbar unter http://www.dfjv.de/uploads/tx_eleonartikel/53--fichtel_interview1.pdf, letzter Zugriff am 29. Juni 2012.
22 Siehe diesbezüglich u.a.: Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch, 4. Auflage, Weinheim 2005; Gläser, Jochen/Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen, Wiesbaden 2004; Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 9. Auflage, Weinheim 2007.
23 Hier und im Folgenden: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG: Medien, online einsehbar unter
http://www.brockhausenzyklopaedie.de/be21_article.php?document_id=0x0919d990@be, letzter Zugriff am 09. Juni 2012.
24 Bock, Norman: S. 236.
25 Holzweißig, Gunter: Massenmedien, Bonn 1999, S. 573, zitiert nach: Bock, Norman: Ebd.
26 Bock, Norman: S. 236.
27 Hier und im Folgenden: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG: Presse, online einsehbar unter
http://www.brockhausenzyklopaedie.de/be21_article.php?document_id=0x0b45d24c@be, letzter Zugriff am 09. Juni 2012.
28 Hier und im Folgenden: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG: Presse, online einsehbar unter
http://www.brockhausenzyklopaedie.de/ be21_article.php?document_id=0x17fca922@be, letzter Zugriff am 09. Juni 2012.
29 Jesse, Eckhard: S. 18.
30 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG: System, online einsehbar unter
http://www.brockhausenzyklopaedie.de/be21_article.php?document_id=0x0dbb92db@be, letzter Zugriff am 09. Juni 2012.
31 Ebd.
32 Merkel, Wolfgang: Einleitung, in: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung, 2. Auflage, Opladen 1996, S. 13.
33 Vgl. ebd.
34 Ebd.
35 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG: Systemtransformation, online einsehbar unter
http://www.brockhausenzyklopaedie.de/be21_article.php?document_id=0x0dbb92db@be, letzter Zugriff am 10. Juni 2012.
36 Merkel, Wolfgang: Einleitung, in: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): S. 13.
37 Vgl. Kapitza, Arne: S. 117 f.
38 Ebd., S. 117.
39 Richter, Michael: Die friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, 1. Auflage, Göttingen 2009, S. 396.
40 Vgl. Kapitza, Arne: S. 118.
41 Während nach den in Arne Kapitzas Werk „Transformation der ostdeutschen Presse“ angegebenen Quellen vom 2. November 1989 nach Notizen des damaligen Redaktionsleiters der Zeitung „Sonntag“, Wilfried Geißler, die Rede ist, ist im von Ulrich Bürger im Jahre 1990 herausgegebenen Buch „Das sagen wir natürlich so nicht! Donnerstag-Argus bei Herrn Geggel“ auf Seite 19 der 26. Oktober 1989 als Tag der letzten Sitzung der Abteilung „Agitation und Propaganda“ angegeben.
42 Vgl. Kapitza, Arne: S. 118.
43 Vgl. ebd.
44 Ebd.
45 Vgl. ebd., S. 119.
46 Ebd.
47 Ebd.
48 Ebd.
49 Ebd.
50 Junge Welt vom 30. Mai 1992, Seite 10 f., zitiert nach: Ebd.
51 Kapitza, Arne: S. 119.
52 Ebd., S. 120.
53 Vgl. ebd., S. 138.
54 Ebd.
55 Vgl. ebd.
56 Vgl. ebd., S. 139.
57 Heider, André: Medien-Modell mit Maulkorb? Skandalöser Entwurf für neues Diktat gegenüber TV und Funk, in: Junge Welt vom 05. Juli 1990, S. 1 f.
58 Vgl. Kapitza, Arne: S. 139.
59 Hier und im Folgenden: Ebd., S. 140.
- Quote paper
- Eric Holtschke (Author), 2012, Kontinuität zwischen gestern und heute?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202368
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