In seiner Studienzeit stößt Salvador Dalí auf die Schriften des surrealistischen Dichters Benjamin Péret.
Karina Liebe-Kreutzner entdeckt das Arsenal an péretschen Motiven, die er in seinem Oeuvre visuell umsetzt. Sie untersucht die dalísche Ikonographie auf literarische Einflüsse und enträtselt Gemälde, Graphiken und Installationen. Dabei kommt sie zu neuen Entschlüsselungen von bisher ungeklärten Sujets.
In der überwiegenden Fachliteratur stehen Dalís Skurrilitäten noch immer im Vordergrund, während Nachforschungen über seine Gelehrtheit unterbleiben.
Hier werden nicht nur Werke neuinterpretiert, sondern die vielschichtigen Bedeutungsebenen aufgezeigt, die Dalí absichtlich verschlüsselte. Der Denker, der akribische Planer und umfassend gebildete Rationalist wird hervorgekehrt und anhand praktischer Analysen als humanistischer Geist neuentdeckt.
Mit zahlreichen Abbildungen
Inhaltsverzeichnis
Dieses Buch
Die Autorin
Inhalt
Über das korrekte Zitieren
I Salvador Dali
1.1 Eine literaturbetontejugend
1.2 Werdegang und Selbstinszenierung eines Surrealisten
1.3 Gala - Muse, Madonna und Göttin
1.4 Die Bildbühne als Setzkasten
II Benjamin Pérets Werk — eine ikonographische Fundgrube
11.1 Benjamin Péret
11.2 Die Entdeckung Pérets durch Dali
11.3 Dali - Péret: Das Bild-Text Verhältnis
111 Dalis Rezeption Pérets
111.1 Le lecteur automatique - Die dalische Filtrierung
111.2 Das Regentaxi
111.3 Péretsche Einzelelemente in der Ikonographie
111.3.1 Tintenfässer und Federhalter
111.3.2 Spiegeleier und Lämpchen
111.3.3 Zerfließende Instrumente und abstehende Stangen
111.3.4 Weiche Uhren oder die Beständigkeit der Erinnerung
111.4 Von Péret inspirierte Hauptmotive
111.4.1 Kannibalismus der Objekte
111.4.2 Der Hummerwahn
111.4.3 Die weiße Dame - Kusine Carolineta?
111.4.4 Lebendes Stillleben
111.4.5 Galas Christus
111.4.6 Galas Olivenkopf
111.4.7 Heilige Huren - Gala als Madonna
111.4.8 Schwäne spiegeln Elefanten
111.4.9 Der unsichtbare Mann
Fazit
Abbildungsnachweis
Bibliographie
Dieses Buch
Die Autorin
Karina Liebe-Kreutzner ist seit 2008 geschäftsführende Präsidentin im österreichischen Verein für Medieninitiativen PEOPLE'S MEDIA.
Als promovierte Literatur- und Kunstwissenschaftlerin hat sie unzählige Essays, Artikel und Bücher veröffentlicht und ist multimediale Publizistin (Comenius EDU-MEDIA-Award 2006).
Als vielsprachige Projektmanagerin (Muttersprachen Spanisch und Deutsch) agiert sie regional und international (Spanien, Cuba, Costa Rica, Nicaragua, Marokko), konzipiert und leitet EU-Projekte für Bürgerinitiativen sowie EU-Ausbildungsprogramme für die Erwachsenenbildung.
Seit den Recherchen zu ihren Abschlußarbeiten1erforscht sie das Werk des Surrealisten. Unter anderen Einflüssen sind ihr dabei immer wieder die literarischen ins Auge gefallen - Dali inspiriert sich an literarischen Motiven, interpretiert sie und setzt sie visuell um.
Inhalt
In diesem Buch geht es darum, dalische Visionen nicht einfach auf fieberhafte Fantasien oder spontane Genieausbrüche zurückzuführen, sondern ihren literarischen Ursprung aufzuzeigen und die bisher verborgene Rationalität in seinen Werken hervorzukehren.
Prägnante Beispiele der Aneignungen und der Motivzitate, die der Spanier in seinen Gemälden nahtlos mit eigenen Ideen vereint, werden herausgearbeitet. Biographische Missverständnisse werden richtig gestellt, wobei es darum geht, publikumswirksame Mythen von bewiesenen Lebensumständen abzugrenzen. In der überwiegenden Bibliographie stehen Dalis Skurrilitäten noch immer im Vordergrund. Die Wissenschaft hebt seine vermeintlichen Neurosen und Simulationen hervor, während Nachforschungen über seine Gelehrtheit unterbleiben.
Dali machte es den Fachleuten nicht leicht, es lag gar nicht in seinem Interesse die Inspirationsquellen preiszugeben. Die breite Anhängerschaft konnte er viel effektiver mit systematischen Provokationen und werbewirksamen Skandalen begeistern.
Durch den Nachvollzug seines Bildungsweges wird sein Verhältnis zur Literatur analysiert. Fragen wie: ab wann und wie wurde er mit ihr konfrontiert und wie hat er sie in seinem gesamten Oeuvre umgesetzt, werden in dieser Reihe beantwortet.
Motive werden neu erklärt und ihre literarischen Quellen erforscht, sodass sichtbar wird, wie der Meister seine Inspiration rational steuerte, die Symbolik seiner Bilder verschlüsselte und ihnen mehrere Bedeutungsebenen verlieh, während er die Uneingeweihten lustvoll irreführte.
Seine Belesenheit wird dadurch belegt und die Intellektualität eines Humanisten entdeckt.
Über das korrekte Zitieren
Es wurde stets geachtet, auf Entdeckungen und Vorarbeiten anderer direkt im Text zu verweisen. Die Autorin erwartet sich dasselbe von Studierenden und Forschenden, die ihr Werk zuhand nehmen.
Diese Arbeit beinhaltet erstmalige Entdeckungen und Ergebnisse der Autorin, die in Forschungsarbeiten und sonstigen Publikationen direkt im Text als solche gekennzeichnet werden müssen (z.B. Liebe-Kreutzner weist darauf hin, dass...). Die ungekennzeichnete Übernahme von Inhalten, das Abschreiben von Fußnoten oder die unausgewiesene Aneignung fremder Forschungsergebnisse ist strafbar und wird geahndet.
I Salvador Dalí
I.l Eine literaturbetontejugend
Entgegen der gängigen Meinung, Dalí habe unter konfliktgeladenen Familienverhältnissen und unter schweren Traumata in seinen jungen Jahren gelitten, ist genau das Gegenteil der Fall. Er hatte eine beneidenswerte Kindheit und wuchs auf in einer wohlhabenden und liebevollen Familie, die ihn in seinem künstlerischen Werdegang immer unterstützte, solange er es ihr gestattete.
Salvador Felipe Jacinto Dalí Doménech wurde 1904 als Sohn des wohlhabenden Notars Salvador Dalí Cusí (ab nun werde ich ihn, um Verwechslungen zu vermeiden, Cusí nennen) in dem katalanischen Städtchen Figueres geboren. Schon früh bemerkten die Eltern die Intelligenz des Sohnes, und ließen es ihm an nichts fehlen, sogar als die vier Jahre jüngere Schwester Ana Maria auf die Welt kam, blieb er der Hahn im Korb.2Seiner frühen Vorliebe fürs Malen und dem wachsenden Talent stand nichts im Wege. Als der Vater sah, wie der Sohn seinem Hobby leidenschaftlich nachging, schickte er den 12 Jährigen zu Abendkursen bei dem qualifizierten Kupferstecher Juan Núñez in die städtische Zeichenschule, ließ die Waschküche auf der eigenen Dachterrasse zu einem Malerstudio umbauen und schaffte eine Druckerpresse an. Als dem Zeichenschüler zur Beendigung des Lehrgangs ein Diplom ausgestellt wird, das Núñez und der Bürgermeister von Figueres unterschreiben, stellt der Vater die Kohlezeichnungen des Sohnes zuhause aus und veranstaltet ein Fest.
1922, als sich der Abiturient fest entschlossen hatte, Maler zu werden, inskribierte ihn sein praxisorientierter Vater mit der Empfehlung des Zeichenlehrers Núñez an der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando. Die Elite-Kunsthochschule in Madrid erlaubte es, den Titel des Zeichenprofessors zu erwerben. Cusí wollte damit die finanzielle Zukunft des Sohnes als Künstler gewährleistet sehen.3
Eine Unterkunft bekam der Neuankömmling in Madrid in der elitären Residencia de Estudiantes, einem Studentenheim, das aber eher einem Begegnungszentrum der Intellektuellen ähnelte. Die bedeutendsten Erneuerer der Kunst, Literatur und Wissenschaft (z.B. Corbusier, Stravinsky, Valéry, Claudel, Curie, Einstein usw.) hielten hier ihre Vorträge, was der Institution die rühmliche Bezeichnung als Oxford und Cambridge in Madrid4einbrachte.
In Literatenzirkeln, Konferenzen über Dichtung und Prosa wurde auch sein Interesse am Lesen geweckt. Zu einer Leidenschaft wurde die Literatur als er einem Jüngling begegnete, der jahrelang sein bester Freund bleiben würde: Federico García Lorca, später einer der bekanntesten literarischen Persönlichkeiten Spaniens, dessen Gedichte, Romane, Theaterstücke etc. in der ganzen westlichen und lateinamerikanischen Welt begeistert aufgenommen wurden. Dalí lernte hier auch den zukünftigen Cineasten Luis Buñuel kennen. Das Zusammenwohnen und gemeinsam die Freizeit verbringen schweißte die drei Freunde eng zusammen, die sich Lesetipps und kulturelle Vorlieben austauschten.
Salvadors erste Einzelausstellung fand dank der Beziehungen des Vaters bereits 1925 in Barcelona in der Galeria Dalmau statt. Josep Dalmau war der bedeutendste katalanische Förderer für avantgardistische Kunst. Am relevantesten war jedoch für den jungen Dali die Tatsache, dass sein Onkel, der Doktor Rafael Dali, mit dem Galeristen eng befreundet war. Die Ausstellung wurde ein finanzieller Erfolg, der Großteil der Bilder wurde von Bekannten der Familie aufgekauft. Onkel Rafael Dali war auch eng mit dem Drahtzieher des barceloneser Intellektuellenkreises, Joaquim Borralleras, befreundet und die Ausstellung bekam nur die besten Kritiken.5Die Flut an Rezensionen hielt der Vater in einem Album fest, in dem in hinkunft alle Berichte über den Sohn eingeheftet wurden.
Der junge Katalane war aber auch in der Literaturszene vertreten und publizierte literarische Texte in avantgardistischen Zeitschriften wie L’Amic de les Arts und bald darauf in La Gaceta Literaria, die in ganz Spanien und Südamerika erschienen. Nicht nur seine späteren Schriften weisen einen fließenden Stil und eine auf den Punkt gebrachte Ausdrucksweise auf; schon in seiner Jugend werden seine Artikel aufgrund des scharfen kritischen Geistes von Intellektuellen gelobt.
1.2 Werdegang und Selbstinszenierung eines Surrealisten
Luis Buñuel, sein Freund aus der Studentenresidenz, bot ihm ein neues Sprungbrett in seiner Karriere, als er ihn zu den Dreharbeiten für seinen surrealistischen Film Ein andalusischer Hund 1929 nach Paris holte. Sein Landsmann Miró betreute ihn dort und führte ihn in den Kern der Surrealisten ein, die zu Beginn aus den Künstlern André Breton, Philippe Soupault und Louis Aragon bestand. Als der Dichter Paul Éluard als vierter im selben Jahr zur Gruppe stieß, lernte Salvador dessen Frau Gala kennen. Gala und Éluard verband eine stürmische, promiskuitive Ehe, die auch zu dritt vollzogen wurde, nachdem sich der Maler Max Ernst in die Russin verliebt hatte. René Magritte, Yves Tanguy, Andre Masson und der Dichter und Schauspieler Antonin Artaud schlossen sich ebenfalls der Gruppe an. Jeder einzelne dieser jungen Künstler war mit einer traumatischen und problematischen Jugend behaftet, wie Mark Polizzotti in seiner Biographie Bretons recherchiert hat6
André Breton litt als Einzelkind unter der herrischen Dominanz seiner kleinbürgerlichen Mutter, die aus Geldmangel versuchte, seine Liebe zur, in ihren Augen, nicht genügend ertragreichen Literatur zu unterdrücken, und dem universitären Filius befahl, seine medizinischen Handbücher laut in ihrer Hörweite zu studieren,7da sie fürchtete ihn sonst mit einem Gedichtsband in den Händen zu ertappen.
Philippe Soupaults Familie war zwar wohlhabend und verwandt mit dem Automobilmagnaten Louis Renault, seine literarischen Betätigungen bedeuteten für sie jedoch einen Skandal, und er wurde beordert Jura zu studieren. Eine Typhusimpfung endete für ihn lebensbedrohlich, und er verlor bei der Genesung im Krankenhaus jahre seinerjugend.8Louis Aragon, aufgrund ökonomischen Drucks Medizinstudent, hatte einen erfundenen Nachnahmen, und wurde von einer Mutter großgezogen, die sich als seine Schwester ausgab, um zu vertuschen, dass sie als 17-Jährige von einem verheirateten Mann geschwängert worden war. Selbst nach Aufklärung der Familienverhältnisse, stellte er weiterhin seine Mutter als Schwester vor.9
Soweit der Gründerkern des Surrealismus... Das Hineinsteigern in persönliche Miseren lebten die Surrealisten vor und erhoben es zu einer Maxime der Bewegung, die zu Beginn literarisch ausgerichtet war. Im Ersten Manifest wird verkündet: „Die Poesie trägt in sich den Ausgleich für das Elend, das wir ertragen“10. Der wohlbehütete Dali fühlte sich darin wohl als Außenseiter. So ersann er psychische Probleme, oder verknüpfte fremde dramatische Ereignisse mit seinem eigenen Leben.
In seinem Aufsatz „Die Liebe“ von 1930 beschreibt er die Atmosphäre eines schäbigen, beklemmenden Elternhauses richtig greifbar:
Ich denke an das ekelhafte, schändliche Land, wo ich geboren und. aufgewachsen bin... Fern. von. derLiebe. Im Schoße derFamilie, im muffigen Eltemschlafzimmer, das am Morgen einen grässlichen Gestanknach Harnsäure, schlechtem Tabak, Biederkeit und Scheiße verbreitete... Fern, von derLiebe...“11
Dalí paßte sich schnell an die Lebensläufe der neuen pariser Bekannten an und erweiterte seine Kunst und Persönlichkeit mit fremden Wesenszügen, um nicht zurück zu bleiben beim surrealistischen Erforschen der Dunkelheit des Selbst. Dazu gehörte auch die Simulation krankhaft psychischer Zustände wie Angstneurosen und Paranoia. Er entwickelte sich zum Meister des „angenommenen Wahns“12. Kraepelin hat beim Paranoiker die Tendenz festgestellt, die Lebenserfahrungen in der Biographie willkürlich zu verändern und subjektiv zu werten, das Verhältnis zur Umwelt unter Vernachlässigung der Wirklichkeit so auszumalen,13wie es die geheimen Wünsche, das Streben nach Macht und Selbstbehauptung verlangt. Dalí, der Freud mehrere Male gelesen hatte und sich auch für den Psychopathologen Kraepelin interessierte, setzt die vorsätzliche Manipulation der sozialen Bedingungen in die Praxis um. Er bezeichnete seinen Vater als Tyrannen, demonstrierte plötzlich angeblichen Hass auf Religion und Familie und beschmutzte sogar das Bild seiner verstorbenen Mutter. Dafür wurde er von André Breton, der über die Aktionen der Mitglieder der Surrealistengruppe wachte, sehr gelobt. Sein Vater und seine Familie waren fassungslos, doch Dalí sah sich nicht genötigt, die Gründe für sein Verhalten aufzuklären. Er schien sich scheinbar sicher zu sein, auf die väterliche Unterstützung von nun ab verzichten zu können.
Dereinzige Unterschied zwischen einem Verrückten und mirisi, daß ich nichtverrücktbin.
Das Wichtigste ist, die Verwirrungzu stiften, nichtihr entgegenzuwirken.14
Im Sommer 1929 wurde er in seinem katalanischen Ferienort Cadaqués von einigen Freunden besucht, darunter Buñuel, dem pariser Galeristen Goemans, dem Ehepaar Magritte, sowie Paul Éluard und dessen Frau Gala. Bei dieser Gelegenheit verliebten sich Dali und die gebürtige Russin ineinander.
Dalis erste surrealistische Werke entstanden. Der Künstler baute seinen Vater in seine Gemälde ein und bediente sich dabei der Mythologie literarischer Vatergestalten mit tyrannischem Gemüt, wie z.B. im Enigma des Wilhelm Teil, 1933, Abb. 1, der das Leben seines Sohnes aufs Spiel setzt. In dem Gemälde wird Wilhelm Tell durch die Sockenhalter, die für Angestellte im öffentlichen Dienst Bestandteil der Uniform waren, als Bürokrat gekennzeichnet, wodurch eine weitere Identifikation mit dem Vater, dem Notar, erfolgt.15
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1
Die Lebensumstände zu verfälschen, angenehme Erfahrungen zu verschweigen und sie stattdessen durch elende Kindheitserlebnisse zu ersetzen ging natürlich auf Kosten der Familie, die ohne vorgewarnt worden zu sein, seine biographischen Lügen und Erfindungen als Vorwurf bzw. Persönlichkeitswandel mißverstand.
15Genaue Ausführung des Vater Sohn-Konflikts und der Verknüpfung mit Wilhelm Teil bei Karina Liebe-Kreutzner, Literarische Einflüsse im Werk Salvador Dalis. Die Entschlüsselung der Ikonographie im Lichte der assoziativen Zitathaftigkeit, Graz 2000, S. 80
Auch die Rivalitätsproblematik bis hin zum Kannibalismus werden dort erläutert und die literarischen Quellen dazu angezeigt.
Diesen dokumentiert die Schwester, die den französischen Surrealisten die Schuld gibt, dass sich ihr Bruder zu einem Lügner entwickelt hatte. Ihrer Meinung nach war er ein reizender Mensch, ein Mustersohn und ein ehrlicher Künstler gewesen, bis er in Kontakt trat mit der innovativen Gruppe. Danach sieht sie in ihm einen Heuchler im wahrsten Sinne des Wortes.Dali hatte die neue Gesinnung vollkommen assimiliert...:
„Entschuldigen Sie mich,
aber ich muss jetzt da raus gehen
und. ein bisschen Dalispielen“.16
In dieser Zeit schafft er Gemälde zu denen es gleichnamige Gedichte gibt und gesteht der Literatur sowie der Malerei gleichermaßen Ausdrucksfähigkeit zu.17In diesem Sinne ist auch David Gascoynes Kommentar in einer Kritikerkolumne zu verstehen: Dieser junge Dichter wurde dem Maler von Éluard vorgestellt und verkündete in einer Ausstellungsrezension: „Salvador Dali ist der wichtigste lebende literarische Maler“18.
1.3 Gala — Muse, Madonna und Göttin
Die Idee, die einem begegnenden Personen als mystisch und göttlich vorherbestimmt aufzufassen, war unter den Surrealisten allgemein verbreitet. Breton selbst wollte in jeder Frau, in die er sich verliebte, die Eine, die Frau fürs Leben, die für ihn geschaffene Geistesverwandte sehen und betrachtete die Zufälle, die zu einer Bekanntschaft geführt hatten als Prädestination, die ihn ins Glück führen würde.19
Auch Dali mystifizierte seine Beziehung zu Gala, indem er je nach Schaffensphase verschiedene mythologische, psychoanalytische oder literarische Szenen in seine Biographie einbaute um seine Muse zu erhöhen.20
Zu diesem Zweck schreckt er, in gewohnter Manier, vor biographischen Verfälschungen nicht zurück und behauptet wieder von seiner Familie schlecht behandelt worden zu sein (der reale Bruch mit dem Vater fand schon 1929 statt und wurde vom Sohn selbst provoziert):
19ЗО wurde ich von meiner Familie ohne einen Pfennig vor die Tür gesetzt. Meinen weltweiten Triumph habe ich einzigderHilfe Gottes [...] und. derheldenhaften täglichen Aufopferungeinerunvergleichlichen Frau, meinerEhefrau Gala, zu verdanken.“21
Tatsächlich war sie zu Beginn seiner internationalen Karriere seine Managerin und Händlerin, die mit nervenzerreißender Ausdauer die Kunden auftrieb. Sie ließ all ihre sozialen Kontakte spielen, einschließlich jene zu ihrem Mann Éluard, der in der Surrealistengruppe immer ein gutes Wort für den Spanier einlegen sollte. Dali hatte nie ein Gefühl für Geld entwickelt, da es ihm in der Familie nie an etwas fehlte und sein Vater sämtliche finanzielle Angelegenheiten geregelt hatte. Gala übernahm nun die Vermarktung und Verwaltung des Vermögens und dirigierte auch seinen Arbeitsrhythmus militärisch. Auch in literarischer Hinsicht bedeutete sie mit ihrem kritischen Sinn bei der Beurteilung von Texten eine Bereicherung für Dali, dem sie Literaturtipps weitergab. Ihr ist es auch zu verdanken, dass Dalis eigene Texte, in denen Katalonisch, Spanisch und Französisch nahtlos ineinander fließen ließ, einheitlich übersetzt vorliegen. Die Mythologisierung ging so weit, dass er den Namen Galas mit Gestalten aus antiken Sagen verknüpfte und so das Bild einer übermächtigen Frau und Muse kultivierte, mit der er in einer mythologisch-göttlichen Verbindung lebte. Er erschuf eine irdische Saga des Paares Salvador-Gala. Er malte Gala als prunkvoll ausgestattete Madonna, als mythologische Leda mit dem Schwan, oder schöne Helena von Troja. Letztere Identifikation liegt nahe, da der Taufname seiner Muse Jelena Dmitrijewna DJakonowa lautete, wobei Jelena nichts anderes als die slawische Version von „Helena“ ist.
1.4 Die Bildbühne als Setzkasten
Im Jahr 1929 fand Dali nicht nur die Liebe, sondern auch schlagartig seinen Stil: Weitläufige trockene Sonnenlandschaften mit blauem Himmel, sonderbare Formen und sexuell geprägte Handlungen wurden vor weiten Ebenen und Landschaftspanoramen dargestellt. Die Vorliebe Dalis zur Wiedergabe seiner heimatlichen Umgebung bildet ein Stilmerkmal. Es sind die weiten Ebenen von Ampurdän, die Ufer des Ferienortes Cadaqués, die Küste des Cap de Creus, die als Hintergrundmotive dienten, in die er seine surrealistischen Bildelemente hineinstellte. Ein immer wiederkehrendes Motiv war der Felsen von Ligné, 1926, Abb. 2. Die Aussicht auf eine weite glatte Fläche, begrenzt von Felsformationen oder Landzungen, die von den Seiten des Bildrandes ins Meer ragen, stellte er ab 1929 programmatisch dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2
Der Künstler konstruiert den Bildraum, indem er ihn in bildparallele Flächenversetzungen unterteilt. Das steinerne Ufer liegt dabei im Vordergrund, die ins Meer ragenden Landzungen bilden den Mittelgrund, die Felsformation im Meer befinden sich im Hintergrund.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik 1: ©2000 Karina Liebe-Kreutzner
Stellt man sich die Meeresoberfläche als Boden vor, brauchte der Künstler nur die verschiedenen Elemente darin zu positionieren. Es ist wie auf einer Bühne, in die die Kulissen gestellt werden, die, nach vorne oder hinten verschoben, die perspektivische Wirkung erzeugen. Die Elemente sind dabei in kulissenhafter, räumlicher Staffelung so angeordnet, dass sie das Auge stufenweise in die Tiefe führen.
Die Verwendung der Landschaftskulisse aus seiner Heimat konnte er als melancholische Regung, die ganz im Sinne des Surrealismus lag, verbuchen. Damit sollte das Heimweh nach der Umgebung aus der Kindheit ausgedrückt werden. Dieses Panorama mit seinem starken, klaren Licht, der trockenen Atmosphäre und der kargen Ebene erschien ihm genau richtig, um den katalanischen Geist wiederzugeben. Andererseits dürfte er erkannt haben, dass die Darstellung dieser speziellen Landschaft in einem surrealistischen Bild etwas Neues war, das er sich zunutze machen konnte. Auf diese „Bühne“ des Bildraums stellte er dann literarische und andere Elemente, ohne auf deren Herkunft und Quellen zu verweisen.
II Benjamin Pérets Werk — eine ikonographische Fundgrube
II.l Benjamin Péret
Benjamin Péret wurde 1899 in Rezé geboren, war also 5 Jahre älter als Dali. Mit mangelnder Schulbildung stieß er 1920 zu den zukünftigen Surrealisten, damals der „noch-dada“-Gruppe um André Breton. Die Mutter hatte Breton besucht, um ihren Sprössling in seine Obhut zu stellen: „Sie könnten etwas für meinen Sohn tun, der Literatur machen will.“22Péret würde von da an beständig an Bretons Seite verbleiben. Zusammen mit Pierre Naville gründete das Trio das Programmblatt der Bewegung La Revolution Surrealiste. Zu Beginn wirkte er als idealistischer Vorkämpfer mit um den Surrealismus in kürzester Zeit aus den dadaistischen Kinderschuhen zu heben.
Ab 1924 werden in La Révolution Surréaliste seine Werke veröffentlicht, deren Stil durch lebhafte, eigenwillige und exzentrische Ausdrucksweise geprägt wird. Seine Lyrik übt Kritik an allen überlieferten Einrichtungen in skandalösen und aufsehenerregend scharfen Satiren. Er richtet sich gegen Politik, Souveränität, Familie und Religion und kommt damit der surrealistischen Gesinnung nach.
Ein für seine Schriften charakteristisches Merkmal ist die Ausdrucksweise, die vielleicht mit der geringen Schulausbildung erklärt werden kann. Sie mutet manchmal dilettantisch an, da Begriffe gebraucht werden, die nicht wirklich zum Gesagten dazu passen, oder Worte verwendet werden, deren Bedeutung knapp an dem Gemeinten vorbeigeht, sodass der Sinn der Aussage nicht getroffen wird.
[...]
1Salvador Dali und die Gesänge des Maldoror, phil. Dipl., Graz 1997; Literarische Einflüsse im Werk Salvador Dalis, phil. Diss., Graz 2000
2 siehe dazu ihre Schilderung der dalischen Faxen, die sich der Junge zusehends angewöhnte, weil die Eltern ihm nie etwas abschlugen: Ana Maria Dali, Salvador Dali visto por su hermana, Barcelona 1993, S. 38
3 Gibson, Shameful Life ofS.D., S.51
4 Antonina Rodrigo, García Lorca en Cataluña, Barcelona 1975, S. 24
5 Vgl. Gibson, S. 126ff. und F. Fanés, S. D. La construcción de la imagen 1925-1930, Madrid 1999, S. 12-15
6 Die alptraumhaften Biographien schildert Polizzotti, Das Leben des André Breton, S.316, S. 318
7 Vgl. ebda. S. 37f. [ab nun nurmehr als Das Leben des André Breton zitiert]
8 Vgl. ebda, S. 95f.
9 Vgl. ebda., S. 99f.
10 Breton, Manifeste, S.21
11 S.D., Gesammelte Schriften, S. 156
12 Sehr schön formuliert von Uwe M. Schneede, Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 121
13 Gorsen, Der "kritische Paranoiker", S. 429
14.Zitat in: Salvador Dali, Pensées et anecdotes, Paris 1995, S. 18; 2.Zitat in: Carlton Lake, In Quest of Dalí, New York 1969, S. 91
15 Vgl. A.M.Dali, S.D. visto por su hermana, S. 7
16 Zitat in: Salvador Dali, Pensées et anecdotes, S. 18 In dem Sammelband Dalis Medienspiele: Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, herausgegeben von Isabel Maurer Queipo,Nanette Rißler-Pipka 2007 in Bielefeld, versuchen mehrere Autorinnen und Autoren das mediale Enigma Dali zu hinterfragen, ohnejedoch auf konkrete Aneignungen einzugehen.
17 So z.B. das Gedicht und Gemälde Der Große Masturbator, s. Karina Liebe-Kreutzner, 2000, S.104
18 Gascoyne zitiert bei Gibson, Shameful life of S.D., S. 328
19 Vgl., Polizzotti, Leben des André Breton, S. 581
20 Karina Liebe-Kreutzner, 2000, S. 83
21 Zitat bei Linde Salber: SalvadorDali, Reinbeck bei Hamburg 2004, S. 95
22Zitat bei Polizzotti, Das Leben des André Breton, S. 215
- Quote paper
- Dr. Karina Liebe-Kreutzner (Author), 2012, Salvador Dalí, Weiche Uhren und Heilige Huren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201784
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