„Ob jemand ein hoffnungsloser Fall war, weiß man erst am Ende seines Lebens und nicht vorher“,
mit diesem Zitat bringt Michael Bock auf den Punkt, wie anhand seines entwickelten
Prognoseinstruments „Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" (MIVEA)
überprüft werden kann, ob das Erstdelikt eines Ersttäters erst der Anfang seiner kriminellen
Laufbahn ist oder ob die zehnte Tat eines Wiederholungstäters möglicherweise seine letzte war
(Oettinger 2008: 124) Die Prognosenerstellung bei straffälligen Menschen ist ein viel diskutiertes
und umstrittenes Thema, da eine Einschätzung von zukünftigen Entwicklungen und Verhalten eines
Menschen nicht mit 100%iger Sicherheit vorhergesagt werden kann. Mit der MIVEA Methode lässt
sich zwischen kriminovalenten und kriminoresistenten Merkmalen der Persönlichkeit
unterscheiden, sie liefert so eine Grund- und eine Individualprognose eines Probanden mit einer
14%igen Irrtumswahrscheinlichkeit (Straube 2005: 1). MIVEA basiert auf der „Tübinger Jungtäter-
Vergleichsuntersuchung“ und ist gezielt für den Einsatz in der täglichen Praxis entwickelt worden.
MIVEA bietet kriminologische Entscheidungshilfen und kann im gesamten Strafrechtsverfahren
eingesetzt werden. Aufgrund nicht benötigtem medizinischen oder psychologischen Fachwissens ist
es somit ein Instrument, das für nahezu alle Praktiker der Strafrechtspflege angewandt werden
kann.
In dieser Hausarbeit werde ich zwei Schwerpunkte setzen: Zum einen möchte ich die theoretischen
Grundlagen dieser Methode erläutern und gehe dabei vorher noch auf den allgemeinen Begriff der
angewandten Kriminologie ein. Um ein ganzheitliches Verständnis der Methode zu erhalten, bedarf
es zuvor der Auseinandersetzung mit der Tübinger Jungtäter-Vergleichuntersuchung, um daraufhin
die theoretische Durchführung zu erklären.
Der zweite Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Umsetzung dieser Methode in die strafrechtliche
Praxis, welche ich am Beispiel der JVA Bremen gesondert hervorheben möchte. Abschließend
werde ich die Vorteile der MIVEA in der Praxis anhand von Erfahrungsberichten der kritischen
Auseinandersetzung gegenüberstellen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Definitionen/Begrifflichkeiten
2.1 Angewandte Kriminologie
2.2 Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung
3. Die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse
3.1 Anwendungsfelder
3.2 Durchführung der Methode
4. Die Methode in der Praxis
4.1 MIVEA in der JVA Bremen
4.2 Auswertungen und Ergebnisse aus der Praxis
5. Kritische Auseinandersetzung
5.1 Erfahrungsberichte aus der Praxis
5.2 Vor-undNachteilederMethode
6. Fazit
1. Einleitung
„Ohne die Ke nntnis der Täterpersönlichkeit läßt sich weder das Maß der persönlichen Schuld eines Täters noch Art und Maß seiner Resozialisierungsbedürftigkeit, insbesondere nicht seine Strafempfindlichkeit beurteilen.“ (BGHSt.7, 28, 31)
„Ob jemand ein hoffnungsloser Fall war, weiß man erst am Ende seines Lebens und nicht vorher mit diesem Zitat bringt Michael Bock auf den Punkt, wie anhand seines entwickelten Prognoseinstruments „Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" (MIVEA) überprüft werden kann, ob das Erstdelikt eines Ersttäters erst der Anfang seiner kriminellen Laufbahn ist oder ob die zehnte Tat eines Wiederholungstäters möglicherweise seine letzte war (Oettinger 2008: 124) Die Prognosenerstellung bei straffälligen Menschen ist ein viel diskutiertes und umstrittenes Thema, da eine Einschätzung von zukünftigen Entwicklungen und Verhalten eines Menschen nicht mit 100%iger Sicherheit vorhergesagt werden kann. Mit der MIVEA Methode lässt sich zwischen kriminovalenten und kriminoresistenten Merkmalen der Persönlichkeit unterscheiden, sie liefert so eine Grund- und eine Individualprognose eines Probanden mit einer 14%igen Irrtumswahrscheinlichkeit (Straube 2005: 1). MIVEA basiert auf der „Tübinger JungtäterVergleichsuntersuchung“ und ist gezielt für den Einsatz in der täglichen Praxis entwickelt worden. MIVEA bietet kriminologische Entscheidungshilfen und kann im gesamten Strafrechtsverfahren eingesetzt werden. Aufgrund nicht benötigtem medizinischen oder psychologischen Fachwissens ist es somit ein Instrument, das für nahezu alle Praktiker der Strafrechtspflege angewandt werden kann.
In dieser Hausarbeit werde ich zwei Schwerpunkte setzen: Zum einen möchte ich die theoretischen Grundlagen dieser Methode erläutern und gehe dabei vorher noch auf den allgemeinen Begriff der angewandten Kriminologie ein. Um ein ganzheitliches Verständnis der Methode zu erhalten, bedarf es zuvor der Auseinandersetzung mit der Tübinger Jungtäter-Vergleichuntersuchung, um daraufhin die theoretische Durchführung zu erklären.
Der zweite Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Umsetzung dieser Methode in die strafrechtliche Praxis, welche ich am Beispiel der JVA Bremen gesondert hervorheben möchte. Abschließend werde ich die Vorteile der MIVEA in der Praxis anhand von Erfahrungsberichten der kritischen Auseinandersetzung gegenüberstellen.
2. Definitionen/Begriffserklärungen
Im folgenden Abschnitt werde ich kurz die angewandte Kriminologie erläutern und auf die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung eingehen, welche grundlegendes Wissen zum Verstehen der MIVEA bietet.
2.1 Angewandte Kriminologie
Bei der angewandten Kriminologie sollen die aus Erfahrung gewonnenen wissenschaftlichen und kriminologischen Erkenntnisse für die Strafrechtspraxis genutzt werden. Der Praktiker soll in der Lage sein, ohne psychologische oder psychiatrische Fachkenntnis, sondern nur aufgrund eigener Fachkompetenz den „Täter“ kriminologisch zu beurteilen. So sollen Grundlagen gewonnen werden für eine gezielte Anwendung im Einzelfall als präventive Maßnahme, aber auch in Form von Interventionen und therapeutischer Art. Hier bedient sich die angewandte Kriminologie des Instruments der MIVEA (Göppinger 2008: 249 f).
2.2 Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU)
MIVEA basiert auf den Ergebnissen der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung von Hans Göppinger und Michael Bock (Oettinger 2008: 124). Sie war die umfangreichste kriminologische Studie, die im Zeitraum von 1965-1995 in Deutschland durchgeführt wurde. Es wurden 200 Häftlinge im Alter von 20-30 ausgesucht und mit 200 nicht straffälligen Menschen verglichen. Durchgeführt wurden die Erhebung mit Hilfe von Befragungen der Probanden, des Weiteren durch Aktenanalyse, einen psychologischen Test und medizinische Untersuchungen sowie Drittbefragungen. Es gab kaum Differenzen der beiden Vergleichsgruppen nach der Einzelfalluntersuchung zur Person. Dahingegen zeigten sich deutliche Unterschiede bezüglich des Sozialbereichs. In dem langjährigen Auswertungsprozess wurde versucht, das Verhalten der Probanden mithilfe von Idealtypen zusammenzufassen. Herausgearbeitet werden konnten die verschiedenen spezifischen kriminologischenen Kriterien, die Formen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt, die kriminorelevanten Konstellation im Lebensquerschnitt sowie die Relevanzbezüge und die Wertorientierung. Diese Kriterien bilden nun die Basis der von Bock weiterentwickelten MIVEA (Institut für Kriminologie 2001).
3. Die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse
In dem 1985 erschienenen Buch „Angewandte Kriminologie“ von Hans Göpplinger wurde das erste Mal die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse aufgrund der Ergebnisse der TVJA erwähnt. Die MIVEA entstand durch die Weiterentwicklung durch Michael Bock, der als der aktualisierende Weiterführer der Göpplinger-Lehre gilt (Oettinger 2008: 124).
Das Besondere an MIVEA ist, dass sie zum einen von Menschen erlernt werden kann und anwendbar ist, die nicht Kriminologie studiert haben und somit Vertreter der verschiedensten Berufsgruppen ein einheitliches Kommunikationsinstrument bietet (Göppinger 2008: 250). Zum anderen liegt MIVEA ein Menschenbild zugrunde, das jeden als eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Menschen sieht, so dass Gefangene die Schlussfolgerung nachvollziehen können und somit mehr Kooperation in der Mitarbeit zeigen (Straube 2005: 3).
Nach dem Gesetz § 6 StrafVollzuG muss eine Behandlungsuntersuchung mit den Straffälligen durchgeführt werden, jedoch ist nicht festgelegt in welcher Form und mit welcher Methode. Ausschlaggebend sind jedoch die Delikte, deshalb sei ein rein kriminologisches
Beurteilungskriterium wie MIVEA am besten geeignet. Bei MIVEA steht der Mensch mit seinen vergangenen und gegenwärtigen alltäglichen Verhaltens- und Reaktionsweisen im Vordergrund, die anhand der Idealtypen herausgearbeitet werden (Göppinger 2008: 253 f.).
3.1 Anwendungsfelder
Laut Göppinger kann MIVEA in verschiedenen Bereichen eingesetzt werden. Der ganzen Bandbreite der Mitarbeiter, die unter die Jugendhilfe fallen nach § 27 ff. SGB VIII, wie z. B. Jugendämter, Erziehungsbeistände, Betreuungshelfer, Heimerzieher etc., bietet MIVEA ein Interventionsinstrument, um Gefährdungen fur Straffälligkeit zu erkennen und zu intervenieren. Aber auch nach §§ 53 ff. SGB VIII der Pflegeschaft und Vormundschaft fur Kinder und nach §§50ff. SGB VIII der Familiengerichtshilfe ist MIVEA einsetzbar, des Weiteren auch im Bereich der Wohlfahrtspflege in der Arbeit mit Erwachsenen.
Der Hauptschwerpunkt liegtjedoch in der Strafrechtspflege, wo die Methode den meisten Anklang findet. Um Beurteilungen für die Hauptverfahren zu erstellen, kann die Methode zum Beispiel im Ermittlungsverfahren von der Polizei und von der (Jugend-)Gerichtshilfe eingesetzt werden. Des Weiteren kann sie von Richtern, Verteidigern und Gerichtshilfen in der Untersuchungshaft bei Haftentscheidungen dienen. Eine Sanktion im Hauptverfahren soll immer individuell auf den Täter abgestimmt sein, deshalb ist eine Prognose bezüglich des zukünftigen Lebens unabdingbar, insbesondere nach § 56 StGB. Gerade im Jugendgerichtsgesetz ist es von enormer Wichtigkeit, zuverlässige Einschätzungen zu tätigen, ob ein Jugendlicher nur eine einmalige Straftat begangen hat oder ob für ihn eine kriminelle Karriere in Aussicht ist. Im Vollstreckungsverfahren können die Bewährungshelfer, Betreuungshelfer und Jugendgerichtshelfer die MIVEA nutzen, um die kriminologisch individuell relevanten Faktoren zu ermitteln. Aber MIVEA ist vor allem auch ein geeignetes Instrument bei Vollzugs- und Förderplänen im stationären Vollzug, die mit Hilfe einer differenzierten kriminologischen Diagnose sinnvoll und individuell ausgerichtet werden können, sowie für die Entlassungsprognose (Göppinger 2008: 250 ff.).
3.2 Durchführung der Methode
Die Idealtypenbildung geht schon auf die Methodenlehre von Max Webers zurück. (Oettinger 2008:124). Jeder benötigt gewisse Vorstellungen, um kategorisieren und einordnen zu können. Deshalb sind Idealtypen notwendig, um Unterschiede zu beschreiben. Idealtypen stellen das typische bei Verhaltensweisen dar (Widenhorn et al. 2009: 3). MIVEA unterscheidet also idealtypische Verhaltensweisen: „K“ steht dafür für Kriminalität, also einen kriminellen Lebenslauftypen und „D“ für Durchschnitt, also einen straffreien Lebenslauftypen. (Oettinger 2008: 125). Wenn eine Verhaltensweise exakt in der Mitte einzuordnen ist, dann ist es kriminologisch neutral zu bewerten (Oettinger 2008: 126). Herauszufinden, ob das Verhalten eines Menschen dem neutralen oder eher Tendenzen zu „K“- oder „D“-idealtypischem Verhalten aufweist, ist die zentrale Aufgabe von MIVEA. (Widenhorn et al. 2009: 3). Doch wie die Überschrift eines von Oettingers Artikeln schon besagt, spielt sich das wahre Leben hauptsächlich zwischen den Extrempolen ab, welche eher als Grenzpunkte gesehen werden können. Die als Beurteilungsmaßstab zu verstehenden Idealtypen sind erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erfahrungswerte (Göppinger 2008: 255). Die Beurteilung einesjeden Probanden erfolgt dabei in zwei Stufen:
1. Analyse des Lebenslängsschnitts, von Kindheit bis zur Untersuchung und eines Querschnittbetrachtung eines kurzen Zeitraumes vor der Straftat. Daraufhin erfolgt die Untersuchung der Relevanzbezüge des Probanden, seine persönlich prägenden Alltagsinteressen und Intentionen. Anschließend wird der Hintergrund, die Wertorientierung, herausgearbeitet.
2. Diagnose nach § 18 strafvollzuG, hier wird die Tat mit den Sozialverhalten in Beziehung gesetzt. Es wird eine Aussage formuliert, inwieweit das Delikt zum Sozialverhalten passt.
Wenn herausgefunden wird, dass ein bestimmtes Sozialverhalten ein bestimmtes Delikt veranlasst hat, dann kann prognostisch gesagt werden, dass dieser Mensch bei gleichbleibenden Grundintentionen und bei gleicher Umwelt in absehbarer Zeit wieder eine Straftat begehen wird. (Göppinger 2008: 245 f.)
Zur Erhebung bedarf es einer Summe von Quellen. Die eigene Angabe des Probanden ist die bedeutsamste, die durch kriminologische Exploration (bisher gesammelte Akten) erlangt wird. Des Weiteren werden Akten ausgewertet und ggf. eine Erhebung im sozialen Umfeld durchgeführt. Nur durch Aufspaltung der verschiedenen Lebensbereiche ist das Erfassen aller relevanten Angaben wie Leistungs-, Freizeit-, Kontakt-, Aufenthalts-, Delinquenzbereich und Lebensorientierung möglich. Die Krankheitsanamnese, Drogen-und Alkoholkonsum werden je nach Relevanz des Probanden außen vor gelassen oder weitere fachliche Hilfe veranlassen.
Wie ausführlich die Teilbereiche erkundet werden, variiert nach Alter und Wohnsitz des Probanden. Es wird z.B. keine vollständige Erfassung der Herkunftsfamilie durchgeführt. Im Aufenthaltsbereich wird der tatsächliche Wohn- und Aufenthaltsort und der Umkreis beschrieben. Im Leistungsbereich werden schulische Leistung sowie Berufs- und Weiterbildungen aufgenommen. Am umfassendsten ist auch der bedeutendste Bereich, der Freizeitbereich, da der Umfang, der Stellenwert und die Struktur viel über das Leben des Probanden aussagen. Im Kontaktbereich werden nur die wesentlichsten und prägenden Personen aufgenommen. Diese werden noch einmal unterteilt in schicksalhaft vorgegebene Kontakte, selbstgewählte und sexuelle Kontakte und Familie. Im Deliquenzbereich werden ältere Taten aufgenommen, jedoch liegt das Hauptaugenmerk auf der letzten Tat. Die Zeitperspektive und die Wertorientierung werden für die Lebensorientierung erfragt. Falls der Straftäter sich schon in Haft befindet, wird auch sein Verhalten in der Anstalt notiert (Göppinger 2008: 257 f.). Die Analyse erfolgt mit den bereits genannten Idealtypen, wobei die Ergebnisse systematisch bearbeitet werden. Sozialverhalten und Delinquenz werden im Lebenslängsschnitt getrennt überprüft (Göppinger 2008: 270 ff.). Bei der Querschnittanalyse ist der unmittelbare Bezug zur Tat zu beachten.
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- Quote paper
- Cathrin Bode (Author), 2012, MIVEA-Methode der Idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201781
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