Der Körper als Medium der Sinnstiftung

Fotografische Inszenierungen der technischen Rekonstruktion von Kriegsinvaliden des ersten Weltkrieges


Hausarbeit, 2012

18 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Medizinische Fotografie von Kriegsinvaliden
2.1 Bedeutung der Prothetik
2.2 Enttabuisierungder Verletzung
2.3 Distributionswege der medizinischen Fotografie
2.4 Typischer Aufbau der Invaliden-Fotos

3 Der Körper als Medium der Sinnstiftung
3.1 Begrenzung des Schreckens
3.2 Rekonstruktion des Körpers
3.3 Demonstration der Arbeitsfähigkeit

4 Beispiel „Kriegsbeschädigtermit Armprothese“
4.1 Beschreibung
4.2 Analyse
4.3 Konklusion

5 Fazit

6 Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Wenn man sich auf die Suche nach fotografischen Zeugnissen der Opfer des ersten Weltkrieges begibt, wird man schnell fündig. Die Menge an Fotografien ist enorm. Oft stößt man auf Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die bereits während des Krieges veröffentlicht wurden. Häufig findet sich auf den Fotografien die Figur des „Kriegsbeschädigten“, dessen fragmentierter Körper und seine Rekonstruktion in Szene gesetzt wurden. Rund 2,7 Millionen deutsche Soldaten erlitten im ersten Weltkrieg innere und äußere Schäden, erkrankten psychisch oder trugen durch Granatensplitter und Einschüsse so schwere Verletzungen davon, dass ihnen Gliedmaßen amputiert werden mussten1.

Kriegsinvalidität war kein Einzelschicksal, sondern trat als Massenerscheinung auf. Die vielen verletzten Soldaten verliehen der Realität des Krieges ein Gesicht. Die ständige Konfrontation mit den zerstörten Körpern zwang die Gesellschaft zur Auseinandersetzung mit der Gewalt des modernen Krieges. Der Einsatz von Senfgas, der im ersten Weltkrieg erstmalig erfolgte, markierte einen Wendepunkt in der Kriegsführung. Der chemische Kampfstoff verletzte und entstellte Heerscharen von Soldaten.

Staatliche Institutionen bedienten sich in dieser Zeit des Mediums Fotografie, um eine bestimmte Deutungsweise der versehrten Körper zu erzeugen. Die Bilder der Kriegsinvaliden wurden instrumentalisiert, um den Krieg für die Bevölkerung sichtbar zu machen und verletzte Soldaten im Sinne einer Vaterlands-Rhetorik als Kriegshelden zu porträtieren. Die Abbildung der Rekonstruktion verlorener Gliedmaßen hatte vor allem den Zweck, medizinisch-technische Aspekte darzustellen und die Möglichkeit der Wiederherstellung versehrter Körper zu betonen. Außerdem fungierten sie als unbestreitbarer Beweis für den Fortschritt der deutschen Medizintechnik und wurden im Kontext der Kriegsopferfürsorge zu Informationszwecken publiziert.

Die Abbildung der Kriegsinvaliden des ersten Weltkriegs entsprach speziellen Narrativen, die in der folgenden Arbeit dargestellt und analysiert werden sollen. Thematisch richtungsweisend ist hierbei die Frage, inwiefern Fotografie als visuelles Instrument der Vermittlung von Kriegserfahrung eingesetzt wurde. Die Arbeit findet ihren Abschluss in einem resümierenden Fazit.

2 Medizinische Fotografie von Kriegsinvaliden

2.1 Bedeutung der Prothetik

Der erste Weltkrieg konfrontierte die Gesellschaft in Deutschland mit einem bisher unbekannten Maß an Verletzten und Kriegsinvaliden. Aus der deutschen Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenstatistik von 1926 geht hervor, dass 66.934 Männer eins oder mehrere ihrer Gliedmaßen verloren. 2888 Männer büßten ihr Augenlicht ein. 620.026 Soldaten erlitten Lähmungen, Gasvergiftungen und innere Erkrankungen. 5410 Fälle von „Geisteskrankheit“ verzeichnet die Statistik außerdem.2 Die hohe Anzahl der Verwundeten erforderte eine Umorientierung in der Krüppelvorsorge. Hervorzuheben ist hier vor allem die Änderung der Zwecksetzung. Ging es in den Vorkriegsjahren hauptsächlich darum, einen ästhetischen Mangel zu beheben, zielte die prothetische Wiederherstellung während des ersten Weltkrieges vor allem auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ab3. Diese Umorientierung wurde bedingt durch den Arbeitskräftemangel, den die vielen verletzten Soldaten verursachten. Es fehlte an Lehren, Kaufleuten, Pfarrern, Juristen, Handwerkern und vielen mehr. Wurde der körperlichen Rehabilitation von beispielsweise Unfallopfern vor dem Krieg nicht viel Bedeutung beigemessen, ließ sich „der Krüppel“ in Zeiten des Krieges aufgrund des Arbeitskräftemangels nicht mehr ignorieren. Die „Versuche deutscher Orthopäden zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiedereingliederung der Kriegsversehrten leiteten eine Revolution der Prothesentechnik ein und schufen die moderne deutsche Orthopädie“4.

Dabei ging es den verantwortlichen Ärzten und Orthopäden allerdings nicht nur um ihren Beitrag zur Wiederherstellung des Soldatenkörpers, der stellvertretend für die geschlagene Nation stand. Profilierungs-, Karriere- und Machtinteressen spielten ebenso in die Prothesenentwicklung mit hinein. Daher überrascht es nicht, dass bei einer dreitägigen Konferenz über medizinische Strategien zur Heilung und Rehabilitation kriegsversehrter Veteranen nicht nur Orthopäden, Chirurgen, und Mediziner, sondern auch Repräsentanten des Militärs, der Schwerindustrie, Versicherungsangestellte, Architekten, Ingenieure und andere Berufsgruppen vertreten waren.5

Die Rekonstruktion Versehrter Körper und der Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit war in Zeiten des Krieges zu einer gesamtgesellschaftlichen Thematik geworden.

2.2 Enttabuisierung derVerletzung

Bevor die Fotografien der Kriegsbeschädigten Einzug in medizinische Publikationen fanden, wurden sie konsequent aus dem offiziellen Bilderfundus des Militärs herausgehalten - repräsentierten die verletzten Soldaten in ihrer Verwundbarkeit doch die grausame Seite des Krieges. Man befürchtete eine demoralisierende Wirkung der Bilder.6 Durch seine Verortung im medizinisch-technischen Kontext änderte sich die Konnotation des verletzten männlichen Körpers und erlebte eine gewisse „Neutralisierung“ in Bezug auf seine emotionale Komponente. Die Fotografie des Versehrten wandelte sich vom Sinnbild des grausamen Krieges zu einem Studienobjekt der Mediziner und Ingenieure. Verletzung wurde plötzlich darstellbar. Den Verantwortlichen gelang dabei ein raffinierter Schachzug: „Die Darstellung zielte darauf ab, den Krieg ins Bild zu setzen und ihn zugleich unsichtbar zu machen, indem man ihn in das unpolitische Feld der Medizin verschob“7. Die veränderte Perspektive ließ die grausamen Verstümmelungen in einem anderen Licht erscheinen. Durch den Filter des medizinischen Blickwinkels erschienen die Kriegsfolgen wie ein Problem, dem sich Ärzte und Ingenieure mit vereinter Kraft stellen wollten. Ich möchte in diesem Kontext auch die These aufstellen, dass die unabänderlich scheinende Endgültigkeit der zum Teil massiven Verletzungen auf den Fotografien überwunden wurde und einer Rhetorik der medizinischen Herausforderung wich.

Dabei wurde der Invalidenkörper auch zur Stabilisierung eines Werte- und Normensystems genutzt, das angesichts des im Krieg erlebten Verlustes ins Wanken geraten war8. Wirkte die bildliche Darstellung körperlicher Kriegsschäden auf die Bevölkerung bis dato verstörend und wurde als Verbildlichung des industrialisierten Kriegs verstanden, so verloren sie ihre Angst einflößende Wirkung durch die Einordnung in medizinische Wiederherstellungsprozesse. Der Schrecken des Krieges wurde mess- und behandelbar und trug so die Maske eines lösbaren Problems. Die Medienwissenschaftlerin Sabine Kienitz macht drei Bedeutungsebenen der Darstellung der Kriegsversehrten im medizinischen Kontext auf. Die Bilder fungierten als „die Überdeckung und Tabuisierung“ des blutigen Teil der Krieges, sie bewirkten „einen Akt der Reduktion“, indem sie im Forschungsfeld der medizinischen Fürsorge verortet wurden und sie dienten derVerdinglichung als Symbol des Krieges.9

2.3 Distributionswege der medizinischen Fotografie

Die Publikation medizinischer Fotografien von Kriegsbeschädigten, insbesondere die Darstellung ihrer Prothesen, erfolgte in unterschiedlichen Zusammenhängen. Besonders die Kriegsbeschädigtenfürsorge sah sich in der Pflicht, anhand von bildergestützten Aufklärungsschriften die Bevölkerung über das Schicksal der Kriegsinvaliden zu informieren. Innerhalb der Kampagne publizierte Hans Würtz 1915 eine schriftliche Dokumentation über die erfolgreiche Überwindung von körperlichen Behinderungen im Berufsleben.10 Intention des Textes war, das Verständnis für ein Leben mit Prothesen in der Bevölkerung zu werben. In die gleiche Richtung stieß auch der saarländische Bergrat E. Flemming, der ebenfalls 1915 die Schrift publizierte „Wie Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte auch bei Verstümmlungen ihr Leben verbessern können“11

Aber nicht nur im Dunstkreis der Kriegsbeschädigtenfürsorge publizierte man zum Thema Prothetik, auch in Zeitungen und in Fachzeitschriften unterschiedlicher Disziplinen rückten die Kriegsinvaliden in den Fokus. Tageszeitungen wie der „Vorwärts“ berichteten ausführlich über Informationsveranstaltungen, auf denen Experten über die Einsatzmöglichkeiten von Prothesen referierten. Doch die Experten aus Medizin und Industrie meldeten sich auch selbst zu Wort. In der „Zeitschrift für orthopädische Chirurgie“ veröffentlichte der Orthopäde Hermann Gocht 1916/17 einen zehnseitigen Artikel mit dem Titel „Allgemeine wichtige Regeln für den Ersatz fehlender Gliedmaßen und besondere Richtlinien für den Aufbau künstlicher Beine und Füsse“12

Besonders viele fotografische Darstellungen der Prothesentechnik und ihrer Träger fanden sich natürlich in Werbebroschüren der Prothesen-Hersteller. Eine Werbebroschüre zum Kugel-Gelenk-Arm mit Abbildungen von Kriegsbeschädigten des Vereins-Lazarett „Flora Düsseldorf“, die am 26. Juli 1915 im Rahmen einer Tagung des Tätigkeits­Ausschusses für Kriegsbeschädigtenfürsorge in Düsseldorf vorgestellt wurde, quillt geradezu über vor Fotos.

[...]


1 Whalen, „Bitter Wounds“, S. 55, 96

2 Gesamter Abschnitt über statistische Zahlen: Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S.21

3 Perry, „Brave Old World“, S- 149

4 Perry, „Brave Old World“, S- 149

5 Perry, „Brave Old World“, S- 147

6 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 214

7 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 215

8 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 215

9 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 215

10 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 193

11 Kienitz, Sabine „Beschädigte Helden“, S. 193

12 Gocht, „ Allgemeine wichtige Regeln für den Ersatz fehlender Gliedmaßen und besondere Richtlinien für den Aufbau künstlicher Beine und Füsse“, in: „Zeitschrift für orthopädische Chirugie“, S. 214-224

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Der Körper als Medium der Sinnstiftung
Untertitel
Fotografische Inszenierungen der technischen Rekonstruktion von Kriegsinvaliden des ersten Weltkrieges
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V201456
ISBN (eBook)
9783656273752
Dateigröße
1680 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prothetik, Krieg, Invaliden, Fotografie, Erster Weltkrieg, Medizin
Arbeit zitieren
Maximiliane Rüggeberg (Autor:in), 2012, Der Körper als Medium der Sinnstiftung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201456

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