Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nun mit folgender Frage: Wo kommen Frauen in der Ethnographie Südäthiopiens über ihre Existenz zu Wort? Einleitend soll ein kurzer Einblick in Ethnographien gegeben werden, in welchen die Dokumentation des Lebens der Frauen eine untergeordnete Rolle spielt. Anschließend beziehe ich mich in meiner Arbeit vor allem auf die Werke von Ivo Strecker und Jean Lydall, welche etliche Jahre im Land der Hamar in Südäthiopien lebten, forschten und einen wesentlichen Beitrag zur Dokumentation der Frauenstimmen in Südäthiopien lieferten. Im dritten Kapitel werden die Stimmen der Frauen in Hamar in Form von Gesängen und Tänzen beschrieben und auf die darin enthaltenen Sorgen und Probleme der Frauen eingegangen. Das vierte Kapitel beinhaltet eine Darstellung der Frauenstimmen in Jean Lydalls Filmen und steht somit, neben den Dokumenten aus der Literatur, als Beispiel für eine andere Art der Ethnographie. Im fünften Kapitel befasse ich mich, ausgehend von den Aussagen der Frauen in den Filmen, explizit mit einem bedeutenden Thema aus dem Lebensbereich der Frauen. Ausgewählte Frauen - und Männerstimmen sollen Einblicke in das Ritual des Schlagens der Frauen bei den Hamar und die Beziehungen der Geschlechter untereinander vermitteln. Abschließend beschäftige ich mich mit der Entwicklung verschiedener Dokumentationsweisen in Ethnographien, wobei unter anderem der Wandel von der monographischen zur polyphonen Ethnographie dargestellt wird.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
2. Schwerpunkte in den Ethnographien Äthiopiens
3. Frauen bei den Hamar in Südäthiopien
3.1. Frauenstimmen in Gesängen und Tänzen
3.2. Sorgen, Probleme und Humor der Frauen in Hamar
4. Frauenstimmen im ethnographischen Film
5. Das Schlagen der Frauen bei den Hamar
- Frauen - und Männerstimmen im Dialog
6. Entwicklung der Dokumentationsweisen in Ethnographien
Anhang: Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„(The ethnographer’s) goal is, briefly, to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realise his vision of his world. We have to study man, and we must study what concerns him most ultimately, that is, the hold which life has on him ... To study the institutions, customs, and codes or to study the behaviour and mentality without the subjective desire of feeling by what these people live, of realising the substance of their happiness, is, in my opinion, to miss the greatest reward which we can hope to obtain from the study of man.“ (B. Malinowski, 1922)[1]
In der Geschichte der Ethnologie waren Männer von Anfang an wesentlich stärker in der Forschung vertreten als Frauen. Da männliche Ethnologen ein großes Interesse für die Strukturen, Rituale und die Funktionen einer Gesellschaft zeigten und den Schwerpunkt der Forschung auf den männlichen Lebensbereich legten, blieb die weibliche Sphäre oft unbeachtet. Die Ethnographien beschrieben eine Welt, die hauptsächlich von Männern kontrolliert und definiert war.
Mit der Festigung der Position der Frauen in der Forschung ergab sich eine Verschiebung der Forschungsinhalte und eine Erweiterung ethnologischer Studien im Sinne Malinowskis. Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts untersuchten weibliche Ethnologen, wie Margaret Mead und Ruth Benedict, mit Vorliebe die Strukturen sozialer Beziehungen, besonders zwischen den Geschlechtern, und waren unter anderem an den Belangen und der Sichtweise der einheimischen Frauen interessiert. Mit dem Vormarsch der Geschlechterforschung in den westlichen Ländern entwickelte sich ein verstärkter Fokus auf das Leben der Frauen in anderen Kulturen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nun mit folgender Frage:
Wo kommen Frauen in der Ethnographie Südäthiopiens über ihre Existenz zu Wort?
Einleitend soll ein kurzer Einblick in Ethnographien gegeben werden, in welchen die Dokumentation des Lebens der Frauen eine untergeordnete Rolle spielt. Anschließend beziehe ich mich in meiner Arbeit vor allem auf die Werke von Ivo Strecker und Jean Lydall, welche etliche Jahre im Land der Hamar in Südäthiopien lebten, forschten und einen wesentlichen Beitrag zur Dokumentation der Frauenstimmen in Südäthiopien lieferten. Im dritten Kapitel werden die Stimmen der Frauen in Hamar in Form von Gesängen und Tänzen beschrieben und auf die darin enthaltenen Sorgen und Probleme der Frauen eingegangen. Das vierte Kapitel beinhaltet eine Darstellung der Frauenstimmen in Jean Lydalls Filmen und steht somit, neben den Dokumenten aus der Literatur, als Beispiel für eine andere Art der Ethnographie. Im fünften Kapitel befasse ich mich, ausgehend von den Aussagen der Frauen in den Filmen, explizit mit einem bedeutenden Thema aus dem Lebensbereich der Frauen. Ausgewählte Frauen - und Männerstimmen sollen Einblicke in das Ritual des Schlagens der Frauen bei den Hamar und die Beziehungen der Geschlechter untereinander vermitteln. Abschließend beschäftige ich mich mit der Entwicklung verschiedener Dokumentationsweisen in Ethnographien, wobei unter anderem der Wandel von der monographischen zur polyphonen Ethnographie dargestellt wird.
2. Schwerpunkte in den Ethnographien Äthiopiens
Etnographien von Expeditionen nach Südäthiopien, wie die Werke von Ad. E. Jensen „Altvölker Süd- Äthiopiens“ und die Ergebnisse der Frobenius - Expeditionen aus den Jahren 1950 - 52 und 1954 -56, welche in Helmut Straubes „Westkuschitische Völker Südäthiopiens“ veröffentlicht wurden, enthalten nur selten Beiträge zum Leben der Frauen in Südäthiopien. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag eindeutig auf der Männersphäre statt auf der Domäne der Frau. Das Interesse der Forscher beschränkte sich zu dieser Zeit hauptsächlich auf eine Untersuchung der sozialen Strukturen einer Ethnie und die Dokumentation der Arbeitsweisen. In Verbindung mit dem Lebenslauf[2] werden Frauen nur in kurzen Sequenzen erwähnt, doch ihre Position in der Gesellschaft wird nicht näher erörtert und Frauenstimmen lassen sich in diesen Ethnographien nicht finden. In Helmut Straubes Stammesmonographien der Tschako, Amerro, Sala, Djandjero und anderen werden Frauen meist nur im Zusammenhang mit der Heirat, der Geburt und in kurzen Passagen zur materiellen Kultur (Schmuck und Trachten) erwähnt. Diese Aspekte werden immer aus der Perspektive eines Mannes dargestellt, sei es der männliche Informant des Forschers oder der Forscher selbst, der berichtet, was er mit eigenen Augen sieht.[3] Die Stimmen der Männer werden an einigen Stellen in Form von Zitaten wiedergegeben, doch über Frauen sprechen die Ethnologen nur in der indirekten Rede. Teilweise stammen die Ergebnisse dieser Forschung, beispielsweise bei der Ethnie der Hamar und den Baschada, nur aus Erzählungen und basieren nicht auf einer detaillierten ethnologischen Studie in dieser Region.[4] Andere Faktoren, wie Dolmetschermangel und die geringe Auskunftswilligkeit der Leute erschwerten die Forschungen, woraus Ethnographien entstanden, welche sich meist nur auf Beobachtungen stützten. Die fehlende Insider - Perspektive wird durch die Sicht eines Außenstehenden ersetzt. Eine solche Forschung ist, meiner Meinung nach, interessant aber auch wesentlich stärker von den subjektiven Empfindungen des Ethnologen geprägt und repräsentiert das Denken und Fühlen des Volkes nur oberflächlich. Auch in Ethnographien späterer Forschungen, wie zum Beispiel „Age, Generation and Time“ von P. T. W. Baxter und Uri Almagor, findet das Leben der Frauen deutlich weniger Beachtung als das der Männer.[5] Weder die Stimmen der Frauen, noch eine adäquate Beschreibung der Lebensumstände der Frauen waren Bestandteil der Forschung.
In den folgenden Kapiteln beschäftige ich mich nun vorwiegend mit Ethnographien von Ivo Strecker und Jean Lydall, welche in den Jahren von 1970 - 1979 entstanden und wichtige Beiträge zu den Stimmen der Frauen in Südäthiopien beinhalten.
Die Hamar sind ein Volk von ungefähr 10- 15000 Siedlern im Südwesten Äthiopiens und leben auf einem dornbuschbestandenen Terrain, welches im Osten von dem Fluß Woito und im Westen vom Omo begrenzt wird. Sie wohnen in kleinen Gruppen in den Tälern und auf den umliegenden Hügeln, Bergen und Ebenen.
3. Frauen bei den Hamar in Südäthiopien
„Many more factual investigations of the relationship between anthropologists and their studies have to be carried out before we have at our disposal the analytical tools and categories permitting us to indicate more adequately the variables of the observer’s situation.“[6]
Ivo Streckers und Jean Lydalls erste Veröffentlichung „Work Journal“ aus der Reihe „The Hamar of Southern Ethiopia“ beschreibt die Kultur der Hamar bewußt aus der Sicht des Ethnologen. Die Arbeitsmethoden werden nicht verborgen, sondern mit all ihren Problemen erwähnt und die Entwicklung der Forschung dem Leser dargestellt.[7] Im Vordergrund steht die Interaktion zwischen dem Ethnologen und dem zu erforschenden Volk. Die in tagebuchform festgehaltenen Erlebnisse beinhalten, neben Eindrücken aus dem Lebensbereich der Männer, auch viele Beobachtungen, welche Frauen betreffen und ihr Leben widerspiegeln.[8] Der zweite Band dieser Reihe „Baldambe Explains“ hingegen zeigt das Leben Hamar aus der Insider - Perspektive. Balambaras Aike Berinas (Baldambe), ein Freund der Ethnologen, stellt seine Lebenswelt dar, indem er Erklärungen für Riten und Denkweisen der Hamar bietet. Der Fokus liegt auf dem einheimischen Sprecher. Baldambe bezieht den Leser mit in seine Welt ein, ohne aber Entscheidungen zu präjudizieren. Der Tod ist ein zentraler Punkt im Leben der Hamar und befindet sich deshalb thematisch in der Mitte des Textes. Am Anfang stehen der Ursprung, die Entstehungsgeschichte und die nachbarschaftlichen Beziehungen dieser Ethnie. Strecker unterscheidet in diesem Buch im vierten und fünften Kapitel in „A Man’s Talk“ und „Women’s Talk“. Anschließend geht er auf die Feldarbeit ein, welche eine wichtige Rolle im Leben der Frauen spielt. Obwohl, oder gerade weil diese Ethnographie die Sicht eines Hamar - Mannes darstellt, beschäftigt sie sich in vielen Punkten mit dem weiblichen Lebensrythmus. Baldambe beschreibt die Aufgaben der Frauen und Mädchen im Haushalt, auf den Feldern und ihre Pflichten in bezug auf die Kindererziehung. Er gewährt dem Leser außerdem realitätsnahe Einblicke in die Geschlechterbeziehungen und Heiratsregeln.[9] Frauenstimmen treten in Dialogform mit Männerstimmen und anderen Frauen auf und auch Themen wie Mädchenraub, Fruchtbarkeitsrituale und Schläge in der Ehe[10] werden angesprochen.
3.1. Frauenstimmen in Gesängen und Tänzen
Besonders ausdrucksvoll in „Baldambe Explains“ wird der Gesang der Frauen dargestellt. Die Mädchen singen in ihren Liedern über Freundinnen und Verwandte, das heißt über Leute aus ihrem näheren Umfeld, mit denen sie ihre Zeit verbringen. Meist singen sie zusammen und die Lieder bestehen aus kurzen Solophasen, gefolgt von einem gemeinsamen Refrain. Im Gesang der Frauen kommen ihre Stimmen in der reinsten Form zur Geltung, denn die Inhalte der Lieder spiegeln die Gefühle, Sorgen und das Denken der Frauen wider.
Eine junge Braut („uta“) verläßt den Hof ihres Vaters, um nach der Hochzeit bei ihrem Ehemann zu wohnen und für ihn die Felder zu bestellen. Mit dem „issaro“ Gesang[11] verabschieden sich die Frauen, welche im Gehöft des Vaters zurückbleiben:
„Io - Issario - o“ „eh eh“
„Play is left behind“ „eh eh“
„Now it’s someone else’s wide woman’s skirts“ „eh eh“
„Tomorrow she will be so - and - so’s mother“ „eh eh“
„She will leave the girl’s headdress“ „eh eh“
„She will create shoulders“ „eh eh“
„The dance will beleft behind“ „eh eh“
„Now she will be that fellow’s mother“ „eh eh“
„The head plate will be left behind“ „eh eh“
„From now on it will be the neck“ „eh eh“
„May they call her so - and - so’s mother“ „eh eh“
„Her skirts will be exchanged for those of some other man“ „eh eh“
„Io - Issario - o.“
Dieses Lied beschreibt den gravierendsten Punkt im Leben einer Frau. Mit der Heirat endet die unbekümmerte Zeit der Kindheit und Jugend („Play is left behind“, „Dance will be left behind“). Sie verläßt den elterlichen Hof mit all ihren Freunden. Von diesem Moment an ist sie „Eigentum“ des Mannes und somit auch verantwortlich für den Haushalt des Gatten. Es ist ihre Aufgabe und ihr Ziel, viele gesunde Kinder zu gebären („She will create shoulders“), die ihr die schwere Arbeit erleichtern können, welche sie sonst im wahrsten Sinne des Wortes auf ihren eigenen Schultern trägt. Auch auf äußere Veränderungen dieses Ereignisses wird im Gesang der Frauen eingegangen („The head plate will be left behind“). Der Mann fertigt für seine Frau später ein sogenanntes „binyere“ an, welches sie im Gegensatz zu dem Kopfschmuck der Kindheit, nun um den Hals trägt.[12] Im Gehöft des Mannes angekommen, legt die „uta“, nachdem ihr von der Schwiegermutter der Kopf rasiert wurde, ihre Mädchenkleidung ab. Bis zu diesem Zeitpunkt trug sie einen zweiteiligen Rock. Der Rock und die Perlen der Vorder - und Rückseite werden unter den Mädchen des neuen Gehöftes verteilt. Dann erhält sie ihre „uta“ - Kleidung, einen weiten Umhang („karke“), welchen sie um die Schultern trägt und an der Hüfte befestigt, und einen Rock, wie ihn verheiratete Frauen tragen. Ihr Körper wird mit Butter und rotem Ocker eingerieben.[13]
Weitere Lieder und Tänze der Frauen findet man in „Baldambe Explains“ im sechsten Kapitel, welches den Titel „In the fields“ trägt. In den einleitenden Gesängen, wie zum Beispiel dem Regenlied[14], bitten die Frauen um Regen, damit die Ernte besser gedeihen möge und der Hunger der Trockensaison vergessen werde. Mit diesem Lied rufen sie den Regen der ganzen Region herbei und bitten um „barjo“.[15]
[...]
[1] Strecker, Ivo, 1979: Conversations in Dambaiti, S. 5 - 6. Zitat nach B. Malinowski (1922).
[2] Jensen, Ad. E., 1959: Altvölker Süd - Äthiopiens - ‘Die Male’, S. 291.
[3] Jensen, Ad. E., 1959: Altvölker Süd - Äthiopiens - ‘Die Hamar’, S. 331 - 333 und S. 353 - 354.
[4] „Wir haben im Lande der Hammar nicht gearbeitet. Die Informationen stammen aus Unterhaltungen, die wir mit dem einen Häuptling der westlichen Hammar, kanjasmatsch Berinas, in Bako hatten, wo er im Gefängnis saß.“ „Wir sind nicht im Lande der Bashada gewesen.“ In: Jensen, 1959: S. 337 und 334.
[5] Die Stellung der Frau wird hier nur kurz in Zusammenhang mit dem Gada - System der Gabra untersucht.
[6] Strecker, Ivo, 1979: Work Journal, S. 7. Zitat nach J. Maquet (1964).
[7] Strecker nennt dies den „subjective account of fieldwork“ und orientierte sich unter anderem an Werken, wie zum Beispiel Laura Bohannans ‘Return to Laughter’.
In: Strecker, Ivo, 1979: Work Journal, S. 7.
[8] Vgl. dazu Einträge zu ‘women’, ‘child birth’, ‘fieldwork’ und ‘whipping’ im Index (S. 283) und Namensregister (S. 287) des Work Journals.
[9] Ebd., S. 140. Die Braut sagt: „I come from my father’s home with a brush for the goat kraal. May the goats multiply under my care.“
[10] Vgl. zu diesem Thema Kapitel 5: Das Schlagen der Frauen bei den Hamar.
[11] Strecker, Ivo, 1979: Baldambe Explains, S. 139 - 140.
[12] Vgl. dazu das „binyere“ - Ritual in Baldambe Explains, S. 145 - 155.
[13] Ebd., S. 140 - 141.
[14] Ebd., S.165 - 166.
[15] „barjo“ ist ein Schlüsselbegriff im Leben der Hamar und bedeutet so viel wie Glück.
„barjo äla“ beinhaltet die Schöpfungsphilosophie der Hamar, welche die Aufrechterhaltung des Universums in einem guten Zustand zum Ziel hat. Der Segen und die Anrufung von „barjo“ müssen immer wieder erneuert werden, um wirksam zu sein und Negatives, wie Hunger und Krankheit abzuwenden.
- Arbeit zitieren
- Lenka Tucek (Autor:in), 2000, Frauenstimmen in der Ethnographie Südäthiopiens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20050