Betrachtet man den Begriff der Freundschaft unter dem Aspekt von Politik und Privatheit, so stellt sich die Frage, ob ein scheinbar so amorpher Begriff wie Freundschaft heute noch politische Bedeutung beanspruchen kann. Für Aristoteles bestand an dieser Relevanz nicht der geringste Zweifel. Freundschaft war für ihn eine gleichermaßen staatsbügerliche Praxis und Beziehungsform welche durch wechselseitige ökonomische Interdependenz sozialen Zusammenhalt stiftet und den Kern der Vergesellschaftung bildet. Wie ist es heute um jenes vergemeinschaftende und staatsbürgerliche Potential der Freundschaft bestellt? Jacques Derridas "Politik der Freundschaft" versucht den Begriff gerade durch das Denken seiner inhärenten Aporien wieder als politische Kategorie fruchtbar zu machen.
Wie privat ist das Politische noch? Oder: Kann Freundschaft noch als politische Kategorie gedacht werden?
Eines der meistzitierten Vermächtnisse der bundesrepublikanischen Protestbewegung der 1960er Jahren finden wir auch heute noch in der bekannten Formel "Das Private ist politisch" vor. Darin kulminiert die Vorstellung, dass persönliche Beziehungen, Denken und Techniken der Lebensführung stets den Kern der gesellschaftlichen Relevanz in sich tragen. Dies geschieht vermeintlich dadurch, dass Formen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft ihren Ursprung in der Sphäre des Privaten haben und dort reproduziert werden. Betroffen sind Fragen des Zusammenlebens, der Beziehungsführung und der Kultivierung von Alltagstechniken. Das Private ist gemäß jenem Diktum aber insbesondere eine Keimzelle des Politischen, weil dort entscheidende Lernprozesse mit gesellschaftlicher Relevanz stattfinden: Jean Piaget und Lawrence Kohlberg haben die Entwicklung von primitiven zu differenzierten Moralstufen beim Kleinkind rekonstruiert, welche Jürgen Habermas wiederum als empirisches Supplement für seine Theorie einer vernunftgeleiteten kommunikativen Rationalität nützlich waren. Auch diese bietet - obgleich sie nie direkt am Begriff der Freundschaft arbeitet - ein reichhaltiges theoretisches Instrumentarium für den normativen Gehalt zwischenmenschlicher Beziehungen.[1]
Betrachtet man die Frage nach der Freundschaft unter dem Aspekt von Politik und Privatheit, so stellt sich die Frage, ob ein so amorpher Begriff wie Freundschaft heute noch politische Bedeutung beanspruchen kann. Für Aristoteles bestand daran, wie wir wissen, nicht der geringste Zweifel. Freundschaft war für ihn eine gleichermaßen staatsbügerliche Praxis und Beziehungsform welche durch wechselseitigeökonomische Interdependenz sozialen Zusammenhalt stiftet, ja, den Kern der Vergesellschaftung bildet. Wie sieht ist es heute um jenes vergemeinschaftende und staatsbürgerliche Potential der Freundschaft bestellt? Die Freundschaft scheint sich in westlichen Staaten zum Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem einer durchweg positiven Hochkonjuntur in der medialen Repräsentation des Privaten zu erfreuen. An populärpsychologischer Literatur zu richtigem Verhalten oder dem Umgang mit Krisen in Freundschaften herrscht kein Mangel. In Hollywood feiert unterdessen die sogenannte "Buddy-Comedy" ein erstaunlich erfolgreiches Revival.[2] Gegenüber Anderen scheint eine Vielzahl von Freunden als Ausweis und Bestandteil eines gelungenen Privatlebens und sozialer Anerkennung sehr bedeutsam. Wenn man sich daran erinnert, was Michel Foucault mit seinem Schlagwort der "Bekenntnissexualität" meinte, nämlich das unverblümte Sprechenüber die Intimitäten des Privatlebens als ein gesellschaftlich enttabuisiertes Gebot, so könnte man heute durchaus analog von einem gestiegenen Hang zur "Bekenntnisfreundschaft" sprechen. Denn Freunde suggerieren nicht nur soziale Anerkennung, sondern - wie uns die Werbung für diverse Lebensbereiche vom gemeinsamen Grillen bis zum Segeltrip zeigt - auch Aktivität, Unternehmenslust und Spaß. Freunde bieten uns etwas - Zeit, Ressourcen, nützliche Kenntnisse und Fähigkeiten - und wir selbst bieten Freunden etwas. Ohne in den Kulturpessimismus mancher Gouvernementalitätstheorien abdriften zu wollen, lässt sich angesichts dessen durchaus konstatieren: Freunde zu haben ist ein Modus der Lebensführung, der dem "unternehmerischen Selbst" (Ulrich Bröckling) insofern entspricht, als er permanentes Management im Privaten erfordert. Zeit wird aufgeteilt, Freundschaften müssen "gepflegt" werden, indem mindestens soviel Zeit investiert wird, dass die Freundschaftsbeziehung nicht an zu geringer Intensität scheitert. Vielfältige Anforderungen an biographische Flexibilität (etwa Wohnortwechsel aus beruflichen Gründen) können dieses Scheitern in einer Ära befördern, in der Arbeitnehmer vielfach zu Arbeitskraftunternehmern werden. Vetlesen bringt dieses Paradox der Freundschaft in der Gegenwart auf den Punkt, wenn er schreibt: "Die Faktoren, die dafür verantwortlich sind, das man Freunde braucht, sind die gleichen, die zu verhindern drohen, daß Freundschaftüberhaupt entstehen kann."[3] Die Freundschaft wird hier zwar als abhängige Variable gesellschaftlicher Verhältnisse gedacht und Vetlesen versucht Freundschaft auch als normativen Wert zu denken, von einem Denken der Freundschaft als einer dezidiert ethischen oder politischen Kategorie ist er jedoch weit entfernt. Ein explizit politisches oder normatives Moment von Freundschaften scheint heute nicht mehr ohne weiteres lokalisierbar. Das Fehlen einer großen Narrationüber die Freundschaft wird noch dadurch verschärft, dass es nach Aristoteles nie eine konsistene Theorie der Freundschaft sondern lediglich theoretische und essayistische Fragmente gibt. Lässt sich also Freundschaft gegenwärtigüberhaupt noch als Bestandteil einer politischen Ethik denken?
Meiner Ansicht nach haben die Sozialwissenschaften zwei Möglichkeiten, diesem Dilemma der Freundschaft zu begegnen. Erstens können sie mit sozialphilosophischer Kritik Pathologien der modernen Gesellschaft beschreiben, welche sich auf die Beschaffenheit von intersubjektiven Beziehungen auswirken. Dabei wird, meist im Rekurs auf Hegel, ein normativ richtiges Ideal von Freundschaft entwickelt und mit der empirischen Realität sozialer Beziehungen in der Gegenwartsgesellschaft verglichen. Diesen Weg, bei dem Freundschaft ex negativo als defizitär kritisierbar ist, schlägt etwa Axel Honneth mit seinem Projekt der Identifizierung von pathologischen Anerkennungsdefiziten ein, auch Vetlesen steht mit seinem Aufsatz in dieser Denktradition. Honneth rekurriert dabei auf Hegels Theorie der intersubjektiven Wertschätzung, ausgehend von der These, dass "ein Selbstbewußtsein [...] seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein"[4] finden kann. Hegel geht also davon aus, dass sich ein erfülltes Dasein erst im Spiegel der Anerkennung eines anderen Subjekts verwirklichen lässt. Dies ist natürlich ein starkes normatives Argument für die Relevanz der Freundschaft. Die Sozialphilosophie Frankfurter Prägung wird sich mit dieser Kritik ex negativo bei aller normativen Ambition eines "richtigen" (im Sinne von nichtpathologischen) Freundschaftsbegriffs dennoch schwer tun, Freundschaft wieder als politischen Faktor zu denken. Die Reformulierung Hegelscher Begriffe für Problemstellungen der Gegenwart erlaubt sozialkritische zeitdiagnostische Analysen, ob sie ausreicht den Begriff der Freundschaft wieder als politische Kategorie zu reformulieren, bleibt meiner Ansicht nach zweifelhaft. Mit dem einseitigen Rekurs auf eine "Selbstverwirklichung im Spiegel des Anderen", muss sich die Sozialphilosophie den Vorwurf der Naivität gefallen lassen. Sie ist aus methodischen Gründen, nämlich um Kritik im Vergleich zum Nichtpathologischen zuüben, blind für die Aporien der Freundschaft: Fragilität, Verlogenheit, verborgene Kränkung, Nicht-Aussprechbares, unterschwelliger Hass, traumatische Vereinnahmung durch den Freund.
Als zweiten und möglicherweise aussichtsreicheren Ausbruchsversuch aus dem erwähnten Dilemma möchte ich Jacques Derridas Buch "Politik der Freundschaft" (2000) werten, denn er hat sich gerade mit jenen schwerwiegenden Aporien der Freundschaft beschäftigt und versucht dennoch und gerade daraus eine politische Freundschafts-Ethik zu reformulieren, indem er seine Analyse mit einer Kritik der Politik verbindet. Ich werde deshalb versuchen zu zeigen, wie Jacques Derrida den Versuch einer Repolitisierung der Freundschaft unternimmt, der in der Lage ist, Freundschaft wieder als Kategorie der politischen Öffentlichkeit zu denken.
[...]
[1] So etwa der Aufsatz "Überlegungen zur Kommunikationspathologie", in dem eine brillante sprachphilosophische Analyse freundschaftlicher Verletzungspotentiale in Streitsituationen enthalten ist. Vgl. Jürgen Habermas (1974): Überlegungen zue Kommunikationspathologie. In: Ders: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main, 1984, S. 226-272.
[2] Dabei handelt es sich um ein Genre der Komödie, bei der meist männliche Freundesgruppen in alkoholisierter Verfassung Abenteuer durchleben und am Ende erschöpft aber glücklich resümieren, was man daraus gelernt hat. Freundschaft erscheint hier als hedonistischer Raum, in dem man mit den besten Freunden hemmungslosüber die Stränge schlägt und anschließend vertrauensvoll seine Sünden beichtet - natürlich ebenfalls den Männerfreunden und nicht den zuhause gebliebenen Ehefrauen. Symptomatisch und genredefinierend hierfür ist etwa die US-Produktion "The Hangover" (2008).
[3] Vetlesen 2008: 179
[4] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes, Werksausgabe Bd, 3,144, zit. nach Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung.
- Quote paper
- Christian Müller (Author), 2011, Zur Repolitisierung des Privaten in Jacques Derridas Denken der Freundschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199861
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