Transitional Justice unter dem Regime Hun Sens: Der Kriegsverbrecherprozess in Kambodscha


Magisterarbeit, 2010

130 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Konzept Transitional Justice
2.1 Definition, Kernanliegen, Zielsetzungen
2.2 Die historische Entwicklung von Transitional Justice
2.3 Rechtssprechung im Rahmen von Transitional Justice
2.4 Transitional Justice und gesellschaftliche Versöhnung
2.5 Zivilgesellschaftliche Akteure im Kontext von Transitional Justice

3 Die ECCC
3.1 Die Entstehungsgeschichte der ECCC
3.2 Der institutionelle Aufbau, die Zusammensetzung, und die Mehrheitsfindung in den ECCC
3.3 Die Angeklagten und ihre Verteidigung
3.3.1 Die Angeklagten
3.3.2 Die Veteidigung
3.4 Straftatbestände und Stellung im kambodschanischen Rechtssystem
3.4.1 Straftatbestände
3.4.2 Stellung im kambodschanischen Rechtssystem
3.5 Die Rekrutierung des Personals der ECCC und ihre immanenten Folgen
3.5.1 Gesetzliche Grundlagen, für die Rekrutierung relevante Institutionen, und Auswahlkriterien des Personals
3.5.2 Korruptionsvorwürfe bei den ECCC
3.6 Die Beteiligung von Opfern im Rahmen der ECCC – Zeugen, Nebenkläger, Opfervereinigungen
3.6.1 Zeugenschaft und Zeugenschutz
3.6.2 Die Nebenklage, ihre Aussicht auf Reparationen, und ihr Rechtsbeistand

4 Die Umsetzung von Transitional Justice in Kambodscha
4.1 Die Haltung der kambodschanischen Regierung gegenüber den ECCC
4.2 Der Versöhnungsprozess in Kambodscha

5 Die kambodschanische Zivilgesellschaft, die politische Kultur Kambodschas, und die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure im Kontext der ECCC
5.1 Die kambodschanische Zivilgesellschaft: Probleme und Herausforderungen
5.2 Die politische Kultur Kambodschas
5.3 Zivilgesellschaftliche Akteure im Kontext der ECCC
5.3.1 Gerichtsmonitoring durch NGOs
5.3.2 Informations- und Öffentlichkeitsarbeit durch NGOs
5.3.3 Psychosoziale Dienste durch NGOs – das Beispiel der TPO
5.4 Bewertung des zivilgesellschaftlichen Engagements

6 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis
Primärquellen
Sekundärliteratur

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung des Königreichs Kambodscha wurde 2006 ein Gerichtshof etabliert, der sich mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von Verbrechen befasst, die in der Zeit des „Demokratischen Kampuchea“ unter Pol Pots Regime der Khmer Rouge zwischen April 1975 und Januar 1979 begangen wurden: die Extraordinairy Chambers in the Courts of Cambodia (im folgenden ECCC). Nach über 30 Jahren der Straffreiheit sollen nun also fünf mutmaßliche Hauptverantwortliche und Anführer der Khmer Rouge für Straftatbestände zur Rechenschaft gezogen werden, die unter anderem Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen. Die ECCC werden aber darüber hinaus auch als Möglichkeit zur Stabilisierung des kambodschanischen Rechtsstaats, und als Beitrag zur Versöhnung der kambodschanischen Gesellschaft betrachtet.

Einerseits soll eine enge kambodschanisch-internationale Kooperation für einen Wissenstransfer sorgen, sodass kambodschanische Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte fortan über profunde Kenntnisse der Verfahrensführung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfügen. Dieser Aspekt ist signifikant, da das kambodschanische Rechtssystem als korrupt und politisch abhängig gilt. In der Folge der Herrschaft der Khmer Rouge, und der anschließenden vietnamesischen Besatzungszeit mangelt es der kambodschanischen Judikative zudem insgesamt an Expertise und Erfahrung. Die ECCC stehen deshalb in der Erwartung, unabhängige und faire Verfahren zu gewährleisten.

Andererseits wurde den Opfern der Khmer Rouge unter gewissen Voraussetzungen eine direkte Verfahrensbeteiligung als Nebenkläger ermöglicht, die über die Stellung als Zeuge vor Gericht hinausgeht. Eine Beteiligung als Nebenkläger kommt nicht nur der offiziellen Anerkennung der Opferschaft gleich, sie impliziert darüber hinaus in begrenztem Ausmaß auch die Aussicht auf Reparationen. Indem das Gericht über die Verbrechen der Khmer Rouge urteilt und Vergeltung ausübt, wird den Opfer des Regimes Genugtuung zuteil.

Die Gerichtsverfahren sollen einen Schlussstrich unter die lange Phase der Straffreiheit in Kambodscha ziehen. Hierin wird ein Ansatz zur Unterbrechung des Kreislaufs aus Gewalt und Gegengewalt gesehen. Eine solche Maßnahme scheint in Kambodscha dringend erforderlich zu sein, da die kambodschanische Gesellschaft noch immer an den Auswirkungen der konfliktreichen jüngeren Geschichte leidet. So werden zum Beispiel Phänomene wie die in Kambodscha weit verbreitete häusliche Gewalt als eine Folge der nicht aufgearbeiteten Verbrechen der Khmer Rouge, und der vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit angesehen. Das unprofessionelle, parteiische und korrupte Rechtssystem bedingt darüber hinaus, dass Selbst- und Lynchjustiz in Kambodscha durchaus gängige Praktiken sind.

Die Herrschaft der Khmer Rouge ist dabei nur ein Aspekt dieser gewalttätigen Vergangenheit, und als Folge der Kolonialgeschichte und der Verstrickung des Landes in den Vietnam-Krieg zu betrachten. Zu Beginn des Jahres 1979 beendete die vietnamesische Invasion Kambodschas zwar die relativ kurze Herrschaft der Khmer Rouge, unter denen etwa 25-30% der Bevölkerung an Unterernährung, den Folgen der Zwangsarbeit, sowie an staatlicher Folter oder durch Exekutionen starben. Die Invasion stellte jedoch zugleich den Beginn des kambodschanischen Bürgerkriegs dar. Vietnam zog sich 1989 aus Kambodscha zurück, sodass im Zuge der Demokratisierungswelle nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auch in Kambodscha ein Prozess der Transformation von einer sozialistischen Volksrepublik hin zu einer liberalen Demokratie angestoßen wurde. Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Paris 1991 durch die Bürgerkriegsparteien, und die darauf folgenden UN-Missionen UNAMIC[1] und UNTAC[2] 1991-1993 führten am 23.05.1993 zur Durchführung von freien, gleichen und geheimen Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung. Diese arbeitete noch 1993 eine neue Verfassung aus, und erklärte sich danach zur kambodschanischen Nationalversammlung. Die Konsolidierung der verfassungsmäßigen Demokratie wurde jedoch vom Wiederausbruch des Bürgerkriegs überschattet, in dessen Folge die damalige kambodschanische Regierung vor allem die Befriedung des Landes als oberste Priorität ansah. Zu diesem Zweck wurden Angehörige der Khmer Rouge amnestiert und integriert. Dennoch zog sich der Bürgerkrieg noch bis zum Ende des Jahres 1998 hin.

Die demokratische Konsolidierung wurde jedoch nicht nur von den andauernden Kämpfen hinausgezögert, sondern auch durch den Bruch der ursprünglichen Regierung Kambodschas im Juli 1997 erschwert. Wurde Kambodschas Regierung bis dahin von zwei gleichberechtigten Ministerpräsidenten der Koalitionsparteien FUNCINPEC[3] und CPP[4] geleitet, so hatte der zweite Ministerpräsident Hun Sen diesen Kompromiss der UNTAC durch einen Putsch gegen den ersten Ministerpräsidenten Ranariddh zunichte gemacht. Dies sollte sich nicht nur auf die Art und Weise der Herrschaftsausübung in Kambodscha auswirken, sondern beeinflusste auch die Verhandlungen zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung im Vorfeld der Etablierung der ECCC maßgeblich.

Auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich Kambodscha noch immer nicht als eine funktionale Demokratie bezeichnen. Vielmehr droht die Systemtransformation gänzlich zu scheitern, was die jahrelangen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft und die Hoffnungen der kambodschanischen Bevölkerung auf eine Demokratisierung des Landes gänzlich zunichte machen würden. Während die hier in aller Kürze geschilderte jüngere Geschichte Kambodschas unmittelbar für die Unterentwicklung des Landes in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verantwortlich zu sein scheint, ist eine Vielzahl von weiteren Faktoren für den aktuellen Zustand der kambodschanischen Demokratie und Gesellschaft relevant. Die erwähnte schlechte Verfassung der kambodschanischen Judikative kann zum Beispiel nicht nur durch die mangelnde Expertise begründet werden, sondern muss auch als Ergebnis der Regierungspolitik begriffen werden. Unter diesen Voraussetzungen findet nun also ein Kriegsverbrecherprozess statt, der nicht nur sehr wenige Khmer Rouge zur Rechenschaft ziehen, sondern darüber hinaus das kambodschanische Rechtssystem stärken, und die kambodschanische Gesellschaft versöhnen soll.

Die ECCC als Kriegsverbrechertribunal stellen einen von mehreren möglichen Ansätzen des Konzepts Transitional Justice dar, dass im Zuge von Konflikt- und/oder Systemtransformationen die Herstellung von Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit, die Aufarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit, die gesellschaftliche Versöhnung, und die Stärkung demokratischer Institutionen fördern soll. Die Vorstellung dieses Konzepts, seiner Ansätze und Zielsetzungen soll daher der Einstieg in meine Arbeit sein. Nach einer Darstellung der historischen Entwicklung von Transitional Justice, möchte ich näher auf den Aspekt der Rechtssprechung eingehen, der im kambodschanischen Fall besondere Relevanz erfährt. Daraufhin soll erörtert werden, inwiefern Transitional Justice zur gesellschaftlichen Versöhnung beitragen kann. Danach soll eine aktuellere Debatte aufgegriffen werden, die auch im kambodschanischen Fall Bedeutung erlangt. Konkret beschäftigt sich diese mit der Öffnung von Transitional Justice-Ansätzen für zivilgesellschaftliche Akteure, sodass diese den Prozess für sich vereinnahmen können. Die stärkere Berücksichtigung lokaler, zivilgesellschaftlicher Akteure soll Spielräume zur Gestaltung der Vergangenheitsaufarbeitung schaffen, und dem Prozess sozusagen Legitimität von unten verschaffen.

Im nächsten Teil meiner Arbeit befasse ich mich mit den ECCC selbst. Dabei soll zuerst die Entstehungsgeschichte geschildert werden. Hier wird nicht nur deutlich, dass die Umsetzung von Transitional Justice-Maßnahmen den lokalen Gegebenheiten Rechnung tragen muss. Darüber hinaus weist die Verhandlungsführung der kambodschanischen Regierung bereits auf deren Haltung zu einer umfassenden Aufarbeitung der Vergangenheit hin. Daraufhin werde ich den institutionellen Aufbau der ECCC, die Mehrheitsverhältnisse und den Mechanismus der Mehrheitsfindung vor Gericht darstellen. Die folgende Präsentation der Angeklagten und ihrer Verteidigung ermöglicht bereits einen ersten Eindruck, ob die ECCC wirklich faire Verfahren gewährleisten können. Im weiteren Verlauf werde ich die relevanten Straftatbestände vorstellen, und die Stellung der ECCC im kambodschanischen Rechtssystem erörtern. Diese macht eine genauere Schilderung der Rekrutierung des Personals und ihrer immanenten Folgen notwendig. Da die ECCC nicht nur den kambodschanischen Rechtsstaat stabilisieren, sondern auch zur gesellschaftlichen Versöhnung beitragen sollen, werde ich weiterhin darstellen, inwiefern die Opfer der Khmer Rouge als Zeugen und Nebenkläger fungieren können, und inwieweit Nebenkläger Aussicht auf Reparationen haben.

Im Anschluss soll ein erstes Zwischenfazit erfolgen. Dieses fasst einerseits die Haltung der kambodschanischen Regierung gegenüber den ECCC zusammen, und bewertet, ob die ECCC als Ansatz zur Stabilisierung des Rechtsstaats in Kambodscha fungieren können. Vor diesem Hintergrund soll andererseits eingeschätzt werden, ob die ECCC zur gesellschaftlichen Versöhnung in Kambodscha beitragen, wobei das Beispiel Kambodschas auf einen idealtypischen Versöhnungsprozess übertragen wird.

Der letzte Teil meiner Arbeit gilt dem zivilgesellschaftlichen Engagement im direkten oder weiteren Zusammenhang mit den ECCC. Dabei erfolgt zuerst eine Darstellung des Zustandes der kambodschanischen Zivilgesellschaft, die Aufschluss über deren Probleme und Herausforderungen gibt, jedoch auch positive Aspekte aufweist. Um das Potential der zivilgesellschaftlichen Einbindung und Gestaltung im Zusammenhang mit den ECCC bewerten zu können, soll in der anschließenden Beschreibung der politischen Kultur Kambodschas aufgezeigt werden, inwiefern der kambodschanischen Gesellschaft das Potential eines kritischen Bürgertums innewohnt, das der Regierung Rechenschaft abverlangen könnte. Daraufhin sollen die verschiedenen Aktivitäten mit Bezug zu den ECCC erläutert werden. Hierzu wähle ich einen etwas allgemeineren Einstieg, bevor ich einzelne Tätigkeitsfelder und Projekte genauer vorstelle.

Die Hauptthese meiner Arbeit lautet, dass von den ECCC im Sinne des Konzepts Transitional Justice zwar positive Impulse zur Stabilisierung des Rechtsstaats und zur gesellschaftlichen Versöhnung in Kambodscha ausgehen können. Diese werden jedoch von der Regierungspolitik Hun Sens konterkariert, sodass das Gericht nicht unabhängig arbeiten kann, und dass eine weitgehende Aufarbeitung der Verbrechen der Khmer Rouge verhindert werden soll. Unter Berücksichtigung des Zustandes der kambodschanischen Zivilgesellschaft, und der politischen Kultur Kambodschas, soll allerdings herausgestellt werden, dass besonders den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit den ECCC emanzipatorisches Potential innewohnt. Dies betrifft die Verfassung der Zivilgesellschaft selbst, sodass die geknüpften Netzwerke, die gewonnene Expertise und die verbesserte räumliche Präsenz längerfristig dazu führen können, dass die Regierung in stärkerem Maße als bisher dazu gezwungen wird, Rechenschaft über ihre Herrschaftsausübung abzulegen.

2 Das Konzept Transitional Justice

2.1 Definition, Kernanliegen und Zielsetzungen

Das Konzept Transitional Justice darf nicht als eine enge und geschlossene Theorie oder als besondere Form der Rechtssprechung betrachtet werden, sondern stellt vielmehr einen Überbegriff für verschiedene Maßnahmen im Zuge von Systemtransformationen dar, die allesamt auf die Herstellung von Gerechtigkeit, auf die Anerkennung von Opfern nach weitreichenden Menschenrechtsverletzungen, und auf die Beförderung von Frieden, Aussöhnung und Demokratie abzielen (vgl. ICTJ 2008: 1).

Eine allgemein gültige und anerkannte Definition von Transitional Justice existiert dabei nicht, weshalb unter engen und weiten Auffassungen des Konzepts unterschieden werden kann (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 13). Die Bezeichnung an sich, so Bickford, könne irreführend sein, da die Anwendung einer spezifischen Rechtssprechung impliziert werde, wobei doch eher von „justice during transition“ (Bickford 2005: 1046) die Rede sein müsse. Er beschreibt Transitional Justice daher wie folgt: „ Transitional Justice refers to a field of activity and inquiry focused on how societies address legacies of past human rights abuses, mass atrocity, or other forms of severe social trauma, including genocide or civil war, in order to build a more democratic, just, or peaceful future. “ (Bickford 2005: 1045) Alle unterschiedlichen Definitionen und Akzentuierungen weisen jedoch Gemeinsamkeiten auf. Diese betreffen die zentrale Stellung, die Menschenrechtsverletzungen eingeräumt wird, die Einbettung in einen Kontext der Transformation (Konflikt- und/oder Systemtransformation), sowie die langfristige Vision einer demokratischen, gerechten und friedlichen Zukunft (vgl. Kayser-Whande 2008: 14).

Zu den grundsätzlichen Schwerpunkten von Transitional Justice gehört zuerst die Herstellung von Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit und Rechenschaft. Dies soll häufig durch juristische Ansätze erreicht werden. Darüber hinaus stellt die Wahrheitsfindung ein wesentliches Element von Transitional Justice dar. Weitere bedeutende Kernelemente sind Strategien zur Wiedergutmachung für erlittene Schäden, Erinnerungspolitik, sowie die Reform staatlicher Institutionen. Insgesamt soll somit sichergestellt werden, dass die betroffene Gesellschaft aus der eigenen Vergangenheit gelernt hat, sodass es zukünftig nicht mehr zu weitgehenden Menschenrechtsverletzungen kommt (vgl. Bickford 2005: 1045). Verschiedene juristische und nicht-juristische Maßnahmen sollten zu diesem Zweck miteinander kombiniert werden, sodass ein multidisziplinärer und ganzheitlicher Ansatz entsteht. Dabei existiert zwar eine Basis verschiedener Maßnahmen, die jedoch immer erweitert werden kann, da häufig Anregungen und Projekte direkt in den betroffenen Staaten und Gesellschaften entwickelt werden (vgl. ICTJ 2008: 1f.). Jede Gesellschaft, so das ICTJ[5], müsse letztlich ihren eigenen Weg zum Umgang mit der Vergangenheit finden (vgl. ICTJ 2008: 3). Dabei stellen Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Familien eine wesentliche Zielgruppe von Transitional Justice dar, da in dieser Gruppe die Bedürfnisse nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung besonders groß sind (vgl. Bickford 2005: 1045).

Eine besondere Verantwortung bei der Durchführung aller Maßnahmen, die eine Wiederholung der Geschichte verhindern sollen, liegt zuerst bei den betroffenen Staaten selbst (vgl. ICTJ 2008: 2). Besonders im Rahmen einer Systemtransformation nach massenhaften Menschenrechtsverletzungen haben Staaten Pflichten, deren Einhaltung der Befriedung und Versöhnung einer Gesellschaft dienen. Zu diesen Pflichten gehören die Beendigung von Menschenrechtsverletzungen und die Aufarbeitung derselben, die Identifizierung und Sanktionierung von Verantwortlichen, sowie die Bereitstellung von Reparationen für Opfer (vgl. Bickford 2005: 1045).

Wie erwähnt handelt es sich bei Transitional Justice nicht um ein Konzept, das nach dem immer gleichen Muster eine Patentlösung zum Umgang mit Postkonfliktsituationen und zerrissenen Gesellschaften bietet. Eine einheitliche theoretische Grundlage existiert aufgrund des multidisziplinären Charakters des Konzepts noch nicht, obwohl Transitional Justice zunehmend im Fokus des wissenschaftlichen Interesses steht (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 55). Die gesellschaftlichen Auswirkungen von Transitional Justice-Prozessen sind zudem momentan noch zu ungenau erforscht (vgl. Gibson et al 2009:1). Dies mag seine Begründung in der hohen Abhängigkeit von internen und externen Faktoren haben, die den Erfolg von Transitional Justice determinieren.

Insgesamt wird Transitional Justice als Ansatz zur Beendigung einer Kultur der Straflosigkeit mit einer präventiven Funktion für die Zukunft betrachtet. Durch die Aufarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit sollen Institutionen entweder gestärkt, oder neu etabliert werden, sodass zukünftige Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden können. Das Konzept orientiert sich hierbei am Ideal einer demokratischen, friedlichen und versöhnten Gesellschaft (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 14f.). Dabei unterliegen Transitional Justice-Maßnahmen aber immer der Gefahr politischer Instrumentalisierung: „ Transitional Justice ist [...] kein neutraler, technokratischer Vorgang, sondern ein höchst politisches Konzept, das in einem höchst politischen Umfeld operiert, und bedarf daher einer sorgfältigen Abwägung der Machtinteressen der verschiedenen Akteure. “ (Buckley-Zistel 2007: 7)

Wie ich nun schildern werde, unterlag das Konzept bis zu seiner jetzigen Ausgestaltung wechselnden Akzentuierungen. So ist die gegenwärtige Fokussierung von Opfern, die Kombination verschiedener Maßnahmen, oder die langfristige Zielsetzung der gesellschaftlichen Aussöhnung ein Ergebnis der phasenweisen Entwicklung des Konzepts. Der aktuelle Stand, nach dem auf jede Situation ein eigener Ansatz maßgeschneidert werden kann (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 12), ist Ausdruck der Tatsache, dass sich das Konzept nach wie vor im Wandel befindet. Dies beinhaltet jedoch die Gefahr, dass die gewählten Maßnahmen nicht immer perfekt und funktional sind. Vielmehr kommt es bei Transitional Justice-Prozessen auf den Versuch an, durch kreative Lösungen der Lage der betroffenen Gesellschaft gerecht zu werden (vgl. Dickinson 2003: 310).

2.2 Die historische Entwicklung von Transitional Justice

Die Bestrafung von Anhängern oder Repräsentanten des alten Regimes nach verlorenen Kriegen oder Machtwechseln hat seinen Ursprung bereits in der griechischen Antike. Als erste Maßnahme im Sinne von Transitional Justice, auch wenn eine derartige Bezeichnung zur damaligen Zeit noch nicht existierte, werden jedoch die Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen.

Hier, so Teitel, hätten Gerichtsverfahren erstmalig darauf abgezielt, eine weitgehend normative Unterscheidung zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Gewaltanwendung zu treffen (vgl. Teitel 2000: 29). Zudem stellten die Tribunale von Nürnberg und Tokio einen Präzedenzfall dar, der ein Umdenken von nationalen zu internationalen Prozessen, und von kollektiver Verantwortung hin zu individueller Verantwortung bewirkt habe (vgl. Teitel 2000: 31). Die vorrangige Stellung, die dem internationalen Völkerstrafrecht gegenüber der nationalen Rechtssprechung eingeräumt wurde (vgl. Schulz 2009: 7), wird als Durchbruch bewertet, da Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen fortan nach Völkerstrafrecht verfolgt werden konnten (vgl. Dyrchs 2008. 88f.).

Seit dieser Zeit kann zwischen drei Phasen von Transitional Justice unterschieden werden, wobei die erste Phase eng mit internationalen Bestrebungen des „nation-building“ in Deutschland verbunden war. Der aufkommende Ost-West-Konflikt beendete die Phase internationaler Kooperation und Koordination zwar schnell (vgl. Teitel 2003: 69f.), aber dennoch beeinflussten die gesetzten Präzedenzfälle der individuellen Verantwortlichkeit und der internationalen Rechenschaftspflicht völkerrechtliche Abkommen wie die Völkermordkonvention von 1948. Die erste Phase von Transitional Justice war einerseits durch die genannten Präzedenzfällen, die nachhaltige Veränderungen bewirkten, und andererseits durch die vorherrschende Überzeugung geprägt, dass Gesetze und Rechtssprechung eine Möglichkeit zur Modernisierung von Staaten bieten (vgl. Teitel 2003: 74).

Mit dem Systemwechsel in Portugal 1974 (vgl. Schulz 2009: 7) und den Prozessen gegen die ehemalige Militärregierung in Griechenland 1975 wurde eine neue Phase eingeleitet, in der zunehmend auch Maßnahmen ergriffen wurden, die über die bloße Errichtung von Tribunalen hinausgingen. In diese zweite Phase fallen eine Vielzahl von Bürgerkriegen und Konflikt- sowie Systemtransformationen in Südeuropa, Süd- und Mittelamerika, nach 1989 in den Ländern des Warschauer Pakts, in Südafrika, Ruanda sowie dem ehemaligen Jugoslawien (vgl. Teitel 2003: 75ff.).

Juristische Maßnahmen spielten zwar nach wie vor eine Rolle, insgesamt fand jedoch eine sukzessive Ausweitung des Verständnisses von Transitional Justice statt. Dieser Richtungswechsel führte zu einem eher ganzheitlichen Ansatz zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen im Zuge von Systemtransformationen (vgl. Bickford 2005: 1046). Die Aufarbeitung fand bis Anfang der 1990er Jahre auf nationaler Ebene statt, wobei die Abkehr von Mitteln der Strafjustiz teilweise aus finanziellen, materiellen oder personellen Engpässen heraus begründet wurde, teilweise jedoch auch der Überzeugung entsprang, dass Vergeltungsmaßnahmen der gesellschaftlichen Aussöhnung im Wege stehen können. Der Fokus von Transitional Justice fiel dementsprechend eher auf Maßnahmen, denen ein Beitrag zur Versöhnung und Vergebung zugeschrieben wurde. Täter wurden häufig amnestiert, oder Amnestien wurden - wie zum Beispiel in Südafrika - von einer Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission abhängig gemacht (vgl. Philpott 2006b: 23).

Die zweite Phase von Transitional Justice war durch ein Abwägen zwischen Versöhnung und Vergeltung gekennzeichnet. In diesen Kontext wurde auch Überlegungen zum Umgang mit der vorherigen Elite eingebettet. So wurde zwar einerseits die Diskrepanz zwischen der Integration der alten Elite, und der Etablierung oder Restauration des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit gesehen. Andererseits wurde eine Integration aber als notwendig zur Systemstabilisierung betrachtet, da die direkte Entwicklung einer systemkritischen Opposition verhindert werden sollte. Dabei mussten Möglichkeiten der Integration gesucht werden, die mit der Einführung oder Wiedereinführung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht in einem direkten Spannungsverhältnis stehen. Zudem stellte sich die Frage nach den Adressaten von Transitional Justice-Prozessen dahingehend, dass abgewogen wurde, ob alle Mitglieder einer Gesellschaft (also auch Mitläufer oder Begünstigte des alten Regimes) Berücksichtigung finden, oder ob exklusive Zielgruppen definiert werden sollten. Bei diesen Abwägungen musste nicht nur die gegenwärtige Phase der Systemtransformation berücksichtigt werden, auch eventuelle Auswirkungen einer Amnestie oder Strafverfolgung auf gesellschaftliche Konfliktlinien und auf den Prozess der Konflikttransformation fanden Beachtung (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 11). Während in der zweiten Phase debattiert wurde, ob die Schaffung von Gerechtigkeit im Sinne strafrechtlicher Verfolgung der Befriedung der Situation abträglich sein könnte, genau wie die vehemente Verteidigung der Menschenrechte einem effektiven Konfliktmanagement eventuell im Wege steht, so ist mittlerweile ein Konsens darüber erreicht worden, dass die Herstellung von Frieden mit der Herstellung von Gerechtigkeit in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 15).

In der Praxis besteht zwar nach wie vor die Gefahr der Aushöhlung oder Beschränkung der Rechenschaftspflicht von Tätern, die mit der prioritären Stellung des Versöhnungsprozesses begründet wird. Dies, so Philpott, liege aber nicht an der konzeptionellen Unvereinbarkeit von Versöhnung und Verantwortlichkeit, sondern häufig eher an der scheidenden Elite eines Regimes, die im Zuge der Machtübergabe Konzessionen eingeräumt bekomme und daher nur bedingt verantwortlich gemacht werden könne. Insgesamt stelle ein Insistieren auf die Verantwortlichkeit und die Rechenschaftspflicht von Tätern sogar eine notwendige Komponente eines Versöhnungsprozesses dar (vgl. Philpott 2006b: 22f.), sodass Aussöhnung nicht als Ersatz für Gerechtigkeit betrachtet werden darf, sondern als Ergebnis von Gerechtigkeit gilt (vgl. Buckley-Zistel 2007: 3).

Die weitgehende Zurückhaltung gegenüber der juristischer Herangehensweise in der zweiten Phase wurde erst in den 1990er Jahren teilweise rückgängig gemacht. Hier liegt der Beginn der dritten und gegenwärtigen Phase von Transitional Justice. Die massenhaften Menschenrechtsverletzungen im jugoslawischen Bürgerkrieg, sowie im Zuge der Eskalation des ethnischen Konflikts in Ruanda führten zur Einrichtung der internationalen Straftribunale ICTY[6] und ICTR[7] in den Jahren 1993 und 1994 durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zudem wurde mit dem sogenannten Römischen Statut von 1998 ein Internationaler Strafgerichtshofs (ICC[8] ) etabliert, der ab 2002 seine Arbeit aufnahm. Seitdem besteht also eine permanente juristische Instanz des Völkerstrafrechts (vgl. Schulz 2009: 8f.).

Trotz der Rückkehr zu Ansätzen der internationalen Strafjustiz hatte sich das Konzept Transitional Justice nachhaltig gewandelt. Die Etablierung des ICC ist zwar einerseits ganz Ausdruck einer fortschreitenden Institutionalisierung des Völkerstrafrechts. Juristische Herangehensweisen werden jedoch andererseits mittlerweile häufig durch nicht-juristische Maßnahmen wie Wahrheitskommissionen ergänzt (vgl. Schulz 2009: 9f.). Die Erfahrungen der südafrikanischen Kommission gelten als Schlüsselmoment für die zunehmende Anerkennung nicht-juristischer Maßnahmen und haben eine Fokussierung von Verzeihung und Vergebung bewirkt. Dabei rücken Opfer und die Wiederherstellung der Opferwürde in den Fokus verschiedener Maßnahmen, die vor allem ein Zeichen der Anerkennung des Leidens der Opfer darstellen sollen (vgl. : Kayser-Wahnde 2008: 11). Die Rolle, die Opfer im Rahmen von Versöhnungsprozessen einnehmen, wird in Kapitel 2.4. noch einmal ausführlicher dargestellt.

Eine relativ neue Entwicklung stellt zudem die Konzeption und Etablierung sogenannter hybrider Gerichte dar (vgl. Dickinson 2003: 295). Hybride Gerichte werden für gewöhnlich in den betroffenen Staaten selbst eingerichtet. Ihre Nähe zur betroffenen Gesellschaft, und vor allem die guten Zugangsbedingungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen gelten dabei als maßgeblicher Vorteil im Vergleich zu rein internationalen Tribunalen (vgl. Schulz 2009: 92). Hybride Gerichte wurden im Kosovo, in Sierra Leone, in Osttimor, dem Irak, dem Libanon und Kambodscha sowohl aus nationalem, als auch internationalem Personal gebildet. Diese Gerichtsform wird zwar sehr ambivalent betrachtet, gilt jedoch als weiterer Schritt zur Festigung des Völkerstrafrechts. Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit hybriden Gerichten ist die Betonung der völkerrechtliche Verpflichtung des Staates zur Aufarbeitung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (vgl. Schulz 2009: 94ff.).

Aus der historischen Entwicklung von Transitional Justice ergibt sich also einerseits, dass politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen nicht mehr zwangsläufig folgenlos bleiben müssen. Im Zuge von System- oder Konflikttransformationen kann diesem Phänomen begegnet werden. Dabei steht in erster Linie der Staat in der Pflicht zur Einhaltung der universellen Menschenrechte einerseits, und zur Ahndung von Menschenrechtsverletzungen andererseits. In diesem Zusammenhang können auch Individuen für Verbrechen mit kollektivem Ausmaß verantwortlich gemacht werden. Kann der Staat diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, so besteht die Möglichkeit der Ahndung und Verfolgung auf internationaler Ebene. Eine dritte Möglichkeit stellt die internationale Hilfestellung und Kooperation (wie im Fall der hybriden Gerichte) dar, sodass der betroffene Staat seinen Verpflichtungen nachkommen kann.

Andererseits ist dieses Verständnis der Herstellung von Gerechtigkeit dahingehend entscheidend ergänzt worden, dass auch die Notwendigkeit gesellschaftlicher Versöhnung seit der zweiten Phase von Transitional Justice zunehmend anerkannt und berücksichtigt wird. Dieser Aspekt involviert neue Akteure, wertet ihre Funktion auf, und rechtfertigt somit die Durchführung von Maßnahmen, die über bloße Strafjustiz hinausgehen. Auch wenn die Vereinbarkeit von Vergeltung und Versöhnung in der Theorie mittlerweile hergestellt wurde, so bestehen in der Praxis nach wie vor gewisse Diskrepanzen fort, die vor allem dem spezifischen Kontext der jeweiligen System- oder Konflikttransformation entspringen.

Ich werde im Folgenden also darstellen, welche Funktionen die Rechtssprechung im Rahmen von Transitional Justice innehat. Daran wird eine Darstellung der Bedeutung von Versöhnungsprozessen im Rahmen von Transitional Justice anknüpfen. Im Anschluss soll eine aktuelle Diskussion aufgegriffen werden, die sich mit den Möglichkeiten befasst, welche einer stärkeren zivilgesellschaftlichen Teilhabe an Transitional Justice-Prozessen zugeschrieben werden.

2.3 Rechtssprechung im Rahmen von Transitional Justice

Die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, von Verantwortlichkeit und Rechenschaft sind Kernanliegen von Transitional Justice. Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen – durch ein internationales Tribunal, durch nationale Gerichte, oder aber mittels der neueren Erscheinung hybrider Gerichtsformen - stellt eine maßgebliche Kontinuität von Transitional Justice dar, sodass der Rechtssprechung während der Systemtransformation eine besondere Rolle zugestanden wird (vgl. Kayser-Whande et al. 2008: 15). Die Etablierung oder Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit kann als direkte Reaktion auf, oder als Gegenentwurf zu einem partikularistischen Unrechtsregime erfolgen, sodass eine klare Abgrenzung stattfindet. Einerseits kommen Kriterien wie Gerechtigkeit, Objektivität, Gewissheit, Uniformität, Universalität und Rationalität zur Geltung, deren Abwesenheit gerade ein Charakteristikum des vorhergehenden Regimes war. Andererseits besteht für Staaten über die Berücksichtigung rechtsstaatlicher Prinzipien die Möglichkeit, internationale Anerkennung zu erhalten, und zukünftig wieder als verlässlicher Partner angesehen zu werden (vgl. McEvoy 2008: 20f.).

Dabei unterliegt die Rechtssprechung im Rahmen von Transitional Justice jedoch stets den Dilemmata, dass eine retrospektive Maßnahme einen Beitrag zu prospektiven Zielsetzungen leisten soll. Darüber hinaus wird die Herstellung von individueller Verantwortlichkeit für Verbrechen beabsichtigt, die aufgrund ihres politischen Hintergrunds und ihres großen Ausmaßes eine kollektive Dimension aufweisen (vgl. Teitel 2000: 6). Diese Dilemmata ermöglichen der Judikative allerdings im spezifischen Kontext der Systemtransformation auch eine gestalterische und vermittelnde Funktion einzunehmen. Während die Judikative in einer konsolidierten Demokratie durch die Auslegung bestehender Gesetze für Stabilität, Rechtmäßigkeit und Orientierung sorgt, sieht sich die Rechtssprechung in der Phase der Systemtransformation mit dem rapiden Wandel politischer und normativer Einstellungsmuster konfrontiert. Die Phänomene der politischen Instabilität und des normativen Wandels können eine Diskrepanz zwischen der bestehenden Gesetzeslage und der Wahrnehmung von Rechtmäßigkeit in einer Gesellschaft zur Folge haben (vgl. Teitel 2000: 11).

In dieser Zeit des Übergangs kann die Judikative zur Etablierung einer Rechtskultur beitragen, indem einerseits die Unrechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung des alten Regimes herausgestellt, und andererseits ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Notwendigkeit einer unabhängigen Rechtssprechung angeregt wird (vgl. Teitel 2000: 19). Aufgrund der dargestellten Diskrepanz und der politischen Unbeständigkeit kann in solchen Phasen das Völkerrecht als Ordnungsrahmen herangezogen werden, sodass die Rechtssprechung eine Orientierungsgröße hat. Das Völkerrecht weist einerseits eine hohe Beständigkeit auf, und genießt andererseits Priorität gegenüber der nationalen Gesetzeslage. Indem sich die nationale Rechtssprechung in der Phase der Systemtransformation also am Völkerrecht orientiert, wird das genannte Dilemma umgangen (vgl. Teitel 2000: 20f.). Eine weitere Funktion der Rechtssprechung im Zuge eines Systemwechsels erlangt vor allem in solchen Staaten große Bedeutung, in denen die Judikative zuvor von der Politik gleichgeschaltet war. Hier besteht in Phasen des Übergangs die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Abgrenzung, und somit der Einschränkung politischer Macht. In diesem Sinne muss die Rechtssprechung in solchen Phasen bewusst apolitisch fungieren (vgl. Teitel 2000: 21f.).

Aufgrund der gestalterischen und vermittelnden Funktion der Rechtssprechung in der Phase der Systemtransformation, wird Legalität von Fall zu Fall immer wieder neu hergestellt. Diese Phase prägt das gesellschaftliche Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, und beeinflusst die spätere Performanz der Judikative im politischen System. Die Abkehr von politischer Rechtssprechung stellt dabei einen wichtigen Schritt der Demokratisierung dar (vgl. Teitel 2000: 25). In diesem Kontext muss eine klare Abgrenzung zu vorherigen Regimen stattfinden, indem ihre Kriminalität und politische Illegitimität klar herausgestellt werden. Eine Möglichkeit hierzu liegt in der Herstellung individueller Verantwortung für staatliche Verbrechen (vgl. Teitel 2000: 26).

Die erste Funktion einer strafrechtlichen Aufarbeitung von Verbrechen des alten Regimes ist symbolisch zu betrachten, da Kriegsverbrecherprozesse vorrangig eine abschreckende und erzieherische Wirkung entfalten sollen. Indem ein Schlussstrich unter die Herrschaft des alten Regimes gezogen wird, bilden diese Prozesse die Grundlage für eine neue und freiheitliche Gesellschaftsordnung. In der Phase der Systemtransformation und der Ausbildung einer rechtsstaatlichen und demokratischen Grundordnung kann ein Kriegsverbrecherprozess zu einem identitätsstiftenden Moment für die betroffene Gesellschaft werden, da dem vorherigen Regime endgültig die Legitimität abgesprochen wird (vgl. Teitel 2000: 28ff.). Teitel beschreibt Kriegsverbrecherprozesse deshalb als „ way to express both public condemnation of past violence and the legitimation of the rule of law necessary to the consolidation of future democracy. Successor criminal justice is generally justified by forward-looking consequentialist purposes relating to the establishment of the rule of law and to the consolidation of democracy. “ (Teitel 2000: 30).

Allerdings muss die präventive Wirkung, die Kriegsverbrecherprozesse wirklich entfalten können, durchaus kritisch betrachtet werden. So wurde bereits den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio das Potential der Prävention und der politischen Neuausrichtung zugesprochen (vgl. Huhle 2006: 132f.). Auch wenn eine Neuordnung in den Fällen Deutschlands und Japans nicht zu bestreiten ist, so kann die Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen in den Kriegen und Bürgerkriegen nach dem Zweiten Weltkrieg doch als Indiz gegen einen nachhaltigen Abschreckungseffekt gewertet werden. Im Zweifelsfall führt die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung, und die Gefahr individuell verantwortlich gemacht zu werden, weniger zu einer Unterlassung von Menschenrechtsverletzungen, sondern eher zur Vertuschung oder Vernichtung von Beweisen (vgl. Huhle 2006: 133f.).

Weiterhin leisten Kriegsverbrechertribunale einen Beitrag zur Wahrheitsfindung. Die punktuelle Rekonstruktion der Vergangenheit zum Nachweis der Schuld oder Unschuld des Angeklagten im Zuge der Beweisaufnahme, stellt eine spezifische Form der Wahrheitsfindung dar. In diesem Kontext kann jedoch nicht von einer umfassenden Wahrheitsfindung die Rede sein, die vergleichbar mit der Arbeit von Historikern oder mit dem Ausmaß einer Wahrheitskommission ist. Gerichte können nur einen mehr oder weniger großen Beitrag zur historischen Wahrheit liefern (vgl. Huhle 2006: 126). Der maßgebliche Vorteil der Wahrheitsfindung vor Gericht und durch Gerichte besteht darin, dass eine „forensische Wahrheit“ (Schulz 2009: 344) als Ergebnis eines Verfahrens erzeugt wird, indem mehrere Parteien Gehör finden, und Beweismittel berücksichtigt werden. In gewissem Sinne handelt es sich hierbei also um eine getestete Form der Wahrheit (vgl. ebd.).

Gerichtsurteile liefern darüber hinaus eine verbindliche Form der Wahrheit, die es den Opfern im Idealfall ermöglicht, die eigene Opferschaft in den größeren Rahmen des Urteils einzuordnen, und sich somit graduell auch berücksichtigt zu fühlen (vgl. Huhle 2006: 125). Die Wahrheitsfindung vor Gericht kann jedoch meistens nur unzureichend dazu beitragen, dass Opfer Aufklärung über die genauen Umstände und Ursachen ihrer Opferschaft erhalten. Eine Rekonstruktion der persönlichen Wahrheit findet meist nur in Ausnahmefällen statt. Darüber hinaus stellen Opferzeugen eine große Herausforderung für das jeweilige Gericht dar, dass einerseits dazu gezwungen ist, gegenüber den Opfern und ihren Bedürfnissen Sensibilität zu zeigen, während andererseits geregelte und rechtsstaatliche Verfahren gewährleisten werden sollen. Zu diesem Zweck müssen freilich die Rechte und Interessen der Angeklagten berücksichtigt und eingehalten werden. Der Schutz der Rechte von Angeklagten kann mitunter zu Frustration bei Opfern führen, sodass diese nicht mehr mit dem Gericht kooperieren wollen (vgl. Huhle 2006: 123f.). Die Problematik der Wahrheitsfindung vor Gericht ist Ausdruck der Tatsache, dass Täter im Zentrum des Interesses von Kriegsverbrecherprozesse stehen. Die Interessen der Opfer können zumeist nur unzureichend beachtet werden, auch wenn vergeltende Strafjustiz häufig zumindest für Genugtuung bei den Opfern sorgt. Die Problematik der unzureichenden Berücksichtigung von Opfern im Zuge der juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen kann darauf zurückgeführt werden, dass die Praxis der Strafjustiz vornehmlich dem westlichen Verständnis von Gerechtigkeit entspricht (vgl. Schulz 2009: 15f.).

Dieser Sachverhalt hat auch zur Folge, dass sowohl rein internationale, als auch rein nationale Tribunale häufig der Gefahr ausgesetzt sind, als illegitim wahrgenommen zu werden. So kann die Bevölkerung des jeweiligen Staates ein rein nationales Tribunal aus Gründen des Misstrauens gegenüber der eigenen Exekutive oder Judikative als befangen betrachten, und folglich ablehnen (vgl. Dickinson 2003: 301). Demgegenüber können internationale Tribunale schnell als der Gesellschaft aufoktroyiert wahrgenommen werden, sofern keine Möglichkeit der Partizipation für Staatsangehörige des betroffenen Landes geschaffen werden. Das Tribunal sollte demzufolge versuchen, durch eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit Transparenz herzustellen (vgl. McGregor 2008: 51 / Dickinson 2003: 302f.).

Eine weitere Schwachstelle von rein nationalen, und rein internationalen Tribunalen wird in Staaten offenbar, in denen es zum Beispiel in der Folge von Bürgerkriegen an juristischer Expertise mangelt. Hier besteht eine große Notwendigkeit des Wissenstransfers. Diesen können beide Ansätze allerdings nicht in hinreichendem Ausmaß herstellen (vgl. Dickinson 2003: 303f.). Darüber hinaus ist in beiden Fällen fraglich, ob ein förderlicher Beitrag zur Etablierung oder Stärkung des Rechtsstaates geleistet wird, da das nationale Rechtssystem zu diesem Zweck von internationalen Rechtsnormen und Standards durchdrungen werden muss. Weder ein extern arbeitender Kriegsverbrecherprozess, noch ein autonom arbeitendes nationales Tribunal erscheinen hierzu ausreichend geeignet zu sein (vgl. Dickinson 2003: 304f.).

Gemischte Gerichtsformen werden als Möglichkeit betrachtet, die Legitimitäts- und Akzeptanzprobleme von rein internationalen und rein nationalen Ansätzen zu lösen. Neben dem höheren Maß an Legitimität, wird hybriden Gerichten auch eine bessere Performanz im Sinne des „capacity building“ zugeschrieben, da eine Kooperation zwischen nationalen und internationalen Experten stattfindet (vgl. Dickinson 2003: 305ff. / Schulz 2009: 92). Ein weiterer maßgeblicher Vorteil hybrider Gerichte liegt in ihrer Nähe zur betroffenen Gesellschaft. Dieser Vorzug bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. So ist das involvierte nationale Personal eventuell selbst vorbelastet oder ungenügend ausgebildet. Zudem mangelt es diesen Gerichten im Vergleich zu internationalen Tribunalen häufig an einem starken Mandat und an einer ausreichenden Finanzierung (vgl. Schulz 2009: 91f.).

Insgesamt werden hybride Gerichte jedoch als positive Entwicklung betrachtet, auch wenn diese Gerichtsform zum gegenwärtigen Zeitpunkt als „Übergangslösung bis zur vollständigen Funktionsfähigkeit des ICC“ (Schulz 2009: 92) gilt. Hybride Gerichte betonen die völkerrechtliche Pflicht des Staates zur Aufarbeitung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Die Etablierung eines hybriden Gerichts setzt die Einwilligung des jeweiligen Staates voraus, sodass dessen nationale Souveränität nicht angetastet wird. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit der effektiven Kooperation (vgl. ebd.).

Hybride Gerichtsformen scheinen zwar dazu in der Lage zu sein, den konzeptionellen Schwächen des nationalen und internationalen Ansatzes juristischer Aufarbeitung zu begegnen. Letztlich bleibt es jedoch dabei, dass die juristische Aufarbeitung massenhafter Menschenrechtsverletzungen insgesamt ambivalent betrachtet wird. Auch wenn in Kriegsverbrecherprozessen im Zuge von Systemtransformationen also die Möglichkeit liegt, „ vergangenes Unrecht richtig zu stellen, den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren, einen Ausgleich zwischen Vergehen und Strafe herzustellen, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken und erlittenes Leid anzuerkennen “ (Buckley-Zistel 2007: 3), so determinieren verschiedene Faktoren die Leistungsfähigkeit und den Erfolg dieser Prozesse.

Neben der Kooperationsbereitschaft der Regierung spielt zum Beispiel die Erwartungshaltung der Gesellschaft eine Rolle. Inwiefern ein Kriegsverbrecherprozess den Hoffnungen und Erwartungen der betroffenen Gesellschaft entsprechen kann, hängt oft alleine schon von der finanziellen und personellen Ausstattung des Gerichts ab (vgl. Schulz 2009: 23). Besondere Signifikanz erfährt auch das Mandat des Gerichts, also die Grenzen seiner sachlichen und personellen Zuständigkeit. Sofern Kriegsverbrechertribunale nicht eine gewisse zeitliche Distanz zu den relevanten Verbrechen aufweisen, besteht sogar die Gefahr, dass bestehende Konfliktlinien verschärft werden (vgl. Buckley-Zistel 2007: 3f.). Darüber hinaus determinieren die Quantität von Tätern und Opfern die Erfolgsaussichten eines Tribunals, da mit zunehmender Anzahl beider Gruppen die Möglichkeit adäquater Verurteilungen und Entschädigungen abnimmt (vgl. ICTJ 2008: 2).

Einige Kriegsverbrecherprozesse haben sich zudem vorgenommen, einen aktiven Beitrag zur nationalen Aussöhnung zu leisten (vgl. Buckley-Zistel 2007: 3). Zur Förderung der gesellschaftlichen Aussöhnung muss ein Tribunal jedoch von anderen Maßnahmen flankiert und ergänzt werden (vgl. ICTJ 2008: 2). Den Bedürfnissen und Interessen der Opfer muss dabei größere Aufmerksamkeit zuteil werden, als dies im Rahmen der Strafjustiz gewährleistet werden kann. Ein Kriegsverbrecherprozess kann also nur ein Teilaspekt eines Versöhnungsprozesses sein.

2.4 Transitional Justice und gesellschaftliche Versöhnung

Wie dargestellt wurde unterlag das Konzept Transitional Justice wechselnden Akzentuierungen. Standen die Tribunale von Nürnberg und Tokio noch ganz im Zeichen vergeltender Strafverfolgung, so fand seit der Mitte der 1970er Jahre zunehmend eine Abkehr von der rein retributiven Praxis internationaler Strafverfolgung statt (vgl. Schulz 7f.). Längerfristige Prozesse, die der politischen und gesellschaftlichen Versöhnung dienen sollten, wurden angestoßen. Mittlerweile stellen diese Versöhnungsprozesse sogar einen maßgeblichen Ansatz von Transitional Justice dar (vgl. Philpott 2006b: 20). Wie das Konzept Transitional Justice, so weisen auch Versöhnungsprozesse keine einheitliche Konzeption auf: „its political forms are diverse, as different as the dilemmas of the societies in which they are found.“ (Philpott 2006a: 3) Zudem existiert keine verbindliche Definition von Versöhnung, sodass die Begrifflichkeit einerseits einen Prozess, andererseits aber auch ein langfristiges Ziel beschreibt (vgl. Bloomfield 2003: 12).

Die Idee der Versöhnung oder Aussöhnung ist historisch im christlichen und jüdischen Glauben verwurzelt, wobei eine Wiederherstellung sozialer Beziehungen gemeint ist, sodass sich ein durch Frieden und Gerechtigkeit gekennzeichneter Zustand einstellen kann (vgl. Philpott 2006b: 11f.). Während sich das religiöse Verständnis von Versöhnung an diesem Idealbild orientiert, ist das vordergründige Ziel von Versöhnungsprozessen zwischen politischen Widersachern in Postkonfliktgesellschaften eine Wandlung der gegenseitigen Beziehungen, die bisher vor allem durch Gegensätzlichkeiten, Misstrauen, Respektlosigkeit und Hass gekennzeichnet waren. Damit Konflikte in Zukunft nicht mehr gewalttätig ausgetragen werden, muss ein Minimum an Vertrauen und Kooperationsbereitschaft geschaffen werden. Hierzu müssen die Konfliktparteien Wege zur Untersuchung und Aufarbeitung ihrer Beziehungen in der Vergangenheit finden - eine Versöhnungsstrategie. Diese Strategie sollte die gesamte Bevölkerung einbeziehen, sodass langfristig eine politische Kultur entstehen kann, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen fußt, und einen Beitrag zur Demokratisierung leistet. Aus dieser Logik heraus stehen Versöhnung und Demokratisierung in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Versöhnungsprozesse können daher sowohl moralisch, als auch pragmatisch begründet und befürwortet werden, sodass das Ziel der gesellschaftlichen Versöhnung als Notwendigkeit erscheint (vgl. Bloomfield 2003: 11f.).

Dem idealistischen Hintergrund, demzufolge Versöhnungsprozesse eine Chance zur Konsolidierung des Friedens und demokratischer Institutionen darstellen, sowie den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen, stehen jedoch ernstzunehmende Probleme in der Durchführung entgegen. Gerade in Transformationsländern durchlaufen Versöhnungsprozesse verschiedene Phasen, in denen der Rückfall in gewalttätige Konfliktlösungsmechanismen eine reelle Gefahr ist (vgl. Huyse 2003a: 19). In der Praxis können Versöhnungsprozesse sehr langwierig sein, eine Reflexion der kollektiven Einstellungsmuster und Normen, sowie eine Analyse vorhandener Stereotype notwendig machen (vgl. Bloomfield 2003: 13). Eine Umgestaltung des Schulunterrichts kann in diesem Kontext ebenso sinnvoll erscheinen wie eine besonnene mediale Berichterstattung und öffentliche Kommunikation des Prozesses (vgl. Huyse 2003a: 22).

Im Gegensatz zur juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des vorherigen Regimes, bei der vor allem Täter im Mittelpunkt stehen, fokussieren Versöhnungsstrategien die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Dabei muss sich in der betroffenen Gesellschaft zuerst ein Bewusstsein dafür einstellen, dass sich das Phänomen der Opferschaft nicht etwa nur auf physische Verletzungen beschränkt, sondern mehrere Aspekte umfasst. Politische Gewalt, zum Beispiel durch Vertreter des Staates gegen die eigenen Bürger, verletzt ihre Opfer nicht nur physisch und in ihrer Würde, sie zerstört auch ein Beziehungsgefüge, das auf einer Erwartungshaltung, auf Respekt und Rechten beruht. Als Rechtssubjekt einer politischen und rechtlichen Ordnung, die für die Einhaltung dieser Rechte zuständig ist, sind Opfer geschädigt, ausgeschlossen, entrechtet und somit politisch tot. Im Zuge einer politischen und rechtlichen Reintegration von Opfern muss folglich eine Anerkennung und Würdigung der Opferschaft erfolgen. Sofern jene Anerkennung unterbleibt, kann das begangene Unrecht ein stetiges Hindernis auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen in einer Gesellschaft bleiben (vgl. Philpott 2006b: 16ff.), da diese Erinnerungen auch an die künftigen Generationen weitergegeben werden können (vgl. Huyse 2003a: 30). Demzufolge kann eine Versöhnungsstrategie also als Prozess bezeichnet werden, der darauf abzielt einer gespaltenen Gesellschaft eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen (vgl. Bloomfield 2003: 12).

Eine Versöhnungsstrategie, die diesem Verständnis Rechnung tragen möchte, und die Opferschaft als zerstörtes Gefüge sozialer, politischer und rechtlicher Beziehungen begreift, muss notwendigerweise auch eine gewisse Sensibilität dafür aufweisen, dass massenhafte Menschenrechtsverletzungen verschiedene Typen von Opfern mit unterschiedlichen Bedürfnissen hervorbringen. Huyse nennt in diesem Zusammenhang drei mögliche Klassifizierungen von Opfern. Er unterscheidet zwischen individuellen und kollektiven (z.B. ethnischen oder religiösen Gruppen), zwischen direkten und indirekten (z.B. Angehörigen direkter Opfer), sowie zwischen Opfern der ersten und zweiten Generation (z.B. Nachkommen von Flüchtlingen). Darüber hinaus spielen Gender-Aspekte in allen Kategorien eine Rolle, da Frauen nicht nur von dem Konflikt als solchem betroffen sind, sondern zusätzlich häufig noch Opfer von sexueller Gewalt werden. Eine besondere Opfergruppe stellen zudem Kinder dar, wobei bei Mädchen erneut geschlechtsspezifische Gewalt berücksichtigt werden muss (vgl. Huyse 2003b: 54ff.).

Ein ganzheitlicher Ansatz zur Förderung der gesellschaftlichen Versöhnung sollte mehrere Aspekt berücksichtigen. Die Herstellung von Gerechtigkeit, zum Beispiel durch einen Kriegsverbrecherprozess, ist dabei nur ein relevanter Aspekt. Zusätzlich müssen Anstrengungen zur Wahrheitsfindung unternommen werden, zum Beispiel durch eine Wahrheitskommission. Darüber hinaus sollten den Opfern auch die Möglichkeit eröffnet werden, Reparationen zu erhalten. Letztlich benötigen Opfer auch Zugang zu medizinischer Versorgung, besonders auch zur Behandlung von psychischen Traumata. Diese speziellen Maßnahmen sollten zudem durch Bildungs- und Ausbildungsprogramme flankiert werden, die auch auf eine Vergegenwärtigung der Menschenrechte im Bewusstsein der Bevölkerung abzielen (vgl. Huysen 2003a: 23f.).

Im kambodschanischen Fall werden nicht alle Aspekte berücksichtigt, sodass an dieser Stelle nur jene dargestellt werden sollen, die auch im Zusammenhang mit den ECCC Relevanz erfahren. Im Rahmen der ECCC, als Ansatz zur Herstellung von Gerechtigkeit, wird in begrenztem Ausmaß ein Beitrag zur Wahrheitsfindung geleistet. Dieser Beitrag ist jedoch, wie in Kapitel 2.3. dargestellt wurde, nicht vergleichbar mit der Arbeit einer Wahrheitskommission, zeichnet sich jedoch durch eine gewisse Qualität und Verbindlichkeit aus. Opfer der Khmer Rouge, die als Nebenkläger vor den ECCC zugelassen wurden, können Reparationen beantragen[9]. Darüber hinaus erhalten sie in der Zeit der Verfahren Zugang zu einer psychologischer Betreuungseinrichtung[10].

[...]


[1] United Nations Advance Mission in Cambodia

[2] United Nations Transitional Authority in Cambodia

[3] Front Uni pour un Cambodge Indépendant, Neutre, Pacifique et Coopératif

[4] Cambodian People's Party

[5] International Center for Transitional Justice

[6] International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia

[7] International Criminal Tribunal for Rwanda

[8] International Criminal Court

[9] Eine ausführlichere Darstellung folgt in Kapitel 3.6.2.

[10] Eine ausführlichere Darstellung folgt in Kapitel 4.3.3.

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
Transitional Justice unter dem Regime Hun Sens: Der Kriegsverbrecherprozess in Kambodscha
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Politikwissenschaft)
Note
1,7
Jahr
2010
Seiten
130
Katalognummer
V199283
ISBN (eBook)
9783656275947
ISBN (Buch)
9783656283492
Dateigröße
902 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kambodscha, Transitional Justice, Kriegsverbrecherprozess, Khmer Rouge, Rote Khmer, Aufarbeitung, Versöhnung, Opferbeteiligung, NGO, Zivilgesellschaft, Korruption, Hun Sen, Systemtransformation, Konsolidierung
Arbeit zitieren
Anonym, 2010, Transitional Justice unter dem Regime Hun Sens: Der Kriegsverbrecherprozess in Kambodscha, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199283

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Transitional Justice unter dem Regime Hun Sens: Der Kriegsverbrecherprozess in Kambodscha



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden