Mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention am 26.3.2009 in Deutschland stellt sich die Frage nach der Umsetzung von Inklusion auch im religionspädagogischen Kontext. Der § 24 der BRK fordert und regelt das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen in einem „inclusive education system“. Bisher blieben im hochdifferenzierten deutschen Schulsystem Regel- und
Sonderschulen weitgehend voneinander getrennt, die Umsetzung der Integration war nur soweit fortgeführt worden, daß in ausgewählten Schulen Schüler/innen beider Gruppen im Kooperationsprinzip teilweise gemeinsamen Unterricht in bestimmten Fächern erhielten. Da künftig alle Schüler/innen unabhängig ihres Förderbedarfs gemeinsam beschult werden sollen, werden neue religionspädagogische Konzepte nötig, um der erweiterten Heterogenität gerecht zu werden.
In der vorliegenden Arbeit soll geklärt werden, ob oder inwieweit ausgewählte gegenwärtig vorhandene religionspädagogische Konzepte in Deutschland den Gedanken von Inklusion miteinbeziehen.
Dabei tauchen verschiedene Schwierigkeiten auf, da erstens der Inklusionsbegriff variabel gehandhabt wird, einer nicht abgeschlossenen gesellschaftlichen Diskussion und Interpretation unterliegt. Zweitens begegnen sich in
dieser Auseinandersetzung die Welten der sonderpädagogischen, allgemein- und religionsdidaktischen Überlegungen. Drittens wird in Deutschland nach GG §7 (3)3 konfessioneller Religionsunterricht erteilt. Das bedeutet, daß hier die Schüler/innen gemäß Grundgesetz separiert werden. Ich werde versuchen,
diesen teils widersprüchlichen Interessen und Überlegungen unter der
Leitidee der entwicklungslogischen Didaktik Georg Feusers eine Richtung zu geben.
In meiner Arbeit werde ich zuerst den Begriff der Inklusion zu klären versuchen. Dabei weise ich auch auf einen verkürzten Inklusionsbegriff hin, der in der Öffentlichkeit meist nur in der bildungstheoretischen und - politischen Diskussion auftaucht. Anschließend erläutere ich den „index for inclusion". Nach diesen Einführungen werden 4 ausgewählte inklusive religionspädagogische Konzepte vorgestellt. Im Fazit werde ich versuchen, die verschiedenen Konzepte zu bewerten. Dies vor dem Hintergrund einer Interpretation von Inklusion,
die nicht nur „Behinderte“ inkludieren will, sondern Inklusion aller Schüler/innen unabhängig von Geschlecht, Religion, Kultur, Schichtenzugehörigkeit oder Altersgruppe anstrebt.
Inhalt
1 Abbildungen
2 Einleitung
3 Geschichte, Bedeutung, Rezeption des Inklusionsbegriffs
3.1 FünfEntwicklungsstufen nach Sander
3.2 Vorläufer der Inklusion: Integration
3.3 Bestandaufnahme schulischer und didaktischer Modelle
3.3.1 „EineSchule für Alle“
3.3.2 Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“
3.3.3 Georg Feusers Modell der entwicklungslogischen Didaktik
3.4 Gesetze und Konventionen, die den Paradigmenwechsel einleiten
3.4.1 UN- Kinderrechtskonvention 1989
3.4.2 Salamanca - Erklärung 10.6.1994
3.4.3 Behindertenrechtskonvention (BRK) 2006
3.4.4 WHO „World Report On Disability“ 2011
3.5 Übergangsphase - Von der Integration zur Inklusion
3.6 Inklusionskonzepte
3.7 Inklusion im weiter gefassten Sinn
3.7.1 Luhmann
3.7.2 Behindertenrechtskonvention 2006
3.8 Index für Inklusion- ein Instrument zur Umsetzung
3.9 Inklusion aus theologischer und anthropologischerSichtweise
3.10 Fazit zur Inklusion
4 Inklusive Religionspädagogische Konzepte
4.1 Stefan Anderssohns Entwurf eines didaktischen Symbolkonzeptes
4.2 Stärken wahrnehmen und entfalten: ein inklusives Konzept von Franz Feiner
4.3 Das Hamburger Modell. Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle, Inklusion statt Separation
5 Das „Tübinger Elementarisierungsmodell“- ein inklusiver „Anwärter“
5.1 Basiskomponente: Klafkis„Konzeptderkategorialen Bildung“
5.2 Die Herausbildung des Tübinger Ansatzes der Elementarisierung
5.3 Der Elementarisierungsansatz und die Inklusion
6 Fazit
Literatur
1 Abbildungen
Abb. 1 Baummodell
Abb. 2: Von der Segregation durch Integration zur Inklusion
Abb. 3: Indexprozess mit Planungskreislauf
Abb. 4: Darstellung der Themen und Strukturen
Abb. 5: Symboldidaktisches Modell am Beispiel Brot
Abb. 6: Ausschnitt aus dem 1. Teiltest
Abb. 7: Auswertung zur interpersonalen Intelligenz
Abb. 8: Auswertung der Mittelwerte der multiplen Intelligenz
Abb. 9: Stationenplan
Abb. 10: „Modell zur kategorialen Bildung“
Abb. 11: Modell „Tübinger Elementarisierungsansatz“
Abb. 12: Modell „Tübinger Elementarisierungsansatz“ mit 5. Dimension
2 Einleitung
Spätestens mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention (BRK) am 26.3.2009 in Deutschland stellt sich die Frage nach der Umsetzung von Inklusion auch im religionspädagogischen Kontext. Der Paragraf 24 der BRK fordert und regelt das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen in einem „inclusive education system“[1].
„bei der Verwirklichung dieses Rechts [auf Bildung] stellen die Vertragsstaaten sicher, dass [...] Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;“[2]
Bisher blieben im hochdifferenzierten deutschen Schulsystem Regel- und Sonderschulen weitgehend voneinander getrennt, die Umsetzung der Integration war nur soweit fortgeführt worden, dass in ausgewählten Schulen Schüler/innen beider Gruppen im Kooperationsprinzip teilweise gemeinsamen Unterricht in bestimmten Fächern erhielten. Da künftig alle Schüler/innen unabhängig ihres Förderbedarfs gemeinsam beschult werden sollen, werden neue religionspädagogische Konzepte nötig, um der erweiterten Heterogenität gerecht zu werden.
In der vorliegenden Arbeit soll geklärt werden, ob oder inwieweit ausgewählte gegenwärtig vorhandene religionspädagogische Konzepte in Deutschland den Gedanken von Inklusion miteinbeziehen. Sind sie geeignet, alle Schüler/ innen einer Klasse gleichzeitig und unabhängig ihres Förderbedarfs am Unterricht zu beteiligen?
Dabei tauchen verschiedene Schwierigkeiten auf, da erstens der Inklusionsbegriff variabel gehandhabt wird, einer nicht abgeschlossenen gesellschaftlichen Diskussion und Interpretation unterliegt. Zweitens begegnen sich in dieser Auseinandersetzung die Welten der sonderpädagogischen, allgemeindidaktischen und religionsdidaktischen Überlegungen. Drittens wird in
Deutschland nach GG §7 (3)[3]konfessioneller Religionsunterricht erteilt. Das bedeutet, dass hier die Schüler/innen gemäß Grundgesetz separiert werden, was streng genommen einer Inklusion im Wege steht. Ich werde versuchen, diesen teils widersprüchlichen Interessen und Überlegungen unter der Leitidee der entwicklungslogischen Didaktik Georg Feusers[4]eine Richtung zu geben. Um dies zu realisieren, rezipiere ich zu allen Feldern Materialien aus Primär- teils auch Sekundärliteratur, um sie anschließend auszuwerten und zu erörtern.
In meiner Arbeit werde ich zuerst den Begriff der Inklusion zu klären versuchen; dies auch in und gerade wegen seiner widersprüchlichen Rezeption. Dabei weise ich auch auf einen verkürzten Inklusionsbegriff hin, der in der Öffentlichkeit meist nur in der bildungstheoretischen und - politischen Diskussion auftaucht. Mit Interesse an seiner Verlängerung oder anders gesagt, um ihm mehr Volumen zu geben unternehme ich systemtheoretisch mit Luhmann einen Exkurs zu Inklusion und Exklusion[5]. Anschließend erläutere ich den „index for inclusion“, ein 2002 in England entstandenes und 2003 auf deutsche Verhältnisse übersetztes Instrument, das es ermöglicht, Inklusion konkret aufSchulebene umzusetzen. Der Vorteil dieser Indices besteht in ihrer unmittelbaren praktischen Anwendbarkeit direkt vor Ort, unabhängig administrativer Vorgaben. Nach diesen Einführungen werden ausgewählte religionspädagogische Konzepte, die sich explizit als inklusiv bezeichnen, aber auch ein solches, das aufgrund seiner Struktur inklusiv genutzt werden kann, vorgestellt. Im Fazit werde ich versuchen, die verschiedenen Konzepte zu bewerten. Dies vor dem Hintergrund einer Interpretation von Inklusion, die nicht nur „Behinderte“ inkludieren will, sondern Inklusion aller Schüler/innen unabhängig von Geschlecht, Religion, Kultur, Schichtenzugehörigkeit oder Altersgruppe anstrebt.
3 Geschichte, Bedeutung, Rezeption des Inklusionsbegriffs
Im ersten Schritt möchte ich die, auch im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit, näherliegende Sichtweise von Inklusion, die sich im Wesentlichen auf schulische Bildung bezieht, erläutern. (Inklusion in einer Schule für alle) Dies verbunden mit einer historischen Einordnung in Paradigmenwechsel. Die Widersprüche, die sich schon in der Umsetzung der Integration zeigten, setzen sich in der Diskussion um die Realisierung der Inklusion fort. Dies scheint mir deshalb nötig, um ein besseres Verständnis für die besonderen Schwierigkeiten des zu skizzierenden Inklusionsbegriffs, der auch gesamtgesellschaftliche Komponenten enthält und damit über den bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs hinausgeht, darzustellen. Es wird sich zeigen, dass beide miteinander verwoben sind und der eine nicht vom anderen trennbar ist.
3.1 Fünf Entwicklungsstufen nach Sander
Sander unterscheidet, abgeleitet aus Forschungen der historischen Behindertenpädagogik[6], bis zu fünf aufsteigende Entwicklungsstufen der Art und Weise der Beschulung von Kindern mit Behinderungen. Danach wurden bzw. werden im System der Exklusion Kinder mit Behinderung vom Schulbesuch gänzlich ausgeschlossen. In der Stufe der Separation etabliert sich das Parallelsystem der Sonderschulen. Kinder werden in Extra- Einrichtungen beschult. Mit dem Paradigmenwechsel zur Integration wird versucht, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Allgemeinen Schulen zu integrieren. Ein weiterer Paradigmenwechsel zur Inklusion erkennt die in der Integration noch verhaftete Separation. So wird gesehen, dass alle, nicht nur die behinderten Kinder, jeweils besondere pädagogische Bedürfnisse haben. In einer Schule für alle wird das gewollte heterogene Spektrum an Schüler/innen im gemeinsamen Unterricht beschult. Dabei wird Heterogenität als Bereicherung betrachtet. Ein in die Zukunft weisender Paradigmenwechsel, der sich erst etablieren muss, besteht in der Vielfalt als Normalfall. Der Prozess zum Erreichen der Inklusion ist abgeschlossen. Alle Schüler/innen werden in der Allgemeinen Schule beschult. Das Sonderschulsystem ist Geschichte.
3.2 Vorläufer der Inklusion: Integration
Der deutsche Bildungsrat empfiehlt 1973 einen Richtungswechsel der Sonderpädagogik zur Integration[7]. Darin empfiehlt er „...eine Konzeption der weitmöglichen gemeinsamen Unterrichtung und Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter und die stärkere Integrierung sonderschulischer Einrichtungen in das gesamte Schulsystem"[8]. Weiterhin „...ein flexibles System von Fördermaßnahmen, das einer Aussonderungstendenz der allgemeinen Schule begegnet, gemeinsame soziale Lernprozesse Behinderter und Nichtbehinderter ermöglicht und den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen behinderter Kinder und Jugendlicher entgegenkommt... ,,[9]Nach Exklusion und Segregation bildeten sich daraufhin ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts unter der neuen Leitlinie „Integration“ verschiedenste integrative Modelle in Deutschland heraus.[10]Nach Feuser[11]differenzierten sich dabei fünf Umsetzungsformen heraus.
(1) Die Einzelintegration bezieht ausgewählte behinderte Schüler/innen lernzielgleich in einen Regelschulunterricht mit ein.
(2) Im Modell „Spezial- Förderschule“ werden insbesondere schwerst- (geistig-/ mehrfach-) behinderte Schüler/innen, sogenannte Nichtintegrierbare, beschult, häufig wird durch einfache Umbenennung in Förderschule eine Integration suggeriert.
(3) In der Kooperation wird entweder ein kleiner Klassenverband „behinderter“ Schüler/innen komplett in einer Regelschule im eigenen Klassenraum untergebracht; nur in bestimmten Kooperationsstunden in ausgewählten Fächern kommt es zu gemeinsamen Unterricht mit einer zugeordneten Regelschulklasse. Oder die „behinderten“ Schüler/innen erhalten mit eigenem Lehrer ständig Unterricht im gemeinsamen Klassenverband mit Regelschüler/innen, dies jedoch weiterhin nach den Vorgaben des sonderpädagogischen Lehrplans. Beides stellt wieder eine äußere Differenzierung und damit Separation dar, da die zwei Gruppen nur räumlich zusammengeführt wurden. Kooperation gilt als Strategie einer „Außenstelle Regelschule“ des Förderzentrums. Die hier beschriebene Kooperation, oder „Kooperationsprinzip“, im Sinne von „Ausprägungsform der Integration“ hat nicht zu tun mit dem Begriff Kooperation, wie ihn Feuser im Zusammenhang mit Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand oder Kooperation der Kinder untereinander benutzt.(vgl. Kap.3.3.3)
(4) Das Modell „(Sonderpädagogische) Förderzentrum“ wird hier kurz wegen landesuneinheitlicher Namensgebungen mit Förderzentrum (FZ) bezeichnet. Die nach der Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom März 1972)[12]zehn Formen von Sonderschulen werden in Förderschulen/ -zentren umbenannt. Die Mehrzahl der Förderschüler werden weiterhin im Förderzentrum unterrichtet. Ausgewählte Schüler/innen werden in das KOOP- Modell herausgeführt. FZ stellen Förderschullehrer in Form von ambulanten Diensten bereit, die neben ihrer Arbeit in der Förderschule auch auswärtige Koop- Klassen unterrichten, bzw. Schüler/innen mit erhöhtem Förderbedarf in der Regelschule fördern. Ein Vorschlag Wockens, Förderzentren als „multiprofessionelle mobile Dienstleistungszentren für integrationsunterstützende Arbeit“, also Einrichtungen „ohne Schüler/ innen“ aufzubauen, wird abgelehnt.[13]
(5) Lediglich das nie in dieser Form realisierte Modell (Voll-) Integration repräsentiert nach Feuser „...eine reformpädagogisch orientierte Allgemeine integrative Pädagogik im Sinne der gemeinsamen Erziehung und des gemeinsamen Unterrichts von nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen aller Arten und Schweregrade der Behinderung nach Maßgabe der Merkmale der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand und der inneren Differenzierung durch entwicklungslogische Individualisierung eines gemeinsamen Curriculums bei integrierter Therapie und bedarfsweisem Einsatz persönlicher Assistenten. [...] Der Unterricht erfolgt zieldifferent auf der Basis eines gemeinsamen Curriculums fächerübergreifend in Form von (auch klassen- und jahrgangsübergreifenden) Projekten und durch gleichberechtigtes Teamteaching der Pädagogen.“[14]Nach Feuser bleiben mit Ausnahme der nie realisierten Vollintegration alle diese Umsetzungsformen mehr oder weniger dem separierenden und segre- gierenden Erziehungs-, Unterrichts- und Bildungssystem (EBU) verhaftet. Dieses enthält einen schwer zu durchbrechenden Reproduktionszirkel, der sich aus sechs Momenten (kursiv) konstituiert.
Nach der Selektion nach Leistungskriterien werden Schüler/innen einer Segregation in verschiedenste Schultypen, auch Sonderschulen zugeführt. Dies führt zur Atomisierung besonders der Gruppe der behinderten Schüler/innen. Diese Atomisierung wird durch die weitere Aufteilung in die zehn Typen von Sonderschule/ Förderzentren vertieft. Diese auf den defekt bezogene Sichtweise betont ihre Andersartigkeit.
In einer Homogenität von Lerngruppen wird versucht, diese einfacherzu lehren und zum Lernerfolg zu bringen. Äußere Differenzierung versucht dabei, der Vielfalt an Lernvoraussetzungen gerecht zu werden. Diese bedingt verschiedenste (Sonder-) Schultypen und hat Segregation zur Folge. Reduktio- nistisch verengte und parzellierte Bildungsangebote und Lehrpläne zementieren weiterhin äußere Differenzierung mit den entsprechenden Schultypen. Feuser folgend, wird Vollintegration erst möglich, wenn alle diese Momente durchbrochen sind.
„Bleibt in integrativen Ansätzen nur eines der aufgezeigten sechs Momente erhalten, das dem funktionalen Kreislauf des sich selbst reproduzierenden segregieren- den Systems entspricht, zwingt es, wie das in der Praxis immer wieder beobachtbar ist, das ganze System in die alten Pfade.“[15]
Sie alle zu durchbrechen, bedarf eines gesellschaftlichen Umdenkensprozesses und einer Umstrukturierung des EBU.
3.3 Bestandaufnahme schulischer und didaktischer Modelle
Um einen Überblick zu geben, skizziere ich im folgenden eine Idee von Schulentwicklung und zwei didaktische Ansätze, die sich zu dieser Zeit bereits herausgebildet hatten und bis in die Gegenwart fortwirken. Alle drei bestimmen auch mit ihrem Vokabular die öffentliche Diskussion bis heute.
3.3.1 „Eine Schule für Alle“
Nach Feuser geht der Slogan „Eine Schule für Alle“ auf eine Forderung der Fachgruppe Sonderschule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von 1984 zurück. Darin wird diese als eine Schule beschrieben, in der „jeder Schüler ohne Stigmatisierung und Aussonderung seinen individuellen Voraussetzungen gemäß optimal gefördert werden kann.“ Ein 1993 durch die GEW unter Autorenschaft von Füssel / Kretschmann herausgegebenes Gutachten mit dem Titel „Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder „ setzte es sich zur Aufgabe, pädagogische und juristische Voraussetzungen zu dessen Realisierung zu klären.[16]
3.3.2 Annedore Prengels „Pädagogik derVielfalt“
Mit der Herausgabe der „Pädagogik der Vielfalt“ nimmt Prengel eingangs grundlegende Begriffsbestimmungen vor. Mit Windelband sagt sie:
„Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht.“[17]
Mit Lyotard, einem der Begründer der Philosophie der Differenz, beschreibt sie radikale Pluralität im Sinne absoluter Heterogenität. „Zwischen den heterogenen Bereichen, die wie Inseln voneinander getrennt sind, kann es nach Lyotard keine Gemeinsamkeit geben. Es geht vielmehr darum, daß sich die Philosophie zum Anwalt des Heterogenen macht, das nicht einfach da ist, sondern immerzu neu zu entdecken und zu seiner Sprache und zu seinem Recht zuzulassen ist. Dieser Prozeß ist immer unvollendet und wir müssen uns dieser Begrenztheit bewußt sein.“[18]
Mit Honneth unterscheidet sie drei Formen der Anerkennung: die emotionale Achtung (Liebe), die rechtliche Anerkennung sich selbst und anderen gegenüber (gleiche Rechte) und wechselseitige Anerkennung zwischen soziokultu- rell unterschiedlich individuierten Personen (Solidarität bzw. egalitäre Differenz)[19]
Mit diesem Fundament erörtert Prengel in einer analytischen Zusammenschau drei gegenwärtig (1993) unabhängig voneinander arbeitende pädagogische Bewegungen, die die Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen auf neue Weise thematisiert haben. „Die Interkulturelle Pädagogik, als pädagogischer Beitrag zur multikulturellen Gesellschaft, die Feministische Pädagogik, als pädagogischer Beitrag zur Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses und die Integrative Pädagogik, als pädagogischer Beitrag zur Nichtaussonderung von Menschen mit Behinderungen.“[20]Daraus entwickelt sie 17 Thesen, wie sich Schulbildung mit gleichberechtigtem Zugang für Alle in einer Pädagogik derVielfalt entwickeln kann.[21]
Nach Sander (Vgl. Kap 3.6) erfuhr die Pädagogik der Vielfalt besonders nach der Salamanca- Erklärung 1994 verstärkte Rezeption.
3.3.3 Georg Feusers Modell der entwicklungslogischen Didaktik
Feuser beschreibt den Begriff „entwicklungslogische Didaktik“ als didaktisches Fundamentum einer „Allgemeinen Pädagogik“, die von ihm Anfang der 1980er Jahre begründet und im „Bremer Modell“ integrativer Elementarerziehung, sowie in Primar- und Orientierungsstufe der Sek I durchgeführt wurde[22]. Der Begriff „entwicklungslogisch“ weist dabei auf die Orientierung des individuellen Entwicklungsstandes eines jeden Kindes hin[23]. In Kritik und Abgrenzung zum segregierenden EBU mit seinem aus sechs Momenten bestehenden Reproduktionszirkel (siehe Kap.3.2) setzt er jedem dieser herrschenden Momente ein Neues entgegen. (1) Dem atomisierten Menschenbild eines, das Mensch als integrierte Einheit seiner biologischen, psychi- sehen und sozialen Systeme sieht. (2) Der Sozialform Homogenität die der Heterogenität, (3) dem didaktischen Fundament Selektion das der Kooperation, sowie (4) reduzierten/ parzellierten Bildungsinhalten den „gemeinsamen Gegenstand“. Weiterhin (5) der Segregierung durch äußere Differenzierung eine umfassende innere Differenzierung, und (6) dem individuellen, schulform, bzw. -stufenbezogenen Curriculum eine entwicklungslogisch- biografisch orientierte Individualisierung mithilfe eines gemeinsamen Curriculums. Feusers Entwurf der Allgemeinen Pädagogik wird in Abgrenzung zu im rein sachstrukturellen[24]verhafteten Entwürfen im Feld entwicklungslogischer Didaktik realisiert. Er stellt dieses Feld in einem dreidimensionalen Modell dar. Die Basis - Dimension „Handlungsstrukturanalyse“ (HS) versteht Lernen als Prozess der Interiorisation. Unter Zuhilfenahme des Schemas der etappenweisen Ausbildung der geistigen Operationen nach Galperin wird es möglich, für jede/ n Schüler/ in „...die Lern-Handlungen [...] in operationalisierter Weise unter Berücksichtigung der didaktisch-medialen und der lernstrukturellen bzw. therapeutischen Hilfen zu analysieren und im Unterricht zu unterstützen.“[25]Dabei wird sowohl die momentane Handlungsfähigkeit als auch der Prozess der Aneignung eines Sachverhaltes für jede/ n Schüler/ in analysiert.[26]
Auf dieser Grundlage wird eine die Objektseite repräsentierende Sach- strukturanalyse vorgenommen; sowie eine die Subjektseite repräsentierende Tätigkeitsstrukturanalyse (TS). Mit Verweis auf Klafkis doppelseitige Erschließung der Wirklichkeit, die durch Vermittlung zwischen Subjekt- und Objektseite im Fundamentalen und Elementaren geschieht (siehe Kap. 5.1), aber auch auf Piaget, der Lernvorgänge als Erschließung betrachtet, die wechselseitig abläuft, erklärt Feuser die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt durch die „Tätigkeit“ vermittelt[27]. Die TS erfolgt erst nach Feststellung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenz (dies kann auch als Zone der aktuellen Entwicklung bezeichnet werden), die in der HS festgestellt wurde. Die TS untersucht mit Hilfe der Theorie der dominierenden Tätigkeit von Leontjew die Tätigkeit, die in der Entwicklung eines Subjekts momentan dominierend ist, wie z.B. auf basaler Ebene die „perzeptive Tätigkeit“ oder das auf höherer Ebene stehende (schulische) Lernen. Mit Vygots- kijs Vorstellung der „Zone der nächsten Entwicklung“ wird ein zweites Moment für die TS konstituierend, es soll die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten jedes Kindes vorhersehen und didaktisch anbahnen.
Die Sachstrukturanalyse enthält, ausgehend von der durch die HS erarbeitete „momentanen Handlungskompetenz“, eine „Projekt-, Vorhaben-, Inhalts-, Gegenstands-, Sachzusammenhangsbezogene historisch-logische und wis- senschaftsbereichsbezogene Gliederung der Inhaltsseite des Unterrichts im Sinne der "didaktischen Analyse” “[28]Klafkis (siehe Kap. 5.1).
Nach abgeschlossener Analyse und Planung im didaktischen Feld kann Unterricht durchgeführt werden Dies erfolgt in Kooperation der Schüler/ innen untereinander und am gemeinsamen Gegenstand. Dieser „... ist - wie vielfach missverstanden - nicht das materiell Faßbare, das letztlich in der Hand des Schülers zum Lerngegenstand wird, sondern der zentrale Prozeß, der hinter den Dingen und beobachtbaren Erscheinungen steht und diese hervorbringt.“[29]Die im didaktischen Feld zu entwickelnde didaktische Struktur wird an Feusers Baummodell in Abb.1. deutlich.[30]
Der Stamm repräsentiert die äußere thematische Struktur, gespeist von den Wurzeln der Fach- und Humanwissenschaften. Diese eingespeisten Erkenntnisse tauchen in den Ästen entsprechend der subjektiven Erkenntnismöglichkeit von Welt auf unterschiedlichsten Entwicklungsniveaus auf. Die Äste stellen die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten dar, in denen sich ein Unterrichtsprojekt ausdrücken kann. Die Entwicklungsniveaus zeigen sich ab Astansatz vom „sinnlich konkreten“ abgestuft bis hin zu den Astspitzen „zu einer abstrakt logisch symbolisierten internen Rekonstruktion, z.B. in Form von Sprache, Schrift, Formeln und Theorien.“ Das Stamminnere stellt den Gemeinsamen Gegenstand dar, der immer einen Prozess meint: Auf-
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Baummodell. Quelle: Feuser 1995: 179.
grund gleicher Bedürfnislage, z.B. einen Garten haben zu wollen, wird ein Gartenprojekt entwickelt, innerhalb dessen sich einzelne Schüler/ innen je nach Motiv und Entwicklungsniveau im Vorhaben unterschiedliche Handlungsfelder erschließen können, sie darin also zieldifferent arbeiten können. Um die aus dem Projekt entstehenden Anforderungen umzusetzen, werden auch andere Fächer, z.B. Mathematik, zum Ausmessen des Grundstücks, mit einbezogen.[31]
Der Kern des „gemeinsamen Gegenstands“ leitet sich nach Feuser zum einen aus der doppelseitigen Erschließung von Welt und Mensch im Fundamentalen und Elementaren her. Eine tätigkeitstheoretische Komponente hebt den sinnstiftenden und Bedeutung herstellenden Aspekt von aneignender Tätigkeit heraus.[32]
„Dabei gebietet es sich [...] auf die Kinder einzugehen bzw. diese zu fragen, um die genaue Bedürfnislage der Kinder kennen zu lernen [...] Dabei ergibt sich oftmals ein uneinheitliches Bild, aber genau darin besteht die Aufgabe der Lehrerin bzw. des Lehrers: Ein Unterrichtsprojekt aufzusetzen, das auf die Bedürfnisse vieler Kinder eingeht und das einen Gemeinsamen Gegenstand enthält, welchem sich die Kinder annähern können. Dabei muss nur im Bedürfnis Übereinklang herrschen, die Motive der Kinder, die dieses Bedürfnis in ihnen erwecken, können durchaus unterschiedlicher Natur sein.“[33]
3.4 Gesetze und Konventionen, die den Paradigmenwechsel einleiten
Ein neues Paradigma, das der Inklusion, wird mit der Erklärung von Salamanca 1994 („...included in the educational arragements...“) und der UNBehindertenrechtskonvention von 2006 („... inclusive education system...“) eingeleitet. Beide reihen sich in andere Beschlüsse ein, die ich auszugsweise wiedergebe.
3.4.1 UN- Kinderrechtskonvention 1989
Schon die UN- Kinderrechtskonvention von 1989, die am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft trat, erkennt in Art.23 (3) „Förderung behinderter Kinder“, die besonderen Bedürfnisse behinderter Kinder an, und fordert, „..Unterstützung soweit irgend möglich [...] so zu gestalten, dass sichergestellt ist, dass Erziehung, Ausbildung, [...] Vorbereitung auf das Berufsleben [...] dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.“[34]Bemerkenswert ist hierzum einen die explizite Benennung auch behinderter Kinder im eigenes angelegten Art. 23, zum anderen, dass im englischen Original[35]als Begriff noch „integration“ benutzt wird, welcher in der deutschsprachigen Übersetzung identisch mit „Integration“ übersetzt wird. Bereits wenige Jahre später ändert sich dies.
[...]
[1] BRK Art. 24 Bildung (1)
[2] Ebd. (2) a
[3] „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Vgl. Parlamentarischer Rat (1949) GG Art. 3
[4] Feuser 2011: 86-100.
[5] Luhmann 1995: 237-264.
[6] Sander 2011: S.15 f.
[7] Ebd. 13.
[8] Deutscher Bildungsrat 1973: 23.
[9] Ebd. 24.
[10] Frühauf 2010: 16 f.
[11] Feuser 1995: 194 f.
[12] Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland.1994: 19 f.
[13] Feuser 1995: 66.
[14] Ebd.:195,196.
[15] Feuser2011: 90.
[16] Feuser 1995:189,190.
[17] Prengel 2006: 29.
[18] Ebd. 50.
[19] Ebd. 60.
[20] Ebd. 11.
[21] Ebd. 185.
[22] Feuser2011: 86.
[23] Köpfer 2008: 8.
[24] Feuser 1989: 25.
[25] Ders. 1995: 178.
[26] Köpfer 2008: 24.
[27] Feuser 1995: 178.
[28] Ders. 1989: 27.
[29] Ders.1995: 181.
[30] Ebd. 179 f.
[31] Köpfer 2008: 60.
[32] Feuser2011: 95.
[33] Köpfer 2008: 59.
[34] Kinderrechtskonvention Art.23(3)
[35] Convention on the Rights of the Child Art.23(3)
- Quote paper
- Volker Pantlen (Author), 2012, Vom Gemeinsamen Gegenstand und der präsentativen Symbolisierung im Religionsunterricht: Wie kann Religion inklusiv vermittelt werden?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198736
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.