Ze ritterschefte stât mîn wân1 (1514), gesteht der 15-jährige Gregorius dem Abt in
Hartmanns von Aue gleichnamiger Geschichte, die vermutlich zw ischen 1187-89 oder in
den frühen 90ern des 12. Jhs. entstanden ist.2 Nachdem der Klosterschüler erfahren hat,
dass er nicht in die Fischerfamilie gehört, in der er aufgewachsen ist, sondern ein
Findelkind ist, folgt ein langes Gespräch mit dem Geistlichen. Nicht dem Rittertum, dieser
irrikeit3, solle sich Gregorius zuwenden, so rät ihm der Abt, sondern Gott (1791-1793).
Diese Textstelle, von Hartmann als Szene mit Rede und Gegenrede gestaltet, ist in der
Sekundärliteratur häufig besprochen worden, denn in ihr mag der Schlüssel zur
Werkdeutung liegen. Dabei haben sich zwei unterschiedliche Lesearten herauskristallisiert.
Gustav Ehrismann und vor allem Ulrich Ernst fassen den Gregorius als Legende auf, „als
radikale antiritterliche und antifeudale contemptus-mundi Dichtung (Weltverachtung), die
dem Leser die Destruktion höfischer Wertvorstellungen eindringlich vor Augen führt.“4
Ernst weist auf den Einfluss der patristischen und monastischen Tradition auf Hartmann
hin und entwickelt ein antagonistisches Schema (vita carnalis versus vita spiritualis,
irdisches Leben versus geistliches Leben), das der gesamten Legende zugrunde liege und
auf ein dichotomes Weltbild hindeute.5
Hugo Kuhn, Eva-Maria Carne und vor allem Christoph Cormeau sind Vertreter der
anderen Position; sie sehen den Gregorius nicht als Dichtung, die einzig zur Verdammung
des weltlichen Lebens konzipiert wurde. Cormeau spricht sich für das Deutungsmodell
einer „kritisch-optimistischen Relativierung laikaler Kultur“ aus, die den Versuch
unternimmt, dem „säkularen Aventiure-Roman“ eine „religiöse Orientierung“ zu geben.6
Die Lebensform des miles wird nach diesem Modell nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern
bedarf nur einiger Ausbesserungen. Cormeau argumentiert einerseits mit dem im Text
explizit Gesagten bzw. Ungesagten, andererseits mit der Gattungszugehörigkeit. [...]
1 Nach Ritterschaft steht mir der Sinn. (Alle mittelhochdeutschen Zitate sind der Ausgabe von Hermann Paul
entnommen.)
2 Burkhard Kippenberg: Anmerkungen des Übersetzers, S. 250.
3 Irrweg.
4 Ulrich Ernst: Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis, S. 226.
5 Ebd., S. 182.
6 Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, S. 140f.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Miles versus clericus ? Die Frage nach der Bewertung kontrastiver
Lebensentwürfe in Hartmanns von Aue Gregorius
2.1 Die textimmanente Analyse des Streitgesprächs
2.2 Die Analyse des Streitgesprächs auf der Basis textexterner Faktoren
2.2.1 Der historische Hintergrund – Einflüsse auf die Motivwahl und S. 8 die Struktur
2.2.2 Die Gattungszugehörigkeit
3 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ze ritterschefte stât mîn wân1 (1514), gesteht der 15-jährige Gregorius dem Abt in Hartmanns von Aue gleichnamiger Geschichte, die vermutlich zwischen 1187-89 oder in den frühen 90ern des 12. Jhs. entstanden ist.2 Nachdem der Klosterschüler erfahren hat, dass er nicht in die Fischerfamilie gehört, in der er aufgewachsen ist, sondern ein Findelkind ist, folgt ein langes Gespräch mit dem Geistlichen. Nicht dem Rittertum, dieser irrikeit3, solle sich Gregorius zuwenden, so rät ihm der Abt, sondern Gott (1791-1793). Diese Textstelle, von Hartmann als Szene mit Rede und Gegenrede gestaltet, ist in der Sekundärliteratur häufig besprochen worden, denn in ihr mag der Schlüssel zur Werkdeutung liegen. Dabei haben sich zwei unterschiedliche Lesearten herauskristallisiert. Gustav Ehrismann und vor allem Ulrich Ernst fassen den Gregorius als Legende auf, „als radikale antiritterliche und antifeudale contemptus-mundi Dichtung (Weltverachtung), die dem Leser die Destruktion höfischer Wertvorstellungen eindringlich vor Augen führt.“4 Ernst weist auf den Einfluss der patristischen und monastischen Tradition auf Hartmann hin und entwickelt ein antagonistisches Schema (vita carnalis versus vita spiritualis, irdisches Leben versus geistliches Leben), das der gesamten Legende zugrunde liege und auf ein dichotomes Weltbild hindeute.5
Hugo Kuhn, Eva-Maria Carne und vor allem Christoph Cormeau sind Vertreter der anderen Position; sie sehen den Gregorius nicht als Dichtung, die einzig zur Verdammung des weltlichen Lebens konzipiert wurde. Cormeau spricht sich für das Deutungsmodell einer „kritisch-optimistischen Relativierung laikaler Kultur“ aus, die den Versuch unternimmt, dem „säkularen Aventiure-Roman“ eine „religiöse Orientierung“ zu geben.6 Die Lebensform des miles wird nach diesem Modell nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern bedarf nur einiger Ausbesserungen. Cormeau argumentiert einerseits mit dem im Text explizit Gesagten bzw. Ungesagten, andererseits mit der Gattungszugehörigkeit. Er betrachtet den Gregorius als Mischform zwischen Roman und Legende.7 Die Frage nach der literarischen Gattung spiele insofern eine Rolle, als dass durch sie Rückschlüsse auf das Publikum und die beabsichtigte Wirkung gezogen werden können.8 Die Gattung könnte also Hinweise darauf geben, wie Hartmann, der sich als Erzähler explizit zu erkennen gibt (171-173), die Lebensentwürfe miles und clericus wohl beurteilte, jeden für sich betrachtet einerseits, andererseits und vor allem aber in der Gegenüberstellung.
Im Folgenden soll in einem ersten Teil untersucht werden, welche Argumente der Abt und Gregorius zur Rechtfertigung ihrer jeweiligen Position anführen und wie überzeugend diese sind. Dabei werde ich das Streitgespräch textimmanent analysieren und zu dem Schluss kommen, dass aus dem Dialog nicht klar hervorgeht, wessen Standpunkt der Erzähler teilt.
In einem zweiten Teil werde ich auf textexterne Faktoren eingehen, welche die zuvor genannten Autoren zur Interpretation des Streitgesprächs und auch des gesamten Texts zu Hilfe ziehen. Hierbei werden der historische Hintergrund der Debatte miles versus clericus mit den Einflüssen auf die Motivwahl und die Struktur und eine Untersuchung der Gattung des Gregorius -Texts wichtig sein.
Da die Vertreter beider Positionen stichhaltige Argumente anführen, gibt es für mich keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob im Gregorius die vita carnalis der vita spiritualis unversöhnlich gegenübersteht. Tendenziell würde ich mich aber eher Cormeau anschließen, zumal dessen Argumentation mit der Gattungszugehörigkeit noch nicht widerlegt zu sein scheint.
2 Miles verus clericus? Die Frage nach der Bewertung kontrastiver Lebensentwürfe in Hartmanns von Aue Gregorius
2.1 Die textimmanente Analyse des Streitgesprächs
Bevor der Abt Gregorius für ein geistliches Leben gewinnen will, führt er ihm die Lage vor Augen, in der er sich nun befindet. Der Klosterschüler stehe an einem Scheideweg, an dem es sich zwischen êre, tugent, schande, laster, spot, genesen und verderben9 zu entscheiden gelte (1442, 1448 und 1452). Cormeau bemerkt an dieser Stelle, dass die Oppositionspaare, die man aus diesen Begriffen bilden kann, nicht unbedingt nur auf ein Heil im Jenseits bezogen sind10 ; so ist z.B. die schande durchaus etwas, das man während seines Erdendaseins auf sich laden kann, aber demgegenüber steht nicht notgedrungen eine der geistlichen Tugenden, sondern die êre (1442), der zentrale Wert der auf das Diesseits bezogenen ritterlichen Ethik. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass es dem Erzähler nicht um eine strikte Trennung zwischen weltlichem und geistlichem Leben geht.
Das erste Argument, mit dem der Abt seinen Klosterschüler zum Bleiben bewegen will, ist nicht sonderlich überzeugend: Dû bist der phafheit gewon (...)11 (1463). Die Gewohnheit und die Aussicht, vom Abt mit dessen Amt beerbt zu werden, überzeugen Gregorius nicht. Er will aus drei Gründen das Kloster verlassen: Weil er seine Vergangenheit als Schande empfindet (1490) und das Gerede der Leute fürchtet (beidiu lîp unde sin benimet mir diu unêre vernim ichs iemer mêre12, 1412-1414), weil er nicht in die Fischerfamilie gehört (daz ich niene bin disse vischaeres kint13, 1494f) und vor allem wegen eines innigen Wunsches (ich würde gerne ritter, 1503). Ehrismann sieht diese Begründungen ausschließlich im Weltlichen wurzelnd14, gesteht aber zu, dass die Ritterschaft in Gregorius wohl erblich angelegt, das Klosterwesen aber nur ein Produkt seiner Erziehung sei.15
Die folgenden Argumente, derer sich der Abt bedient, sind fundierter. Wenn Gregorius das Leben im Kloster aufgebe und sich dem Rittertum zuwende, käme dies einem Sich-von-Gott-Abwenden gleich (1517f). Fehlverhalten könnte die Folge sein, bei dem Leib und Seele auf dem Spiel ständen (1521), und Schande und Hölle seien damit unausweichlich (1524f). Gregorius stellt die schlimmen Ausmalungen des Abts als Zerrbild eines Ritters dar, indem er seine eigene Vorstellungen dagegensetzt. Er ist überzeugt, durch dieses Leben mâze16 (1532) zu erlernen. Damit könne er auch durch ein Engagement im Diesseits genesen17 (1533) erlangen. Interessant ist der Ausdruck gotes ritter (1534), denn er legt nahe, dass sich die Lebensformen des miles und des clericus in einer einzigen Daseinsweise harmonisch vereinbare lassen. Man stößt auf eine ähnliche Formulierung, wo es um die Befreiung der Herzogin geht (2070): Durch got und durch êre.18 Ernst hält dies für ein Vorhaben, dessen Wirklichkeitsferne Gregorius durch sein Verhalten selbst vorführe. Denn geht es ihm nicht in erster Linie um sein und nicht um Gottes Ansehen, wenn er später als erfolgreiche Ritter jeden töten will, der behauptet, er sî ein ungeborn man19 (2577) und wenn ihm nach dem Sieg über den Herzog von allen Seiten michel êre20 (2167) angetragen wird? Andererseits verzichtet er für Gott auf die Unterwerfung weiterer Länder (2269) und fordert um seinetwillen nicht mehr als das, was ihm zusteht (2273).21 Meiner Meinung nach beschreibt der Erzähler Gregorius’ Ritterzeit, insbesondere den Kampf mit dem feindlichen Römerherzog, zu ausführlich und zu positiv (2132f, 2258, 2268, 2272), als dass daran und am daraus resultierenden weltlichen Ansehen Anstoß zu nehmen wäre. Hugo Kuhn geht sogar soweit zu sagen, Hartmann sei der Ritter, Landes- und Eheherr vielleicht am liebsten, betrachte man die Intensität der Schilderung.22 Dennoch mag in manchen Formulierungen eine gewisse Warnung mitschwingen, ein Appell an die Demut: Dô erst wart sîn vrävele grôz23 (1995). Es kommt bei der Bewertung von Gregorius’ Ritterzeit ganz entscheidend auf die Übersetzung von vrävele an, was sowohl etwas Positives wie ‚Kühnheit’ als auch etwas Negatives wie ‚Übermut’ oder ‚Hochmut’ bedeuten kann.24 So lässt der Erzähler den Leser letztendlich im Unklaren, ob Gregorius sein Programm, als Ritter Gottes zu kämpfen, zufriedenstellend erfüllt und ob er Ritter hätte bleiben können, wäre er nicht zu Höherem erwählt gewesen.
[...]
1 Nach Ritterschaft steht mir der Sinn. (Alle mittelhochdeutschen Zitate sind der Ausgabe von Hermann Paul entnommen.)
2 Burkhard Kippenberg: Anmerkungen des Übersetzers, S. 250.
3 Irrweg.
4 Ulrich Ernst: Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis, S. 226.
5 Ebd., S. 182.
6 Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, S. 140f.
7 Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, S. 140.
8 Ebd., S. 126.
9 Ansehen, Tüchtigkeit, Schande, Schmach, Schimpf, Heil, Verderben.
10 Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, S. 134.
11 Du bist an das geistliche Leben gewöhnt.
12 Leib und Seele würde mir die Schande rauben, vernähme ich sie immer wieder.
13 Dass ich nicht dieses Fischers Kind bin.
14 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems, S. 49.
15 Ebd., S. 46.
16 Speziell: Zurückhaltung, Bescheidenheit, Mäßigung etc... Da es hier aber um keine konkrete Situation geht, ist dem Sinn nach etwas wie ‚wohlüberlegtes Handeln in jeder Lebenssituation’ gemeint.
17 Heil, Errettung.
18 Für Gott und für das Ansehen.
19 (Er) sei ein Mann von niedriger Abstammung. Ulrich Ernst: Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis, S. 168.
20 Großer Ruhm.
21 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems, S. 46.
22 Hugo Kuhn: Der gute Sünder – der Erwählte?, S. 246.
23 Da wurde seine Kühnheit noch größer.
24 Beate Hennig: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch, S. 442.
- Arbeit zitieren
- Anne Thoma (Autor:in), 2003, "Miles" versus "clericus"? Die Frage nach der Bewertung kontrastiver Lebensentwürfe in Hartmanns von Aue "Gregorius", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19847
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