Die Gruppe der französischen Annales ist heutzutage im historischen wie mediävistischen Bereich eine fest etablierte Institution. Der Weg dorthin war in ihrem über siebzigjährigen Bestehen allerdings häufig geprägt von Ablehnung, kontroversen Diskussionen, inneren Differenzen, glühender Verehrung sowie zahlreichen Versuchen einer Selbstfindung und Definition dessen, was die Annales letztlich ausmacht. Dabei sind im Lauf der Jahre mit jeder neuen Annales-Generation wieder Forscher aus deren Umfeld aufgetreten, die die Wissenschaft mit ihren Ansätzen zu revolutionieren, zu spalten und auf neue Blinkwinkel aufmerksam zu machen verstanden.
Die vorliegende Masterarbeit beschäftigt sich nun sowohl mit der genannten Gruppe der Annales im Allgemeinen, wie gleichsam auch im Besonderen mit einem ihrer bedeutendsten Vertreter: Georges Duby, und dem zweiten Band seiner „Geschichte des privaten Lebens“ mit dem Titel „Vom Feudalzeitalter zur Renaissance“. Untersucht werden soll hier die Frage, inwiefern der Verfasser und Mitherausgeber für die Mediävistik innerhalb wie außerhalb Frankreichs bedeutsam war und ist. Untersucht werden soll außerdem Dubys spezielle Rolle innerhalb der Annales-Bewegung; es soll der Versuch einer Einordnung seines Schaffens – stets mit Blick auf das hauptsächlich zu untersuchende Werk – sowie Hinter- und Beweggründe seiner Forschung erfolgen.
Nun ist die „Geschichte des privaten Lebens“ in ihrer speziellen Struktur und Ausrichtung kaum zu fassen, wenn man nicht den Kontext der „Annales“ und insbesondere deren mentalitätsgeschichtlichen Zweig genauer betrachtet. Diesen Aspekten soll das erste Drittel der Arbeit gewidmet sein. Hier wird der Begriff dessen untersucht, was als Bewegung der Annales gesehen werden kann, werden Aspekte und Voraussetzungen der Mentalitätsgeschichte ebenso wie die Diskussion rund um den Terminus aufgezeigt und mit anderen Forschungsansätzen verglichen. Dabei sind vor allem solche Themengebiete interessant, die wiederum einen Bezug zu Georges Duby aufweisen. Inwiefern ist er dieser Gruppierung – oder gar Schule? – zuzuordnen, was hat ihn geprägt und wo hat er selbst neue Ansätze kreiert?
1. Einleitung
1.1 Einführung
Die Gruppe der französischen Annales ist heutzutage im historischen wie mediävistischen Bereich eine fest etablierte Institution. Der Weg dorthin war in ihrem über siebzigjährigen Bestehen allerdings häufig geprägt von Ablehnung, kontroversen Diskussionen, inneren Differenzen, glühender Verehrung sowie zahlreichen Versuchen einer Selbstfindung und Definition dessen, was die Annales letztlich ausmacht. Dabei sind im Lauf der Jahre mit jeder neuen Annales-Generation wieder Forscher aus deren Umfeld aufgetreten, die die Wissenschaft mit ihren Ansätzen zu revolutionieren, zu spalten und auf neue Blinkwinkel aufmerksam zu machen verstanden.
Die vorliegende Masterarbeit beschäftigt sich nun sowohl mit der genannten Gruppe der Annales im Allgemeinen, wie gleichsam auch im Besonderen mit einem ihrer bedeutendsten Vertreter: Georges Duby, und dem zweiten Band seiner „Geschichte des privaten Lebens“ mit dem Titel „Vom Feudalzeitalter zur Renaissance“. Untersucht werden soll hier die Frage, inwiefern der Verfasser und Mitherausgeber für die Mediävistik innerhalb wie außerhalb Frankreichs bedeutsam war und ist. Untersucht werden soll außerdem Dubys spezielle Rolle innerhalb der Annales-Bewegung; es soll der Versuch einer Einordnung seines Schaffens – stets mit Blick auf das hauptsächlich zu untersuchende Werk – sowie Hinter- und Beweggründe seiner Forschung erfolgen.
Nun ist die „Geschichte des privaten Lebens“ in ihrer speziellen Struktur und Ausrichtung kaum zu fassen, wenn man nicht den Kontext der „Annales“ und insbesondere deren mentalitätsgeschichtlichen Zweig genauer betrachtet. Diesen Aspekten soll das erste Drittel der Arbeit gewidmet sein. Hier wird der Begriff dessen untersucht, was als Bewegung der Annales gesehen werden kann, werden Aspekte und Voraussetzungen der Mentalitätsgeschichte ebenso wie die Diskussion rund um den Terminus aufgezeigt und mit anderen Forschungsansätzen verglichen. Dabei sind vor allem solche Themengebiete interessant, die wiederum einen Bezug zu Georges Duby aufweisen. Inwiefern ist er dieser Gruppierung – oder gar Schule? – zuzuordnen, was hat ihn geprägt und wo hat er selbst neue Ansätze kreiert?
Allerdings sind die Annales eine derart heterogene Gruppe, die sich im Lauf der letzten rund 70 Jahre häufig in Ausrichtung und Ansätzen verändert hat, dass es nötig ist, in dieser Einleitung nicht allein auf die Schwerpunkte der folgenden Arbeit hinzuweisen. Sondern gleichsam bereits einige Punkte zu nennen, die im Folgenden nicht Ziel genauerer Untersuchung werden sollen, möglicherweise aber in einer Arbeit erwartet werden mögen, die sich mit der Historiographie der Annales beschäftigt. Jedoch würden sie einerseits des Öfteren in keiner direkten Beziehung zum Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit, Georges Duby, stehen, und zudem den Rahmen des Umfangs derselben bei weitem sprengen, wenngleich sie in Ansätzen zum besseren Verständnis gestreift werden.
Die Bewegung der Annales hatte und hat selbstverständlich eine Reihe von intellektuellen Vorläufern, an denen sich die verschiedenen Generationen und Zweige der Annales – manche mehr, manche weniger – orientierten. Dennoch wird die vorliegende Arbeit auf jene Vorläufer nicht eingehen. Es soll nicht der Anspruch dieser Masterarbeit sein, einen allumfassenden Werdegang der Bewegung der Annales mit all seinen Facetten, diversen Ausprägungen und vielfältigen Quellen zu schaffen. Vielmehr soll die Konzentration insbesondere dem Bereich der Mentalitäts/Mentalitätengeschichte und dem Mediävisten Georges Duby respektive einem seiner Werke im Kontext der Annales gelten. Zudem haben auch die viel zitierten Ideengeber für die Annales, wie etwa Durkheim oder Marx, ihrerseits einen profunden Einflussbereich, den wiederum zu untersuchen eine Spirale in Gang setzen würde, die in diesem Kontext deutlich zu weit führen würde.
Da die Annales mittlerweile ihre feste Stellung im globalen Forschungskosmos etabliert haben, ist es zudem in dieser Arbeit nicht sinnvoll, ihre Erneuerungen, Errungenschaften und Anstöße innerhalb der Geschichtswissenschaft beziehungsweise Mediävistik chronologisch nachzuverfolgen, wenngleich eine mögliche grobe theoretische Unterteilung zum Zwecke der besseren Einordnung Dubys erfolgt. Auch soll der Weg ihrer Verbreitung und Rezeption innerhalb und außerhalb Frankreichs nicht umfangreich nachgezeichnet werden. Ziel dieser Arbeit wird es also explizit nicht sein, die Geschichte der Entwicklung der Annales von einer oppositionellen historischen Forschungsbewegung gegenüber Ereignisgeschichte und Positivismus bis hin zu einer etablierten, global akzeptierten und rezipierten Institution darzustellen. Auch sollen die Kontroversen und Diskussionen um Themen und Arbeitsweisen innerhalb der Bewegung nicht Hauptthema sein, wenngleich Georges Duby durchaus daraufhin untersucht wird, inwiefern er den Annales fest zuzuordnen ist und wo er möglicherweise von ihnen abweicht.
Warum also gerade dann die hier vorliegenden, aus dem Füllhorn an möglichen Themen rund um die Annales herausgegriffenen, Fragestellungen und Untersuchungen? Nach Meinung des Verfassers der vorliegenden Arbeit ist das Gebiet der mentalitätsgeschichtlichen Forschung und speziell der Arbeiten Georges Dubys ein aus mehreren Gründen hochinteressantes Thema. Wo die Geisteswissenschaften all zu häufig mit dem Prädikat behaftet werden, sie würden nur interpretieren statt zu erklären, setzt Duby seine Arbeit entgegen. Er interpretiert – aber mit Hilfe von interdisziplinären Methoden, die so exakt sind wie in dieser Disziplin eben irgend möglich. Er „träumt“ sich die Vergangenheit herbei, stellt Tote als lebendig dar – und doch fabuliert er nicht, sondern schafft vielmehr Impressionen, die seinen Lesern helfen sollen, das Vergangene besser zu verstehen und aus der Geschichte zu lernen. Denn dies ist sein großes Ziel:
Der entscheidende Wert der Geschichte, ihr moralischer Wert, liegt letztlich aber in der historischen Methode selbst. […] Sie lehrt, die Gegenwart auf eine weniger naive Weise zu lesen und vermittels einer Erfahrung von einstigen Gesellschaften zu verstehen, wie die verschiedenen Elemente einer Kultur, einer Gesellschaftsform aufeinander einwirken.[1]
Ein Ziel, dessen Umsetzung einer kritischen, aber nicht polemischen Betrachtung in dieser Arbeit unterzogen werden soll. Einer der drei großen Untersuchungsschwerpunkte wird also eine Einführung in das oft kontrovers diskutierte Thema, was denn unter den Annales zu verstehen ist, sein, ob sie eine Einheit bilden und inwiefern ihrem mentalitätsgeschichtlichen Zweig eine besondere Stellung zukommt, beziehungsweise inwiefern dieser sich von den ursprünglichen Annales löst.
Dies bereitet den Boden für die beiden weiteren Hauptpunkte: Der Betrachtung von Georges Duby als einem Vertreter annalesscher Geschichtsschreibung, der gleichsam für die Mediävistik von Bedeutung ist. Der mal dem einen, mal dem anderen Zweig mentalitätsgeschichtlicher Forschung stärker zugeneigt scheint und in dessen Werken sich trotz des Wandels in der Herangehensweise doch stets klare, typische Leitlinien und Merkmale finden. Da es sich bei vorliegender Masterarbeit um eine aus dem Bereich der Germanistik/Mediävistik handelt, wird ein Untersuchungspunkt hierbei besonderes Augenmerk auf Dubys Schreibstil – insbesondere in der „Geschichte des privaten Lebens“, aber auch mit Verweisen auf andere seiner Werke – richten. Es soll herausgearbeitet werden, wo Dubys Stil wissenschaftlich und wo eher literarisch ist, wie er Grenzen verschiebt, wo und inwiefern sein Vorgehen diskussionswürdig, progressiv oder gar innovativ in diesem Genre ist. Ein ähnlicher Gegenstand der Untersuchung, der sich teilweise mit der Untersuchung des dubyschen Formulierungsstils überschneidet, ist seine Haltung zum Element des „Imaginativen“ in der Forschung. Ist dies als unwissenschaftliche Träumerei und faktenloses Schwärmen oder als ein neuartiger und dennoch wissenschaftlicher Forschungsansatz zu bewerten? Auch dies wird die vorliegende Arbeit zu entschlüsseln versuchen.
Der dritte Schwerpunkt liegt auf einem exemplarischen, von Georges Duby herausgegebenen und mit genauer zu untersuchenden Beiträgen versehenen Werk aus dem Umfeld der Annales, dem genannten zweiten Band der „Geschichte des privaten Lebens: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance“. Exemplarisch in der Wahl der darin behandelten Themen, vielfältig aufgrund der Beteiligung diverser weiterer Annales-Autoren, Schüler und Freunde Georges Dubys, und nicht zuletzt aufgrund des Erscheinungsdatums in der Spätphase des dubyschen Ouevres, lassen sich hier gut typische Merkmale annalesscher, mentalitätsgeschichtlicher und – vor allem – dubyscher Arbeits- und Herangehensweisen aufzeigen, diskutieren und erläutern.
1.2 Forschungsüberblick und Literaturauswahl
Zu den Annales sowie deren spezifischen Ausrichtungen, von denen für diese Arbeit insbesondere die Mentalitätsgeschichte von Bedeutung ist, existieren zahllose primär- wie sekundärliterarische Werke. Die älteren aus dieser Vielzahl von Werken beschäftigen sich zwar häufig mit dem Status der Annales im globalen Wissenschaftskontext; ein Untersuchungsgebiet, das aufgrund der offensichtlichen Etablierung der Institution Annales mittlerweile eher zu vernachlässigen ist. Dennoch entfalten einige dieser Arbeiten interessante Kontroversen um Selbstverständnis, Zielsetzungen und Ansätze innerhalb der Bewegung; sie zeigen Entwicklungslinien auf und erklären immanente Strukturen. Aus diesem Grunde sind sie auch in die vorliegende Arbeit integriert. Herauszuheben wären an dieser Stelle beispielhaft Annette Riecks Forschungsbericht zur französischen Mentalitätsgeschichte, der in Bezugnahme auf frühere Essays und Kategorisierungen deutlich die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Annales herausarbeitet. Ebenso sind hier Erbes und Sprandels Untersuchungen zur Mentalitätsgeschichte aus mediävistischer Perspektive sowie Raulffs definitorische Erklärungsmuster zu nennen. Nicht zuletzt ist natürlich das Selbstverständnis der Protagonisten aus dem Bereich der Annales von Bedeutung, weshalb diverse Werke von Le Goff über Febvre bis hin zu den „Dialogen“ zwischen Duby und Lardreau interessante Einblicke in entsprechende Ansätze und Denkmuster gewähren. So sind die „Dialoge“ gewissermaßen unverzichtbar, um Dubys gezwungenermaßen subjektive Ansichten kennen und verstehen lernen zu können und darauf aufbauend Begründung für viele seiner Ansätze und Vorgehensweisen zu finden.
Die neuere Forschungsliteratur beschäftigt sich hauptsächlich mit spezifischeren Themen und kann rückblickend Tendenzen bestimmen, prägende Entwicklungen sowie Ansätze feststellen und dadurch zumindest in Bezug auf Werkwirksamkeit und Schaffen Dubys Resümee ziehen. Besonders interessant ist, wenn hierbei Autoren, wie etwa Burke, Entwicklung und Veränderung der Annales über einen langen Zeitraum kritisch verfolgt, sich selbst und ihre früheren Werke dabei stets aktualisiert haben und somit über die Jahre vielen anderen Forschern als Vorbild und Zitatquelle dienten. In Bezug auf Duby lässt sich zudem dessen Schaffen als ein Ganzes beurteilen; seine Werke vergleichen und auf biographische Details eingehen, wie dies exemplarisch beispielsweise Seischab tut.
Einen Blick über den Tellerrand annalesspezifischer Forschungsliteratur bieten Untersuchungen wie die von Geertz, Eco, Eggert oder auch Oexle, die sich dennoch immer wieder mit den Thematiken rund um die Annales überschneiden. Die Studien von Rojas zur „Schule der Annales“ schließlich eignen sich trotz – oder gerade wegen – diverser, auch in der vorliegenden Arbeit kontrovers diskutierter Thesen ebenso wie die vergleichbaren Werke Dinzelbachers, Rüths und Raphaels gut zum Einstieg in die Materie.
Mentalitätsgeschichte wird mittlerweile als ein globaler Terminus akzeptiert und diskutiert. Dass die vorliegende verwendete Literatur größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich, aus Westeuropa und am häufigsten aus Deutschland und Frankreich stammt, ist in den Fragestellungen dieser Arbeit begründet. Ziel ist nicht, aktuelle Veränderungen, neue Ansätze und Diskussionen gegenüberzustellen, wenngleich diese am Rande gestreift werden mögen. Ziel ist vielmehr, die Definition von Mentalitätsgeschichte in Hinblick auf das Schaffen Georges Dubys zu beleuchten, dessen Ansätze, Widerstände, Einflüsse und Neuerungen, sein Leben und Werk und die ihn dabei umgebenden und prägenden forschungsgeschichtlichen Faktoren aufzuzeigen – nicht zuletzt durch das beispielhafte Heranziehen des zweiten Bandes der „Geschichte des privaten Lebens“. Zu diesem Zweck sind nach Meinung des Verfassers die genutzten, im Literaturverzeichnis vorliegenden Werke, Aufsätze und Abhandlungen die Geeignetsten.
2. Die Annales – eine Merkmals- und Begriffsdefinition
2.1 Die Entstehung des Annales-Begriffs
Der Begriff der „Annales“ als einer eigenständigen Forschungsrichtung wurde grundlegend geprägt durch die 1929 an der Universität Straßburg von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründete Zeitschrift der „Annales d’histoire economique et sociale“. Deren Ziel sollte sein „[...] Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu fördern, keine Theorie- und Methodendiskussionen zu führen, sondern die Ergebnisse empirischer Forschung vorzulegen [...] und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu steigern.“[2].
Die Gruppierung der Annales ist wiederum benannt nach der Zeitschrift „Annales ESC (Economies Sociétés Civilisations)“ – dem 1946 erschienenen Nachfolgeorgan der „Annales d’histoire économique et sociale“. Die „Ecole des Annales“ – die Schule der Annales also – stellt eine kaum bis äußerst schwierig eingrenzbare feste Institution dar, was die Diskussion um die Bezeichnung „Schule“ in Bezug auf die Annales bis heute anhalten lässt. Selbst die in der namensgebenden Zeitschrift publizierenden Forscher bestreiten teilweise „[...] die Existenz einer „Schule der Annales“. [...] Ihr Verdienst wird unter anderem darin gesehen, daß die Annales keine dogmatisch vorgetragene Geschichtsphilosophie vertreten, sondern neue Horizonte eröffnet haben“[3]. Dass sich die Bezeichnung der Schule der Annales trotz dieser Tatsache verbreitet und als Begriff etabliert hat, mag mit der „[...] Evokation eines gemeinsamen „esprit“ (Geistes) den sie auf Marc BLOCH und Lucien FEBVRE, die Gründer der Zeitschrift [...]“[4] zurückführen zusammenhängen. Dabei ist dieser Geist vielmehr ein Überdach gemeinsamer Anknüpfpunkte; eine rein homogene Gruppe sind und waren die Annales zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz. Wenn etwa Rojas die Frage nach den „Annales im Plural oder Singular“ stellt, so bezieht er sich damit auf die unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Annales-Strömung. Doch trotz des Vorhandenseins verschiedener Ansatzpunkte zweifelt auch er keinen Moment an dem gemeinsamen Übergeordneten, der Institution der Annales, wenngleich er einer der Vertreter ist, die sich gegen die Klassifizierung derselben als Schule aussprechen, wie später gezeigt werden wird.
Was genau aber will der Begriff Annales überhaupt einschließen? Sofern eingrenzbar einerseits die von den beiden genannten „Vätern“ Febvre und Bloch mit dem Ziel „[...] pour promouvoir l’histoire économique et sociale et favoriser les contacts interdisciplinaires des sciences sociales“[5] gegründete Zeitschrift selbst sowie deren spätere Etablierung als Institution. Zweitens, und das ist hier entscheidend, die wissenschaftliche Forschungskonzeption, die die Gründer und ihre Anhänger beziehungsweise Nachfolger entwickelten. Diesem Konzept wurde von Febvre und Bloch ein etwas schwammig umrissener Begriff des bereits zitierten „Esprit“ zugeordnet, den Burguiere wie folgt definiert: „Der `Geist der Annales’ verweist nicht [...] auf irgendeine Doktrin, sondern auf eine Anzahl von Hauptideen“[6]. Unter diesen findet sich als wichtigste neben der Öffnung zu interdisziplinärer Forschung hin
die Betonung des Studiums der Gruppen, der kollektiven Phänomene statt des Studiums von Taten und Ideen einzelner Individuen [...] die Beachtung der objektiven Kräfte, besonders der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten, die die Wirklichkeit strukturieren.[7]
Dies ist einer der entscheidenden Merkmalspunkte der Annales und Grundstein der Mentalitätsgeschichte in Abgrenzung zur Ereignisgeschichte. Es ist allerdings nachvollziehbar, dass in Frage gestellt wird, ob eine solche Vorgabe ausreicht, um bei den Annales von einer Schule zu sprechen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Definition, wonach die Annales in Ermangelung einer klaren Abgrenzung dessen, was sie als feste Institution charakterisiert, einfach umgekehrt definiert werden: „Die Annales sind nicht Nicht-Annales; die „Neue Geschichte“ ist nicht die „Alte Geschichte““[8]. Der Terminus der „Neuen Geschichte“, oder original „Nouvelle histoire“, wurde von Jacques LeGoff und teilweise auch dem später in dieser Arbeit umfangreich behandelten Georges Duby geprägt. „Im engeren Sinn beziehe sich der Begriff auf die Gruppe der Erben von Marc BLOCH und Lucien FEBVRE, die beanspruchen, diese Erneuerung hervorgerufen zu haben“[9].
2.2 Die Annales – „Schule“, Gruppierung oder loser Verbund?
Die bereits unter Punkt 1.1 kurz aufgegriffene Diskussion um den Begriff der „Schule“ der Annales ist fast so alt wie die Annales selbst, und sowohl Befürworter wie Gegner dieses Terminus haben rationale Argumente für ihre Standpunkte vorzubringen. Coutau-Begarie etwa ist als einer der Forscher zu nennen, die die Annales durchaus als Schule betrachten. „Seine Analyse setzt die Existenz einer Schule, zumindest aber die einer Gruppe mit festem Wir-Bewußtsein voraus“[10]. Wichtig hierbei ist vor allem letzteres, führt es doch am ehesten an die Rechtfertigung heran, die Annales als eine einheitliche Gruppe – oder eben Schule – beziehungsweise Forschungsrichtung zu bezeichnen. Maximen wie Interdisziplinarität, Untersuchung von klassenübergreifenden Phänomenen und der bereits angesprochene, zunächst hochtrabend erscheinende Begriff des gemeinsamen „Esprit“ sind es, die die Mitglieder der Annales zu „Brüdern im Geiste“ macht und die Diskussion um eine Bezeichnung als „Schule“ – gleichwohl aufgegriffen – beinahe überflüssig scheinen lässt. Gemeinsamkeiten innerhalb des Kreises der Annales lassen sich viele herausstreichen. Als erster und wichtigster Punkt wäre hierbei die immer wieder proklamierte – anfangs revolutionäre, später für jedes Annalesmitglied unabdingbares Werkzeug gewordene – Interdisziplinarität zu nennen. Dass das Aufheben der Barrieren zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen und methodologischen Disziplinen für die Annales die Grundvoraussetzung fortschrittlicher Geschichtsschreibung sei meint Febvre bei mehreren Gelegenheiten, wenn er davon spricht, dass, so wortgemäß, sinnvolle Arbeit Orientierung erfordere. Er meint damit die Orientierung über den Tellerrand des Historikers, respektive, wie beim später ausführlich zu behandelnden Georges Duby, des Mediävisten hinaus. Ein Grund für den starren Theorieverzicht der Annales wäre sicherlich in der versuchten Abgrenzung zu bereits existierenden, verwandten Forschungsansätzen zu suchen. Hierzu konstatiert Le Goff, dessen Werke wie etwa die „Geburt des Fegefeuers“ in Geschichtswissenschaft wie Mediävistik einen hohen Stellenwert bekleiden, „Jusqu’ici l’histoire nouvelle a essayé d’échapper à deux dangers: être systématique d’un côte, être purement empirique de l’autre [...]“[11]. Eben die Gefahr in das von Le Goff genannte ein oder andere Extrem zu verfallen, wollten die Annales von Anfang an vermeiden. Natürlich sind die mentalitätsgeschichtlichen Ziele andere als die der Ereignisgeschichte; entsprechend anders die Methoden: Das Studium von Statistiken, die Auswertung von Zahlen und die Untersuchung sich wandelnder Strukturen ließen ein starres Verharren in der Theorie eines einzelnen Forschungssystems nicht zu. Wichtige Maßgaben an die Annales kamen dabei von ihren Gründern. Laut Febvre sollte sich die Annales-Forschung „[...] um einen reflektierten Bezug zur Gegenwart bemühen. Aus seiner Kenntnis der Krisen der Gegenwart soll der Wissenschaftler historische Fragestellungen entwickeln [...]“[12]. Bloch unterstrich die Bedeutung des neutralen Historikers, der keine Werturteile fällt. Eine wichtige Gemeinsamkeit streicht Riecks heraus, wenn sie schreibt:
Die meisten der mit den Annales verbundenen Historiker [...] wandten sich der Erforschung der Lebensbedingungen und Lebensweisen solcher Menschen zu, über die die traditionelle Historiographie schwieg. Sie begründeten die wissenschaftliche Geschichte der breiten Massen, wenn auch nach Meinung einiger Kritiker das handelnde Individuum dabei zu kurz kam. [...] Für die Annales sind Quellen nicht mehr nur schriftliche Dokumente, sondern [...] Auswertung von „tout ce qui étant à l’homme, dépend de’l homme, sert de l’homme […][13].
Dabei zeigt jedoch die Bezeichnung „mit den Annales verbunden“, dass keineswegs jeder, der die von Bloch und Febvre proklamierten und ausgegebenen Forschungsansätze umsetzt, gleichsam einer „Schule“ angehören muss, was wiederum gegen diesen Begriff spricht. Viele Forschungsansätze innerhalb der Annalesgruppe sind alles andere als einheitlich. Der mentalitätsgeschichtliche Zweig wird teilweise gar als Revolution innerhalb der Strömung angesehen, ob Duby tatsächlich den Annales zuzurechnen sei, kontrovers diskutiert. Mehr hierzu unter Punkt 4.1.
Wenn die Annales also keinen stringenten inhaltlichen Maximen folgen, stellt sich die Frage, was diese Gruppierung – oder, wie diskutiert, möglicherweise auch Schule – was also die Gemeinschaft der Annales im Innersten zusammenhält. „Tatsächlich fehlt den Annales bis heute eine zusammenhängende Behandlung ihrer Methodik und eine Definition ihrer Geschichtstheorie(n)“[14]. Es muss festgehalten werden, dass die Annales keineswegs die Ersten waren, die interdisziplinär beziehungsweise mentalitätsgeschichtlich arbeiteten. Es ist wie in der Einleitung angerissen sicherlich eine interessante Frage, was der Entstehung der Annales vorausging und was ihre Gründerväter inspiriert haben mag. Alle potentiellen Vorbilder und Vorläufer und ihren möglichen Einfluss auf die Annales aufzulisten ist jedoch nicht im Sinn der vorliegenden Arbeit, die sich insbesondere auf den mentalitätsgeschichtlichen Zweig beziehungsweise die (Sonder)Rolle von Georges Duby konzentriert, weshalb hier lediglich kurz auf wenige bedeutende Namen wie Durkheim (insofern, als er Natur- und Geisteswissenschaften nicht trennen, sondern vielmehr mit dem Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis deren Zusammenarbeit fördern wollte), Henri Berr, Francois Simiand oder auch Johan Huizinga, von dem später noch kurz die Rede sein wird, verwiesen werden soll. Selbiges gilt für die Versuche nach Unterteilungen der verschiedenen Phasen der Annales. Trotz der Feststellung, dass die Gründung der Annales-Zeitschrift durch Bloch und Febvre gleichsam eine neue Bewegung der historischen Forschung eingeleitet hat, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich diese einerseits entwickelte und veränderte, zweitens auch Bloch und Febvre durchaus prägende Vorläufer hatten, weshalb „Der Rückblick vom späteren Erfolg her [...] zu falschen Geschichtsfinalisierungen [...]“[15] führen mag, die verhindert werden sollten. Generell besteht die Gefahr, wie auch von Riecks richtig erkannt, „[...] Geschichte zu schematisieren [...] Stützt man sich auf den jeweils vorherrschenden Gegenstandsbereich der Annales-Historiographie, wird die Suche nach der epistomologischen Einheit der Annales geradezu verhindert“[16]. Zudem kann über den Sinn einer solchen Untersuchung überhaupt gestritten werden: „Die Originalität der Annales liegt im Entwurf einer Konzeption von Geschichte und von historischer Forschung, die den interdisziplinär geführten Auseinandersetzungen gerecht zu werden versucht“[17]. Diese Originalität schlösse in einer Forschung über die Annales, würde man dieser These zustimmen, das Einbeziehen – ohne diese dadurch zu verleugnen – ihrer Vorgänger aus. Wie Burke feststellt:
Praktisch alle mit Febvre, Bloch, Braudel und Labrousse verbundenen Neuerungen hatten Vorläufer oder Parallelen, von der regressiven und vergleichenden Methode bis zum Interesse an interdisziplinärer Zusammenarbeit, an quantitativen Methoden und an dem Problem des langfristigen Wandels.[18]
Dem bleibt an dieser Stelle nichts weiter hinzuzufügen.
Kritik an den Annales wurde insbesondere in Bezug auf deren strukturgeschichtlichen Ansatz laut. Dieter Groh wirft Anfang der 1970er Jahre „[...] den Annales die Verwendung eines theoretisch mangelhaft durchreflektierten Strukturbegriffs vor“[19]. So sei der strukturgeschichtliche Begriff der Annales nicht in der Lage, Wandel in industriell geprägten Zivilisationen zu erklären und projiziere vielmehr Sachzwänge in die Historie hinein. Hier lässt sich jedoch einwenden, dass in der die Entstehung der Annales unter Bloch und Febvre begleitenden Diskussion um Methodik in der Geschichtswissenschaft ja eben jene Art der Politik- und Ereignisgeschichte als ein zu bekämpfendes Element kategorisiert wurde.
BRAUDEL und seine Schüler haben nie die Existenz von geschichtslosen „kalten Gesellschaften“ [...] konzipiert. Wenn sie von [...] unbeweglicher Geschichte sprechen, meinen sie nicht die Abwesenheit jeder Veränderung, sondern Veränderungen, die die Zeitgenossen nicht bemerkten, welche der Historiker aber durch die statistische Erfassung langer Serien von quantitativ bestimmbaren Daten darstellen kann.[20]
Die Annales sehen also, um Grohs Vorwurf knapp zu entkräften, auch die betrachteten Strukturen als bewegliche und sich verändernde Faktoren in ihrer Forschung an. Auch die Konzentration auf präindustrielle Gesellschaften seitens der Annales-Forschung erklärt sich mit der Opposition in den Anfängen zur gängigen französischen Geschichtsforschung, die bis dahin für gewöhnlich an den Geschehnissen ab 1789 interessiert war. Dass solch missverständliche Vorwürfe gegenüber den Annales ins Feld geführt wurden, liegt, so Johannes-Michael Scholz in seinem Essay aus dem Jahr 1977, am Mangel der Aufstellung einer theoretischen Grundlage zu diesem Bereich seitens der Annales. Hier schließt sich ein weiterer, durchaus wichtiger Kritikpunkt am Schaffen der Annales an, der an dieser Stelle nur gestreift werden soll, da bei der Betrachtung von Dubys „Geschichte des privaten Lebens“ unter Punkt 5.4 eben darauf noch genauer eingegangen wird: Der Schreibstil der Annales kommt allen Lesern ohne fachspezifische Vorbildung aufgrund seiner im Allgemeinen guten Verständlichkeit sehr entgegen, lässt aber zum Teil die wissenschaftlich präzise Genauigkeit in den Formulierungen vermissen. Es sei ihre „[...] literarische, aber wissenschaftlich undisziplinierte Sprache [...] wenig geeignet, begriffliche Klarheit zu schaffen“[21].
Eine gänzlich allgemeingültige Formel zur Erklärung der immanenten Kernpunkte der Annales als einer konkreten, in sich geschlossenen Gruppierung ist kaum zu finden, denn: „Die Geschichte der französischen Sozialhistoriographie wird nämlich von einer Vielzahl von Standpunkten her geschrieben“[22]. Doch auch wenn es offensichtlich keine fest geschriebenen Regeln für das gibt, was die Zuordnung eines Forschungsansatzes oder einer Einzelperson zur Gruppe der Annales definitiv machen würde, finden sich doch eine Reihe von Kernpunkten, die die Annales auszeichnen, ohne sie deshalb gleich zur festen schulhaften Institution werden zu lassen.
Was also haben all diejenigen Forscher und Autoren gemeinsam, die dem Kreis der Annales zugerechnet werden? Rojas etwa fasst in der Einleitung seiner Untersuchung zur Entwicklung der Annales zusammen, dass
[...] es sich im strengen Sinne nicht um eine „Schule“ handele – denn dies setze die Einheit eines intellektuellen Projekts und einen vereinheitlichten theoretischen und methodologischen Horizont voraus, der sich zudem ohne nennenswerte Änderungen über nunmehr schon vier Generationen von Historikern erhalten hätte. [...] Offensichtlich ist aber, dass diese Einheit nicht existiert und auch in der Vergangenheit nicht existiert hat[23].
Dennoch sind die Annales keineswegs profillos. Etwas
[...] charakteristisches, das sich in allen Annales-Projekten findet, ist der ständige Dialog der von ihnen vertretenen Geschichte mit den übrigen Sozialwissenschaften, dem Spektrum von Disziplinen, die sich mit der Erforschung des Sozialen / Humanen in der Zeit beschäftigen. Dieser Dialog geht so weit, daß der gesamte Weg der hier analysierten historiographischen Strömungen als eine Aufeinanderfolge von Annäherungen, Verknüpfungen, Bündnissen und sogar Fusionsversuchen der Geschichte mit diesen verschiedenen Disziplinen erklärt werden kann [...][24].
Allerdings muss zu dieser Definition bemerkt werden, dass bei aller sonstigen Richtigkeit der Terminus der Fusion doch für Duby in Frage gestellt werden muss. Er hat als Forscher aus dem Umkreis der Annales mentalitätsgeschichtlicher Ausprägung stets die historisch-mediävistische Erkenntnis im Fokus seiner Forschung, ganz gleich, wie vieler Hilfsdisziplinen er sich dabei auch bedienen mochte, was unter Punkt 4 und 5 noch genauer gezeigt werden wird.
Bei dem Versuch der Einordnung der Annalesbewegung als Forschungsrichtung oder Schule charakterisiert und kritisiert Wolf Lepenies die klassische Wissenschaftsgeschichte als monodisziplinär und vom Blickpunkt der Gegenwart ausgehend. Hier liegt wiederum ein gewichtiger Unterschied zu den Merkmalen der Mentalitätsgeschichte und im Speziellen Dubys begründet, die zwar zum einen sehr wohl Kenntnisse über die Geschichte des eigenen Faches pflegt, auf der anderen Seite jedoch hochgradig interdisziplinär ausgerichtet ist. Ein Grundanliegen der Annalesforschung definiert Georges Duby selbst, wenn er anmerkt: „Ne pensez-vous pas qu’il serait sain [...] de lancer une sorte de Renaissance, au sens classique, c’est-a-dire `retour aux textes eux-mêmes? Oser un peu se défaire des bibliographies monstrueuses, et revenir aux textes, tout simplement“[25].
2.3 Die Entwicklung der Annales und ihre Unterteilung – ein Überblick
Zur möglichen Darstellung einer Geschichte der Annales-Bewegung gibt es unterschiedliche Ansätze in der Forschung. Ein Ansatz ist, diese Geschichte anhand der Werke bestimmter Persönlichkeiten aus dem Kreis der Annales zu strukturieren, wobei es hier wiederum verschiedene Namensnennungen gibt. Neben den offensichtlich wichtigen Arbeiten der Gründer Bloch und Febvre finden, je nach Standpunkt, häufig auch vor allem Braudel und Berr Erwähnung, ebenso Duby, Ariés und Le Goff. Selbst bei der Kritik an einer solchen Gleichsetzung bleibt hierzu folgende Meinung vertretbar: Ohne die Forschungskonzeption der Annales und deren vielfältige Institutionalisierungen mit dem Namen Febvre, Bloch und Braudel gleichsetzen zu wollen, hält Scholz fest, „[…] daß sie allein schon aufgrund ihres sich in zahllosen Initiativen niederschlagenden wissenschaftsorganisatorischen Talents [...] einen Sonderplatz in der Geschichte derartiger Historiographie einnehmen“[26]. Es mag fast ironisch anmuten, dass ausgerechnet in einer Disziplin, die sich explizit nicht der Geschichte der „großen“ Männer und Ereignisse verschrieben hat, ihre Historie an eben solchen festgemacht werden soll. Aus diesem Grund will die vorliegende Arbeit die Diskussion um eine eventuell mögliche Gleichsetzung des Annales-Begriffs mit bestimmten Personen wenn schon nicht völlig ausklammern, so doch zumindest nicht weiter vertiefen.
Recht allgemein bezieht Rojas zu einem möglichen Modell der Entwicklung der Annales Stellung.
Aus der Geschichte der Annales-Strömung und ihren unterschiedlichen Perioden geht deutlich hervor, daß der von ihr entwickelte, geförderte und verteidigte Typus Geschichtswissenschaft immer von einer Verlagerung der Analyseperspektive ausging, und zwar von den individuellen, einzelnen, elitären und oberflächlichen Prozessen hin zu den kollektiven Prozessen der großen sozialen Gruppen und Klassen [...][27]
Auch er verfolgt in seiner Strukturierung der Annales-Historie eine Einteilung in Hauptphasen der Entwicklung, differenziert dabei jedoch noch weiter, indem er die Zeit von 1941 bis 1968 in weitere zwei Phasen untergliedert; von 1941 bis 1956 und 1956 bis 1968 nämlich. „[...] die Annales der Braudelschen Jahre [...] entfalteten sich nicht unmittelbar im Anschluß an diese, sondern erst mit einer gewissen Verzögerung und nach Ablauf einer Übergangs periode innerhalb der Strömung“[28]. Einer Übergangsperiode, die die Definition dessen, was den Annales zugehörig sei, zusätzlich erschwerte und auch die Rolle Georges Dubys einer wie unter Punkt 4.1 sowie 4.4 geschehen genaueren Untersuchung bedürfen ließ.
Bedeutendste Vertreter der Annales-Schule unter dem Aspekt von Erfolg, Innovativität und Bekanntheitsgrad sind, um nur einige Namen zu nennen, neben den Begründern Febvre und Bloch Jacques le Goff, Georges Duby, Philippe Ariès sowie Fernand Braudel, dem gar eine Abschließung der Suche nach einer festen Form von Arbeitsweise und Vorgehen beim mentalitätsgeschichtlichen Forschen zuerkannt wird: „Was Bloch und Febvre forderten, in ersten tastenden Versuchen erprobten oder visionär entwarfen, ist bei Braudel zum sicher geführten Werkzeug, zum alltäglichen Gegenstand [...] geworden“[29]. Auch Braudel hat sich dem Versuch angenommen die Entwicklung der Annales zu strukturieren. Sein Ansatz zur Historie ist, vergleichbar dem späteren Peter Burkes zur Unterteilung der Annales-Untersuchungsbereiche, in drei Phasen untergliedert. In dieser Konzeption findet auch die partielle Untersuchung von Ereignisgeschichte durchaus ihre Daseinsberechtigung:
Eine beinahe unbewegliche Geschichte, die sich fast außerhalb der Zeit bewegt, die von den Menschen so gut wie nicht wahrgenommen wird, die „histoire de longue durée“ [...] bildet die Basis [...] Der Historiker untersucht Phänomene, die sich nur im Maßstab von Jahrhunderten und Jahrtausenden als veränderlich erweisen, so zum Beispiel die natürliche Umwelt des Menschen [...] Diese Ebene wird später [...] Strukturgeschichte genannt. Über ihr befindet sich die Ebene der [...] Konjunkturgeschichte, die Geschichte der Phänomene, die sich in Zeiten von sogenannter mittlerer Dauer verändern. [...] Als dritte ist die „histoire événementielle“ (Ereignisgeschichte) zu nennen, die Geschichte des oberflächlichen schnellen Wechsels der politischen Ereignisse, der menschlichen Handlungen und Biographien.[30]
Bezieht man nebenbei erwähnt diese Unterteilung direkt auf das Werk Braudels, so sind in „La Mediterannee“ die geographischen Untersuchungen dem Bereich der „longue durée“, die Betrachtung von Gesellschaft und Kultur im Abschnitt der „Destins collectifs et mouvements d’ensemble“ der Konjunkturgeschichte, und der Teil über die „Evénements“ der Ereignisgeschichte zuzuordnen.
Dem bereits zuvor erwähnten Mangel an programmatischen Richtlinien, der Groh zu missverständlichen Auslegungen der Annales veranlasste, wurde innerhalb der Annales lange Zeit nicht gegengesteuert. Vielmehr versuchten Forscher von außerhalb der Gruppierung diese zu bestimmen. So systematisiert etwa Traian Stoianovich in seinem Werk über das Paradigma der Annales deren Vorgehensweise. Er unterteilt ihr Wirken in verschiedene Generationen – denen, so muss an dieser Stelle erwähnt werden, Braudel in Bezug auf die Wertigkeit widerspricht: Der ersten Phase, in der ihr Entstehen eine neue Art von Geschichtswissenschaft hervorbrachte, der zweiten, wenig produktiven Phase von 1945 bis 1968, und der dritten Phase, deren Aufgabe es sei, den historischen Wandel zu betrachten „In terms of a need for other functions, or as a part of a process of structuring, destructuring, and restructuring [...] More than storytelling, the task of the historian of the third paradigm embraces problem-solving and puzzle-solving“[31]. Braudel hingegen sieht die zweite Phase als eine Umsetzung der theoretischen Grundlagen der Annales in die Praxis, ohne jedoch gleichsam der von Stoianovich vorgenommenen zeitlichen Untergliederung zu widersprechen. Kritik an Stoianovichs Untergliederung der Entwicklung der Annales ist etwa bei Riecks zu lesen, die zu Recht darauf hinweist, es sei „[...] noch immer nicht geklärt, als wie groß und wie fest umrissen der Forschungskonsens der Annales betrachtet werden kann“[32]. Zudem hätten die Annales-Historiker, so Jöckel, nicht den im Begriff des „Paradigmawechsels“ eingeschlossenen Anspruch auf Verbindlichkeit ihrer Geschichtskonzeption für die Geschichtswissenschaft allgemein erhoben. Insbesondere letzterer Punkt wird zu Recht angeführt – wie in der Diskussion zum Terminus der „Schule“ aufgezeigt, fehlen den Annales verbindlich festgelegte Richtwerte in den Grundlagen ihrer Forschung.
Einen weiteren Ansatz zur Untergliederung der Entwicklungslinien der Annales liefert Claudia Honegger. Diese untergliedert deren Entwicklung in eine Phase vor dem Zweiten Weltkrieg, in der sich die Annales und ihre neue Art der Geschichtsforschung herausbildeten, sowie danach, in der sie sich etablierten und festigten. „Die Geschichtsschreibung der ersten und zweiten Phase wird bei ihr jeweils an einigen Persönlichkeiten [...] „BLOCH, FEBVRE – BRAUDEL, LABROUSSE dargestellt [...]“[33]. Guy Bourde und Hérve Martin gliedern wiederum die Annales selbst in die Annales-Schule sowie die Nouvelle Histoire als deren Erbe, wobei die Unterteilung hier nicht an Personen, sondern bevorzugt untersuchten Themen in einem bestimmten Zeitraum festgemacht wird. Eine Methode, die auch der Annales-Forscher Philippe Ariès, gemeinsam mit Duby Mitherausgeber der „Geschichte des privaten Lebens“, anwendet. Allerdings ist sein Periodisierungsversuch wiederum eine Dreiteilung. „Die […] Pioniere der neuen Geschichtsschreibung, bevorzugen eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in deren Fragestellungen sich Ansätze für mentalitätsgeschichtliche Forschungen finden. Die zweite Generation konzentrierte sich auf die Wirtschaftsgeschichte“[34]. In der dritten von Aries proklamierten Generation sieht dieser die mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Annales-Forschung seit den 1960er Jahren. In diesen Bereich der nouvelle histoire ist auch Georges Duby und als klassisches Beispiel die „Geschichte des privaten Lebens“ einzuordnen, das im Hauptteil dieser Arbeit genauer auf Annales-typische Merkmale, Probleme und Vorzüge sowie dessen mediävistischen Aspekt hin untersucht werden soll. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Bemühungen um eine schlüssige Gliederung der Annales-Entwicklung dabei helfen mögen, deren Entwicklung trotz des Mangels an festen Grundleitsätzen als die einer in gewissen Punkten einheitlichen Schule zu betrachten, und so die These von einer Schule der Annales zu unterstützen. Jedoch muss ebenso festgehalten werden, dass eben der Mangel an stringent einheitlichen Maßvorgaben für mentalitätsgeschichtlich orientierte Forscher Kritik an jeder einzelnen dieser und auch zukünftig denkbarer Untergliederungen möglich macht. Von einer idealen Vorgehensweise in eine Zwei,- Drei- oder Vierteilung der Historie der Annales, sei es anhand von Publikationen, Themen oder Personen, kann man bei keiner der (davon abgesehen für das Verständnis der Entwicklung der Annales durchaus hilfreichen) Theorien und Thesen sprechen.
Zudem stellt sich auch die erneute Frage nach der dringenden Notwendigkeit einer solchen Periodisierung in Bezug auf eine Gruppierung, die sich zwar an den selben Maximen orientiert, doch in sehr verschiedenen Zeitaltern und mit Hilfe unterschiedlichster Hilfsdisziplinen nach Lösungen und Darstellungsmöglichkeiten sucht. Nichtsdestotrotz kann eine solche Einteilung – ohne, dass diese gleich als allgemeingültiges Schema angesehen werden muss – helfen, den Werdegang und die Entwicklung der Annales, ihre Themen, Vorgehensweisen und ihr Wachstum aufzuzeigen und überschaubar zu machen. Thesen wie die von Rojas, die vielfältigen Revolutionen und gesellschaftlichen Veränderungen von 1968/69 hätten ebenso in der Annales-Wissenschaft eine Revolution hervorgerufen, sind zumindest diskutabel. Zum einen, weil die Mentalitätsgeschichte zwar mit einem spezifischen Ansatz an die Forschung heranging, deshalb aber nicht unbedingt „revolutionär“ im Kontext der Annales ist. Wie an späterer Stelle gezeigt, hat sich Duby stets zu seinen Vorbildern wie vor allem Marc Bloch bekannt, und trotz mitunter geübter Kritik an den von ihnen gelegten Fundamenten festgehalten. Zum anderen haben sich in der Geschichte der Annales immer wieder die Schwerpunkte verlagert, erweitert und verändert, auch ohne dass es an solchen Wendepunkten gleichsam Revolutionen wie die chinesische Kulturrevolution, den Prager Frühling sowie die zahlreichen Studentenprotestbewegungen der späten sechziger Jahre gegeben hätte.
Letztlich ist für die vorliegende Untersuchung aber auch nicht von entscheidender Bedeutung, was den Ansatz zur Mentalitätsgeschichte auslöste, sondern vielmehr, was diese auszeichnet. Themen der Untersuchung sind etwa die
[...] Geschichte der Familie, über die Traditionen und Bewusstseinsformen einer im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse, über die Geschichte der Angst und der Gerüche, über das Empfinden und die moralischen Haltungen einer bestimmten Gesellschaft, über die Vorstellungswelten des Volkes, über die Entstehung des Gedankens vom Fegefeuer [...][35].
Weiterhin, nachdem letzteres sich vor allem auf Jaqcues Le Goffs Werk „Die Geburt des Fegefeuers“ beziehen dürfte, eine wie auf Duby und die „Geschichte des privaten Lebens“ zugeschnittene Definition mit Nennung der „[...] Geschichte des Privat- und des Alltagslebens, über die Vorstellungswelt des Feudalismus, über die Vorstellung vom Tod und der Dechristianisierung [...]“[36]. So konstatiert Rojas durchaus zu Recht: „In den letzten drei Jahrzehnten gab es nicht mehr nur eine einzige „herrschende Macht“ innerhalb der westlichen Historiographie, die „das“ von allen anderen zu verfolgende Modell vertrat [...][37].
2.4 Annales vs. Ereignisgeschichte. Ein Vergleich
Da die neuen Ansätze für Geschichtsforschung, die die Annales mit sich brachten und die auch Dubys Werke auszeichnen, häufig als Gegenpol zum ereignisgeschichtlichen Ansatz in Mediävistik und Geschichtsforschung dargestellt werden, soll an dieser Stelle ein kurzer Vergleich zwischen beiden Richtungen angeführt und die Frage erörtert werden, inwieweit eine solche Abgrenzung tatsächlich ihre Berechtigung hat. Hierdurch wird auch in der Folge der Arbeit, etwa bei Zitaten, die den positivistischen Aspekt in der Forschung vergleichend mit den Ansätzen der Annales ansprechen, keine nähere Begriffsdefinition, sondern vielmehr ein Verweis auf diesen Unterpunkt erfolgen.
Während also die Annales sich mit dem Menschen(bild) eines Zeitalters beschäftigen, sucht das ereignisgeschichtliche Modell im Allgemeinen nach „großen“ Geschehnissen wie Schlachten, politischen Entscheidungen und Ereignissen in einer vergleichsweise kurzen Dauer. „Die positivistische Geschichte […] schloß nur die Geschichte im Ereignis ein und eliminierte die Dauer“[38]. Dabei werden vor allem Dokumente wie Verträge, Biographien und Texte genutzt, dem gegenüber wiederum bei den Annales außerdem diverse Hilfstechniken- und Disziplinen verwendet werden, von der Geographie über die Psychologie bis hin zur Kunstgeschichte. Rojas schreibt zum Modell der Annales, es sei „Geschichte, die den ständigen Dialog und mannigfaltigen Austausch mit allen übrigen Sozialwissenschaften fördert“[39]. Duby stellt in den „Dialogen“ unumwunden klar, dass er persönlich bei der Untersuchung eines genealogischen Berichtes oder einer Chronik nicht „[…] die Wiederherstellung der Materialität der Dinge anstrebe […] sondern versuche, die Wahrnehmungsweise der Dinge ausfindig zu machen und festzustellen, warum sie in diesem Text so und nicht anders dargestellt werden“[40]. Er bemüht sich also um den Blickwinkel der Menschen der Feudalzeit in Bezug auf den von ihm untersuchten Forschungsgegenstand.
Wo die mentalitätsgeschichtlichen Annales häufig vergleichend vorgehen, werden in der ereignisgeschichtlichen Historiographie im Allgemeinen – räumlich wie thematisch – fest abgegrenzte Gegenstandsbereiche untersucht. Francois Simiand konstatierte, „Die überkommene Historie huldige [...] dem „Idol der Politik“ [...] und dem „Idol der Chronologie“, Überbetonung von Politik und Persönlichkeit und Sich-Verlieren in der fernen Vergangenheit“[41]. Der Positivismus ist zusammenfassend eher eine am Vorgehen der Naturwissenschaften orientierte Forschung mit beschreibenden Elementen der prägenden Ereignisse einer Epoche. Die Annales hingegen untersuchen „Eine Geschichte, die die gesamte Bandbreite und die Dimensionen ihres Interpretationscharakters erkundet und ausschöpft [...]“[42]. Wenn Bloch in den Anfängen der Annales diese als Wissenschaft vom Menschen in der Zeit bezeichnet, so schließt dies alle Epochen und alle Klassen und deren wissenschaftlich auswertbare Spuren, gleich in welcher Form, ein. Dies ist es, was die annalessche Vorgehensweise, ihren Untersuchungsgegenstand, von dem der Ereignisgeschichte unterscheidet. „Die Globalgeschichte sagt uns, daß alles Menschliche und alles, was damit verbunden ist, mögliches und einschlägiges Objekt der historischen Analyse ist“[43].
Mit speziellem Blick auf Dubys Haltung gegenüber der Ereignisgeschichte ist anzumerken:
Duby kritisiert vor allem zwei Aspekte an dieser Art der Geschichtsschreibung: Zum einen reduziere sie die Komplexität unüberschaubarer kausaler Zusammenhänge auf die Eindimensionalität einer linearen Erzählung, zum anderen behandele sie einen römischen Feldherren wie einen mittelalterlichen König nach dem selben Maßstab einer ahistorischen „nature humaine“ „[...] ohne jene tiefer liegenden Veränderungen zu berücksichtigen, die sich der Intentionalität menschlicher Handlungen entziehen und sie doch unbemerkt bestimmen [...][44],
womit natürlich nichts anderes als die fehlende Berücksichtigung von Mentalitäten der jeweiligen Epochen gemeint ist. Es könnte bei einer eher flüchtigen Betrachtung also der Eindruck entstehen, dass die Annales, im Speziellen ihr mentalitätsgeschichtlicher Zweig, und die Ereignisgeschichte zwei völlig konträre Pole darstellen.
Bei der Ablehnung der Politikgeschichte geht es um die Zurückweisung einer eindimensionalen, häufig monokausal konzipierten Geschichtsauffassung. Im Mittelpunkt der historischen Forschung der Annales stehen die in sozialen Verbänden zusammenlebenden Menschen. [...] Es gilt, [...] die Aufsplitterung der Historie in Partikulargeschichten zu vermeiden.[45]
Die Annales-Forschung ist also keine reine Faktenanhäufung, sondern vielmehr der Versuch, in der Mentalitätsgeschichte hinter Denkstrukturen- und Muster zu blicken. Dass Febvre und Bloch selbst keine Politikgeschichte betrieben, ja deren Vorgehen gar ablehnten, ist aber nicht gleichbedeutend mit politischem Desinteresse seitens der Annales-Gründer. Beide waren politisch interessiert, und wie am tragischen Beispiel Blochs im Zweiten Weltkrieg festzumachen, sogar bereit, für ihre Überzeugungen zu kämpfen und letztlich auch zu sterben.
Tatsächlich gab und gibt es auch innerhalb der Annales zu Recht Stimmen, die nach der Notwendigkeit der Abgrenzung von der etablierten Ereignisgeschichte auf die spätere Notwendigkeit der Beachtung selbiger hinweisen. Wenn die Mentalitätsgeschichte Strukturen untersucht, so greift sie hierbei durchaus auch auf Ereignisse zurück – sie nutzt die Ereignisse und deren Rezeption, um so Strukturen zu kennzeichnen. Das Ereignis kann mit Koselleck „Indikator für soziale, rechtliche oder wirtschaftliche Vorgegebenheit langfristiger Art [...]“[46] sein. Wo nun jedoch in der positivistischen Ereignisgeschichte in der Mediävistik lediglich Ereignisse rund um „große“ Persönlichkeiten – etwa der Tod eines Königs und die damit einhergehenden möglichen politischen Konsequenzen wie Erbfolgestreit oder Kriege um die Neuordnung des Reichs – interessant wären, untersucht Duby in der „Geschichte des privaten Lebens“ die Strukturen in einer größeren Dimension, wie später noch genauer aufgezeigt werden wird. Er interessiert sich für mentale Einstellungen der Menschen gegenüber solchen Phänomenen, ihren Umgang damit, bei dem der Ereignischarakter selbst im Hintergrund steht. Es geht Duby trotz aller angeführten Anekdoten nicht primär um außergewöhnliche Fälle, sondern vielmehr um die Gesamtheit des Denkens und Handelns einer Epoche wie in diesem Fall der Feudalzeit, um deren Struktur. Dabei behauptet Duby an keiner Stelle, die positivistische Herangehensweise sei eine Falsche. Tatsächlich sind die Darstellungen nur schwerlich vergleichbar, führt man sich vor Augen, welche Differenzen allein in den betrachteten Zeiträumen von ereignisorientierter und strukturfokussierter Forschung in der Mediävistik vorherrschen.
Dass er dennoch dem Forschungsansatz der Annales den Vorzug gibt, verhehlt Duby nicht: „Sehr viel fleischlicher, sinnlicher und vor allem nützlicher als die oberflächliche Geschichte herausragender Individuen wie Fürsten, Generäle, Prälaten oder Finanzmänner [...] war die Geschichte des einfachen Mannes, des in die Gesellschaft eingebundenen Menschen [...]“[47]. Dies ist angesichts seiner Orientierung an Bloch auch nicht weiter verwunderlich. Dennoch: Duby bedient sich der Ereignisse, um anhand ihres Geschehens und unter Zuhilfenahme aller bekannten Fakten über eine bestimmte Zeit aus der Wissenschaft etwas über die Kultur an sich zu erfahren, oder wie es Rüth formuliert, „Dem Individuellen kommt die Aufgabe zu, das Allgemeine sichtbar zu machen [...]“[48]. Diese Vorgehensweise beschränkt sich nicht allein auf die „Geschichte des privaten Lebens“; ein herausragendes Beispiel ist etwa sein Werk über die Schlacht von Bouvines, in dem Duby nicht nur konkrete Spuren wie Schriftstücke auswertet, sondern auch zeigt, inwiefern sich die Rezeption des konkreten Ereignisses je nach Epoche und Hintergrund der Rezipienten unterschieden und in der Auslegung verändert hat. Seine Entscheidung, die Schlacht selbst wie ein Bühnenstück darzustellen, geht wiederum konform mit Dubys Ziel, auch wissenschaftliche Erkenntnisse in für eine möglichst breite Masse lesbare Form zu bringen. Dies ist nicht unbedingt typisch für die Annales, haben diese doch „[...] in ihren mitunter sehr polemischen Aufsätzen diese Art der historischen Sinnproduktion und Erklärung stets auf die politische Ereignisgeschichte beschränkt“[49]. Was das narrative Element betrifft, nimmt Duby hier – wenngleich keineswegs als einziger, auch Le Goff mit seiner „Geburt des Fegefeuers“ wäre beispielhaft zu nennen – eine Sonderstellung ein. „Von einer Absage ans Erzählen kann [...] (bei Duby) keine Rede sein“[50]. Mehr zu Dubys Schreibstil unter Kapitel Vier.
Diese ansatzweise ambivalente Haltung zu Mentalitäts- und Ereignisgeschichte erklärt der Duby-Biograph Seischab wie folgt: „Seiner Meinung nach ist das als oberflächlich diffamierte Ereignis als eine Art Symptom zu verstehen, das punktuell die darunter sich vollziehenden Tiefenprozesse offenbart [...]“[51] Letztlich gilt für die Zeit, in der Georges Duby auf der „Bühne“ der Annales seinen Platz eingenommen hatte, und ehe er die „Geschichte des privaten Lebens“ mitveröffentlichte, dass die großen „Schlachten“ zwischen den Annales und den Vertretern einer strikt positivistischen Ereignisgeschichte, in der sich jede Disziplin durch größtmögliche Bloßstellung und Verdammung der anderen zu profilieren suchte, größtenteils geschlagen waren. So heißt es etwa in den „Dialogen“ Anfang der 1980er Jahre, es „[...] wäre eine billige Kritik der Ereignisgeschichte heute nicht mehr zeitgemäß – [...] es ist nun eher an der Zeit, neu zu überdenken, was wir ihr verdanken“[52] Wenn Duby also selbige kritisiert, dann nicht, um die Notwendigkeit für Geschichtswissenschaft wie Mediävistik gänzlich zu negieren. Sondern vielmehr mit der Absicht, denjenigen Gegenständen größeres Interesse zukommen zu lassen, die den Boden für ereignisgeschichtliche Erkenntnisse überhaupt erst bereiteten.
[...]
[1] Georges Duby, Guy Lardreau: Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, Frankfurt am Main 1982, S. 180.
[2] Annette Riecks: Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht, Altenberge 1989, S. 14.
[3] Ebd., S. 7.
[4] Ebd., S. 7.
[5] André Burguière: Les „Annales“ aujourd’hui. Essai d’autoanalyse. In: Lendemains 6, S. 46f, Paris 1981.
[6] Riecks, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 152.
[7] Burguière: Les „Annales“, S. 60f.
[8] Riecks: Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 7.
[9] Ebd., S. 8.
[10] Ebd., S. 51.
[11] Jacques LeGoff, Revel Chartier: L’histoire nouvelle, Paris 1978, S. 210f.
[12] Riecks: Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 66.
[13] Ebd. S. 72.
[14] Ebd., S. 59.
[15] Ebd., S. 55.
[16] Ebd., S. 56f.
[17] Ebd..
[18] Peter Burke: Die Geschichte der Annales. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung, Berlin 2004, S. 130.
[19] Riecks: Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 25.
[20] Ebd., S. 26.
[21] Ebd.: S. 26f.
[22] Ebd., S.1.
[23] Carlos Antonio Aguirre Rojas: Die „Schule“ der Annales. Gestern, heute, morgen, Leipzig 2004, S. 8.
[24] Ebd., S. 23f.
[25] Georges Duby, Guy Lardreau: Dialogues, Paris 1980, S. 150.
[26] Johannes-Michael Scholz (Hg.): Vorstudien zur Rechtshistorik. Texte und Monographien, Frankfurt am Main 1977, S. 13.
[27] Rojas: „Schule“ der Annales, S. 27.
[28] Ebd., S. 40.
[29] Manfred Wüstemeyer: Die Annales: Grundsätze und Methoden ihrer „neuen Geschichtswissenschaft“. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 54, S.1f, … 1967.
[30] Riecks: Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 23.
[31] Traian Stoianovich: French Historical Method. The Annales Paradigm, London 1976, S. 38.
[32] Riecks: Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 30.
[33] Claudia Honneger (Hrsg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse Frankfurt a.M. 1977, S. 7f.
[34] Le Goff, Chartier: L’histoire nouvelle, S. 402f.
[35] Rojas: „Schule“ der Annales, S. 141.
[36] Ebd., S. 141.
[37] Ebd., S. 143.
[38] Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1999, S. 44.
[39] Rojas: „Schule“ der Annales, S. 87.
[40] Duby, Lardreau: Dialoge, S. 84.
[41] Erbe, S. 30.
[42] Rojas: „Schule“ der Annales, S. 87.
[43] Ebd., S. 92.
[44] Axel Rüth: Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung, Berlin 2005, S. 55.
[45] Riecks, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 65.
[46] Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt 1989, S. 147f.
[47] Georges Duby: Eine andere Geschichte, Stuttgart 1992, S. 13.
[48] Rüth: Erzählte Geschichte, S. 60.
[49] Ebd., S. 13.
[50] Ebd., S. 67.
[51] Steffen Seischab: Georges Duby. Geschichte als Traum, Berlin 2004, S. 98.
[52] Duby, Lardreau: Dialoge, S. 12.
- Arbeit zitieren
- Simon Denninger (Autor:in), 2007, Der Widerhall des Mittelalters: Georges Duby als Mediävist, Schriftsteller, „Annales“ und Mentalitätshistoriker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198239
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