Kindliches Stottern ist ein sehr vielschichtiges Phänomen. Die Einschätzungen über die Bedeutung gehen dabei weit auseinander. Selbst ein klar zu beobachtendes Stottern führt in der Praxis der Pädiater nicht zwangsläufig zu einer näheren Beschäftigung mit diesem Phänomen. Das vorliegende Arbeitspapier will einen Überblick über die Ansätze therapeutischen Handelns geben. Dabei finden sowohl Ansätze der Sprachheilpädagogik, der Psychotherapie, der musikalischen Therapie als auch der pharmakologischen Therape Berücksichtigung. Die kritische Würdigung der unterschiedlichen Ansätze leitet zur Entwicklung von möglichen diagnostischen und therapeutischen Perspektiven über.
Gliederung
1. Einleitung
2. Diagnostik des kindlichen Stotterns
3. Therapeutische Ansätze zur Behandlung des kindlichen Stotterns
3.1 Sprachheilpädagogische Therapieansätze
3.2 Psychotherapeutische Therapieansätze
3.3 Rhythmisch-musikalische Therapieansätze
3.4 Pharmakologische Therapieansätze
4. Entwicklung von diagnostischen und therapeutischen Perspektiven
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das sprachliche Phänomen „Stottern“ wird häufig immer noch als ein Problem angesehen, das eigentlich keines ist - auch wenn die umfangreiche Literatur und die Forschungsbemühungen ein anderes Bild zu vermitteln scheinen. Selbst Kinderärzte klassifizieren Stottern überwiegend in ihrer diagnostischen Praxis nicht als ein Problem, das ernsthaften Schaden im Sprachentwicklungsverlauf anrichten kann. Der gut gemeinte Rat der Pädiater lautet häufig: „Das gibt sich wieder.“ Ähnlich der Situation beim Entwicklungsdysgrammatismus oder bei den dysphasischen Symptomen der kindlichen Sprache sind die Eltern mit diesem Hinweis meist entlassen.
Tatsächlich scheint sich aus statistischer Sicht das Bild einer seltenen Deviation der Sprechmotorik zu bestätigen: Nur etwa 1 bis 4% der deutschen Bevölkerung stottert oder weist Symptome auf, die damit in Verbindung stehen. Beim kindlichen Stottern liegt die Zahl bei etwa 4%, davon remissiert bei ca. 80% der Kinder die Störung mit und ohne therapeutische Bemühungen. Jungen sind beim kindlichen Stottern gegenüber Mädchen im Verhältnis 4:1 betroffen. Das Auftreten des kindlichen Stotterns erfolgt in der Regel im Alter zwischen zwei und acht Jahren. Ca. 90% aller Fälle treten vor dem siebten Lebensjahr auf.[1]
Welche Motivation steckt nun aber hinter einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema „Stottern“, wenn der überwiegende Teil der Kinder Stottern als eine Phase der Sprachentwicklung und nicht als einen dauerhaften Zustand erlebt? Die Antwort auf diese Frage läßt sich in zwei Punkte untergliedern: Zum einen ist das Phänomen „Stottern“ vielschichtiger als es vor Beginn einer systematischen Forschung auf diesem Gebiet schien: Stottern ist nicht nur ein Phänomen der kindlichen Sprachentwicklung, sondern tritt begleitend bei psychoorganischen Erkrankungen wie der Senilen Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT), bei Epilepsie oder bei Morbus Parkinson auf. Die Forschungen zur „Funktionsweise“ des Stotterns haben neben den Besonderheiten im Sprachentwicklungsverlauf eine besondere Relevanz vor dem Hintergrund der o.g. sehr ernsthaften und nur bedingt reversiblen Erkrankungen. Zweitens ist durch das Stottern die Sprache als das wesentlichste Mittel zur zwischenmenschlichen Kommunikation nachhaltig beeinträchtigt. Gerade im Bereich der psychosozialen Entwicklung von Kindern kommt der Sprache bei Aushandlungsprozessen und identitätsbildenden Entwicklungsverläufen eine zentrale Rolle zu. Somit erweist sich Stottern im kindlichen Sprachentwicklungsprozeß nicht nur als ein physiologisches Hemmnis, sondern in gleicher Weise und - vielleicht noch von größerem Einfluß - als eine psychosoziale Störvariable.
Bereits im Anschluß an diese skizzenhaft ausgeführten Punkte läßt sich ermessen, welche weit über das Störungsbild hinausreichende Bedeutung dem Symptomspektrum „Stottern“ zuerkannt werden muß.
Im folgenden möchte ich mich aber auf das kindliche Stottern vor dem Hintergrund ausgewählter aktueller Literatur konzentrieren. Bei der inhaltlichen Gliederung orientiere ich mich an der in der vorliegenden Literatur und der dort vollzogenen Aufteilung in die Bereiche Diagnostik und Therapie. Im Mittelpunkt dabei sollen die zur Zeit bearbeiteten Probleme in Diagnostik und Therapie stehen. Dabei werden beide Bereiche in jeweils einem eigenen Kapitel besprochen, um in einem anschließenden dritten Schritt Ableitungen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Eine kurze Zusammenfassung schließt diese Arbeit ab.
2. Diagnostik des kindlichen Stotterns
Die Diagnostik des kindlichen Stotterns orientiert sich an einer Vielzahl von definitorischen Ansätzen. Sie reicht von der Definition FIEDLERs (1993), der Stottern als eine „Störung der Autoregulation des Sprechens“[2] beschreibt, bis zur Charakterisierung des Stotterns als entwicklungsbedingte Redeflußunterbrechungen (RU)[3] nach SCHOOR (1990). Die in diesen beiden Zugängen angedeutete weite diagnostische Toleranzbreite stellt eines der zentralen Probleme in der aktuellen Diskussion im diagnostischen Bereich dar.
Zunächst sollen aber die als gesichert und in der täglichen diagnostischen Praxis Anwendung findenden Sachverhalte vorgestellt werden. Das Stottern wird phänotypisch mit den folgenden Merkmalen beschrieben:
Die beiden als gesichert zu beschreibenden Merkmale des Stotterns sind Kloni, das meint stakkatoartige Wiederholungen von Silben, Worten und ganzen Satzteilen, und Toni, die überproportionale Dehnung von Silben. Je nach Überwiegen des einen oder anderen Störungsbildes wird von klonisch-tonischem, tonisch-klonischem, klonischem, tonischem bzw. kaschiertem (verdecktem) Stottern gesprochen.[4] Daneben lassen sich vielfältige weitere Symptome beschreiben, die aber nicht auftreten müssen, jedoch als begleitende Indikatoren für Stottersymptome gelten dürfen:
- eine unregelmäßige Unterbrechung der Respiration;
- eine nicht auf die Sprachweise abgestimmte Atmung, die zu Atmungsverschwendung bzw. Atemvorschub führt;
- Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Abdominal- und Thorakalatmung sowie
- harte und gepreßte Stimmeinsätze.[5]
Christiane KIESE-HIMMEL (1996) unterteilt die Symptome in sprech-sprachliche Abweichungen, andere Abweichungen sowie nonverbale Abweichungen im Verhalten und füllt diese begleitenden diagnostischen Kategorien mit den folgenden Inhalten:
- Im Bereich der sprech-sprachlichen Abweichungen faßt KIESE-HIMMEL Verzögerungen im Sprecheinsatz, Laut-, Silben- und Satzteilwiederholungen, Sprechtempoerhöhungen bei Wiederholungen, sogenannte sprachliche „Starter“ (z.B. „ja“, „also“), Flickwörter, Einschübe (z.B. „hmm“, „ähmm“), ausgefallene Wortwahl als Indikator für Vermeidungsstrategien und unvollständige Sätze.[6]
- Im Bereich der anderen Abweichungen werden krampfartige, längere Kontraktionen, eine spannungsvolle Blockierung der Stimmbildung, eine Lautbildung unter Pressen und Atmungsanomalien (vgl.o.) gefaßt.[7]
- Der Bereich der nonverbalen Auffälligkeiten beschreibt stumme Unterbrechungen, Mitbewegungen, Spannungen im Gesicht, Verkrampfungen im Gesicht, abweichendes Blickverhalten bis zu einer Vermeidung des Sprechens.[8]
Es zeigt sich, daß Stottern nicht als ein rein sprachliches Phänomen angesehen werden kann, sondern sich durch die begleitenden Auffälligkeiten zu einem multikomplexen Störungsbild verdichten (können). Für die Aufgabe, sprachauffällige Kinder zu diagnostizieren, heißt dies, auf eindimensionale Zugriffe zu verzichten. Susanne MAYER hat das in ihrem Aufsatz „Stottern bei Kindern- Diskussion über Ursachen und Behandlung“[9] plastisch hervorgehoben: Sie erachtet grundsätzlich einen multiplen Einsatz von Definitionen kindlichen Stotterns im Rahmen des therapeutischen Alltags für sinnvoll. Eine allein gültige Definition würde nach ihrer Auffassung der sehr heterogenen Gruppe der stotternden Kinder nicht gerecht werden. Grundsätzlich kann mit MAYER festgehalten werden, daß eine positive Entscheidung, ob ein Kind stottert, leichter ist als diejenige, daß ein Kind nicht stottert.[10]
An dieser Stelle beende ich die erste Betrachtung der diag-nostischen Situation beim Stottern und wende mich dem bereits angesprochenen Problem der Unterscheidung zwischen Stottern und Redeunflüssigkeiten (RU) zu. Das Problem zwischen einer Differenzierung zwischen tatsächlichem chronifiziertem Stottern und einer Phase der Redeunflüssigkeit (RU) im Rahmen einer normalen Sprachentwicklung durch geeignete diagnostische Verfahren wird von allen Autoren gesehen. Weitergehend besteht Übereinstimmung, daß Stottern, wenn es auftritt, der sofortigen Therapie bedarf. Das betont in einer weiteren Schlußfolgerung, daß differentialdiagnostische Verfahren für eine valide Klassifizierung der sprachauffälligen Symptome in der Diagnostik von größter Bedeutung sind.
MAYER verweist in ihrem Aufsatz auf die von Mark ONSLOW an der Universitätsklinik Sydney praktizierte Vorgehensweise, in der sprachauffälligen Kindern in Ermangelung von validen Ausschlußkriterien[11] die Diagnose „Stottern“ unabhängig davon gestellt wird, ob sie unter chronifiziertem oder temporären Redeunflüssigkeiten leiden. Die positive Diagnose, daß Kinder unter temporärer RU leiden, ergibt sich durch eine standardisierte Begleitung des Kindes durch die diagnostizierenden Ärzte: Alle vorgestellten Kinder werden in ein sogenanntes Risikoregister aufgenommen und im Abstand von zwei bis drei Monaten erneut untersucht bzw. befragt (Eltern). Sollten sich bei einer dieser Elternbefragungen weitere Hinweise auf einen chronifizierenden Verlauf ergeben, erfolgt unmittelbar eine erneute diagnostische Erhebung.[12]
[...]
[1] Vgl. Kiese-Himmel, Christiane. Der gegenwärtige Diskussionsstand zum Thema Stottern - Therapie, Diagnostik und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 4 (1996), Nr.3, S.186.
[2] A.a.O., S.187.
[3] Vgl. Mielke, Ursel et al. Stottern: Ursachen, Bedingungen, Therapie. Berlin: Ullstein Mosby, 1993, S.29.
[4] Vgl., a.a.O., S.26.
[5] Vgl., ebd.
[6] Vgl. Kiese-Himmel, Christiane. Der gegenwärtige Diskussionsstand zum Thema Stottern - Therapie, Diagnostik und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 4 (1996), Nr.3, S.187.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. ebd.
[9] Vgl. Mayer, Susanne. Stottern bei Kindern - Diskussion über Ursachen und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 4 (1996), Nr.3, S.178-184.
[10] Vgl., a.a.O., S.179.
[11] Themenübergreifend: Es scheint sich bei der Differentialdiagnose des Stotterns um ein der Situation nach bei MCD und Entwicklungsdysgrammatismus ähnlich gelagertes Phänomen zu handeln. (d.Verf.)
[12] Mayer, Susanne. Stottern bei Kindern - Diskussion über Ursachen und Behandlung. In: Logos interdisziplinär 4 (1996), Nr.3, S.179. Fragen, die an die Eltern gestellt werden, sind beispielhaft auf S.179 aufgeführt.
- Quote paper
- Oliver Krueger (Author), 1997, Kindliches Stottern in Diagnostik und Therapie: Problemfelder der aktuellen Diskussion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19731
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