Wie war eigentlich der Entwicklungsgang zum heutigen System der Berufsausbildung? Was waren die historischen und pädagogischen Wurzeln?
Jedes politische System, das die Berufsausbildung durchlebte, gab ihr eine eigene Prägung.
ie traditionelle Aufgabenverteilung in der Vermittlung der Berufstheorie in der Berufsschule und Vermittlung von Berufspraxis im Betrieb ist nicht mehr zeitgemäß.
Da das Fachwissen als Gegenstand der Lernprozese innerhalb der Berufsausbildung immer mehr an Bedeutung verlieren wird, erlangt das lebensbegleitende Lernen eine zentrale Bedeutung.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriff der Berufsbildung
2.1 Berufsausbildung
2.2 Berufliche Fortbildung
2.3 Berufliche Umschulung
3 Historische Entwicklung der Berufsausbildung im Zeitraum von 1870-1945
3.1 Duales System der Berufsausbildung
3.2 Gründungsphase dualer Berufsausbildung (1870-1920)
3.3 Bildungstheoretische Grundlagen
3.3.1 Kerschensteiners Bildungsverständnis
3.3.2 Inhalt und Form der Berufsausbildung
3.4 Konsolidierungsphase dualer Berufsausbildung (1920-1945): industrietypische Lehrlingsausbildung und Berufsschule
4 Berusausbildung in den beiden deutschen Staaten (1945-1990)
4.1 Berufsausbildung in der BRD
4.1.1 Fortführung der Konsolidierungsphase des dualen Systems (1945-1970)
4.1.2 Wesensmerkmale des dualen Systems
4.1.3 Ausbauphase des dualen Systems der Berufsausbildung (ab 1970)
4.2 Berufsausbildung in der DDR
4.2.1 Wirtschaftliche Ausgangssituation und Reform der Berufsausbildung
4.2.2 Bildungstheoretische Grundlagen der Berufsausbildung
4.2.3 Arbeitserziehung in der Berufsausbildung
4.2.4 Struktur und Entwicklung der Berufsausbildung
5 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Für mich ist die Thematik „Berufsausbildung“ von besonderem Interesse, da mein Arbeitsfeld in der beruflichen Erstausbildung von Jugendlichen liegt.
Ich stellte mir des öfteren schon die Fragen: „Wie war eigentlich der Entwicklungsgang zum heutigen System der Berufsausbildung?“ „Was waren die historischen und pädagogischen Wurzeln?“
In der vorliegenden Arbeit möchte ich daher in einer ideengeschichtlichen Betrachtung die Berufsausbildung in Deutschland bis zur Wiedervereinigung 1990 vorstellen und in bestimmten Bezügen auch von der rechtlichen und sozialpolitischen Sichtweise streifen.
2 Begriff der Berufsbildung
Entsprechend Berufsbildungsgesetz (BBiG) vom 14.08.1969 (BGBl. I S. 1112), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 25.09.1996 (BGBl. I S. 1476), ist unter Berufsbildung © Berufsausbildung, © berufliche Fortbildung und © berufliche Umschulung zu verstehen.
Die Berufsbildung hat somit in dreifachem Sinne Bedeutung und wird als betriebliche Berufsbildung in Betrieben der Wirtschaft und vergleichbaren Einrichtungen außerhalb der Betriebe durchgefuhrt.
2.1 Berufsausbildung
„Die Berufsausbildung hat eine breit angelegte berufliche Grundbildung und die für die Ausübung einer qualifizierten, beruflichen Tätigkeit notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung zu ermöglichen“ (BBiG, 1969, §1 Abs. 2).
2.2 Berufliche Fortbildung
„Die berufliche Fortbildung soll es ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen oder beruflich aufzusteigen“ (ebenda, § 1 Abs. 3).
Berufliche Fortbildung setzt in der Regel eine abgeschlossene Berufsausbildung oder angemessene Berufserfahrung voraus. Es wird zwischen beruflicher Fortbildung, die einen beruflichen Aufstieg ermöglicht (Aufstiegsfortbildung) und Anpassungsfortbildung unterschieden. Beide Formen beruflicher Fortbildung werden auch als berufliche Weiterbildung bezeichnet.
2.3 Berufliche Umschulung
„Die berufliche Umschulung soll zu einer anderen beruflichen Tätigkeit befähigen.“ (ebenda, §1 Abs. 4)
3 Historische Entwicklung der Berufsausbildung im Zeitraum von 1870-1945
3.1 Duales System der Berufsausbildung
Im Bildungssystem der BRD ist das duale System fest verankert und stellt den Kembereich dar.
Was ist eigentlich hierunter zu verstehen?
Duales System bedeutet eine Klassifizierung nach dem Lemort. Es heißt „dual“, weil die Ausbildung an zwei Lemorten, nämlich im Betrieb und einer staatlichen, ausbildungsbegleitenden Teilzeitpflichtschule (Berufsschule), durchgeiuhrt wird. Dabei ist der Terminus „duales System“ in der BRD erstmals 1964 verwendet worden und erlang erst mit Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes 1969 den Charakter eines Systems in seiner Komplexität der Berufausbildung. Seine Wesensmerkmale werden unter Punkt 4.1.2 erörtert.
Das duale System stellt jedoch kein künstlich geschaffenes Gebilde dar, sondern ist historisch tief verwurzelt.
Im folgenden soll näher darauf eingegangen werden.
3.2 Gründungsphase dualer Berufsausbildung (1870-1920)
In diesem Zeitraum werden erstmals Merkmale der dualen Berufsausbildung erkennbar, oline daß jedoch ein Ordnungscharakter damit verbunden ist (vgl. Grei- nert 1997, S. 25-27).
Dieser Zeitabschnitt wird auch als „Restauration der Handwerksausbildung und Fortbildungsschule“ bezeichnet.
Die Wurzeln reichen bis ins Mittelalter zurück. Bereits im 12. und 13. Jahrhundert regelten berufliche Ständeorganisationen die Nachwuchsausbildung. Die in dieser Zeit entstandenen Qualifikationsstufen Lehrling - Geselle - Meister wurden wieder aktuell.
Die Entstehung von Elementen der dualen Berufsausbildung war in erster Linie Begleiterscheinung einer politischen Reaktion, der sogenannten „Mittelstands- politik“ des Kaiserreichs und berücksichtigte nur in geringem Maße die Qualifikationsbedürfnisse während der industriellen Umgestaltung.
Die zunehmende Industrialisierung der Produktion und die damit verbundene gesellschaftliche Arbeitsteilung stellten die handwerkliche Berufsausbildung immer mehr in Frage.
Einerseits konnte die Ausführung einfacher Arbeiten im Produktionsprozeß auch von ungelernten Kräften erfolgen, so daß für diese eine Berufsausbildung nicht mehr erforderlich war. Andererseits war die traditionelle, antiquierte Berufsausbildung auf die neue industrietypische Situation, die auch neue Qualifikationsmerkmale erforderte, nur ungenügend eingestellt.
Warum setzten sich jedoch der neuen Situation angepaßte Berufsausbildungsmodelle nicht durch?
Dies hatte vor allem, politische Gründe und war Ausdruck einer Haltung der herrschenden Kreise, die sich mit dem konservativen und von der Industrie bedrohten Handwerk gegen die Arbeiterschaft, Gewerkschaften und Sozialdemokratie verbündeten. Sie erklärten das Handwerk als „Lehrwerkstatt des Volkes“ (vgl. Blan- kertz 1969, S. 127).
Von besonderer Bedeutung in den Jahren von 1878-1897 waren einige gesetzliche Regelungen, eine Reihe von Gesetzesnovellen, die ein deutliches Vorrecht des Handwerks beinhaltete. Das „Handwerkerschutzgesetz“ von 1897 ermöglichte die Einrichtung von Handwerkskammern als Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Aber auch auf den Gebieten der Ausübung des Handwerks und der Ausbildung von Lehrlingen folgten rechtliche Regelungen.
Mit der Wiedereinführung des „kleinen Befähigungsnachweises“ nach der Novelle von 1908 durften die Lehrlinge nur noch von geprüften Meistern ausgebildet werden.
Die betriebliche Berufsausbildung im Handwerk wurde damit restauriert, so daß in Deutschland beim Wechsel in das 20. Jahrhundert per Gesetzgebung das ständische Ausbildungsmodell des Handwerks zur Grundlage der Berufsausbildung, mit seinem dualen System, wurde.
Die Bemühungen, den zweiten Lemort des dualen Systems, die Fortbildungsschule, ins Leben zu rufen, ist als liberale Variante von Mittelstandspolitik zu begreifen. Zwar gab es diesen Schultyp bereits seit dem 18. Jahrhundert einerseits als allgemeine Erziehungsanstalt für die schulentlassene Jugend (Sonntagsschule), aber auch als Schule der Handwerkerausbildung. Sie war aber auch als bildungspolitische Maßnahme zur Bekämpfung der negativen Folgen der Industriealisie- rung wie der Proletarisierung und Verwahrlosung der Jugend zu verstehen. Besonderen Auftrieb bekam die Fortbildungsschul-Problematik in den Jahren ab 1870 bis zur Jahrhundertwende. Dieser Zeitraum war von einem säkularem, wirtschaftlichen Abschwung gekennzeichnet, der heute als „große Depression“ bezeichnet wird (vgl. Beftr 1981, S. 60).
Verdienst von namhaften Schulrefomem war die Durchsetzung der Forderung, daß die Zielsetzung der Fortbildungsschule sich konsequent am Beruf des Lehrlings orientieren muß.
Im Zeitraum von 1895-1914 gelang es, daß diese Fortbildungsschulen sich in erheblichem Maße ausbreiten konnten.
Mit der Stabilisierung der handwerklichen Berufsausbildung und damit im Zusammenhang stehende staatspolitisch-pädagogische Orientierung, gewann diese Schule zunehmend an Ansehen und Bedeutung. Sie wurde vereinheitlicht und als Pflichtschule durchgesetzt. Prämissen waren hierbei staatstreue Grundeinstellung in Verbindung mit berufsständisch-handwerklicher Identifikation.
3.3 Bildungstheoretische Grundlagen
Die reformpädagogische Kritik richtete sich ab der Jahrhundertwende der verschiedensten Schulreformergruppen gegen die Zergliederung des Wissens durch die Schule, durch voneinander isolierte Fächer und die rezeptiven Lemformen.
Als namhafte Reformpädagogen dieser Zeit sind u.a. Pache, Kerschensteiner, Spranger, Litt und Otto zu nennen.
Die bildungstheoretisehen Grundlagen von Georg Kerschensteiner (1854-1932) waren in diesem Prozeß von ausschlaggebender und richtungsweisender Bedeutung, so daß ich zum Verständnis der weiteren Entwicklung der Berufsausbildung im folgenden hierauf näher eingehen möchte.
Worin bestand nun dieses Bildungsverständnis bei Georg Kerschensteiner?
3.3.1 Kerschensteiners Biidungsverständms * Wirksamkeit der Fortbildungsschule
Kerschensteiner war zur Jahrhundertwende Stadtschulrat von München und fand nicht nur die durch Jahrhunderte geprägte Meisterlehre vor, sondern auch für die damalige Zeit typischen zwei Schulformen der beruflichen Erziehung, die Fortbildungsschule und die Gewerbeschule. In seiner kritischen Auseinandersetzung, die Jahrzehnte andauerte, stellte er fest, daß die obligatorische Fortbildungsschule eine allgemeine Fortbildungsschule war, da sie ohne Rücksicht auf den zu erlernenden Beruf ausgerichtet war (vgl. Müllges 1967, S. 13).
Sie setzte lediglich den allgemeinbildenden Unterricht, analog der Volksschule, fort und wurde von allen Beteiligten als notwendiges Übel zur Erfüllung gesetzlicher Forderungen gesehen. Die Meister sahen in ihr Zeitverschwendung, da nichts Wesentliches gelernt wurde und gleichzeitig billige Arbeitskräfte im Betrieb fehlten. Die Schüler fühlten sich vom Lehrinhalt in frühere Lebensstufen zurückversetzt und waren daher uninteressiert. Und die Lehrer letztlich sahen die Sinn- und Ergebnislosigkeit ihrer Unterrichtstätigkeit.
Es fehlte den Fortbildungsschulen die Zentrierung auf die berufliche Sphäre, so daß auch wirtschaftliche und soziale Fragen keine Rolle spielten (vgl. Wehle 1966, S. 189).
Hieraus lassen sich bereits Ansatzpunkte Kerschensteiners für die Neugestaltung der schulischen Berufserziehung erkennen.
Die vorliegende Problematik der schulischen Situation hatte ihren Ursprung aus einer Zeit des Zunfthandwerks, die praktisch ohne schulische Ausbildung erfolgte. Die jungen Handwerker erwarben neben dem fachlichen Können durch ihren täglichen Umgang mit Meister und Gesellen, ihren Aufenthalt im Meisterhaushalt, auch eine Vermittlung von Normen und Werten, also eine gefestigte Lebenseinstellung. In dieser Form erfolgte Bildung und Erziehung zugleich. Kerschensteiner erkannte, daß das Handwerk seiner Erziehungsrolle immer ungenügender nachkam.. Er erklärte die Situation mit der Krise im Handwerk, aus der wachsenden Industrialisierung, der Freigabe des Gewerbes und dem immer stärker werdenden Konkurrenzkampf. Der damit verbundene Niedergang des Handwerks führte zu einer Verminderung der Erziehungsverantwortung, die sieh ihrerseits wiederum durch schlecht ausgebildeten Berufsnachwuchs negativ auswirkte. Dieser Kreislauf führte das Handwerk in einen immer tieferen Stand (vgl. Münch 1995, S. 372).
Kerschensteiners Absicht bestand in dieser Situation jedoch nicht in einem Verzicht auf die Meisterlehre und die Übernahme dieser Funktion durch die berufsbildende Schule. Er strebte vielmehr eine enge Verbindung zwischen Meisterlehre und der schulischen Berufserziehung an. Die Meisterlehre hielt er für unverzichtbar, da sie den konkreten Praxisbezug herstellte und ohne sie jegliche schulische Bemühung nutzlos sei.
Daher stellte Kerschensteiner sich die berufsbildende Schule als eine analoge Institution der Meisterlehre vor, bei der ein enger Zusammenhang zwischen beruflicher Praxis und theoretischer Stoffvermittlung vorliegen sollte. Kerschensteiner kritisierte aber auch die mangelnde Anwendung theoretischer Grundlagen in der handwerklichen Arbeit, die fast nur aus überlieferten, traditionellen Praktiken bestand. Es war für die Arbeit stets ausreichend, solange die althergebrachten Verfahrensweisen zu einem soliden Ergebnis führten. Eine theoretische Hinterfragung fand nicht statt, so daß sich kein technischer Entwicklungsprozeß vollzog.
Kerschensteiner kennzeichnete diese Situation als „das Bild der Praxis ohne Theorie oder wie wir es klarer bezeichnen können, der nicht durchdachten Praxis... Sie ist weit entfernt, den Lehrling zu einer geistigen Beherrschung seiner Technik zu fuhren“ (Kerschensteiner 1954, S. 143 zit. n. Müllges 1967, S. 17). Hieraus leitet Kerschensteiner für die berufsbildende Schule eine eigene Funktion und Zuständigkeit innerhalb der Berufserziehung ab. Er forderte unabhängig, die gegenseitige Durchdringung von. Theorie und Praxis als Voraussetzung für die Entwicklung eines Gewerbes oder einer Industrie.
Die Lehrlinge sollten zu einer solchen Einstellung im Ausbildungsprozeß gelangen, bei der die gesamte Arbeitsweise vom rationalen Denken, der ständigen Suche nach besseren Lösungswegen, geprägt ist. Dazu war es notwendig, daß der eng mit der Berufsausübung verbundene Schulunterricht für die Bewältigung der praktischen Aufgaben die notwendigen theoretischen Kenntnisse vermittelt und Zusammenhänge erkennen läßt.
Die theoretischen Grundlagen sollten wissenschaftlich begründet sein und nach Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten begriffen werden. Das bestehende System der Fortbildungsschule galt es zu reformieren.
* Reform des berufsbildenden Schulwesens
Ausgangspunkt Kerschensteiners Reformgedanken war stets der Grundsatz, daß in der berufsbildenden Schule der betreffende Beruf im Mittelpunkt der Unterrichttätigkeit zu stehen habe und zwar nicht deshalb, „weil der junge Mensch einmal in einem gewissen Beruf tätig sein wird, sondern weil er als Lehrling oder Jungfacharbeiter in diesem Beruf tätig ist“ (ebenda, S. 172).
Kerschensteiners Anliegen bestand daher darin, die bestehende Fortbildungsschule zur „Berufsschule“ weiterzuentwickeln. Im Sinne Kerschensteiners stellte die Berufsschule eine öffentliche Bildungseinrichtung für die handarbeitende Bevölkerung vom 14.-20. Lebensjahr dar.
Kerschensteiner brachte in seinen langjährigen Auseinandersetzungen mit dem Handwerk stets zum Ausdruck, daß die Erneuerung bzw. Verbesserung der beruflichen Erziehung nicht nur im Interesse eines leistungsfähigen Gewerbes zu sehen sei, sondern auch einen allgemeinen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Nutzen habe.
Kerschensteiner erkannte jedoch auch die Gegensätzlichkeit zwischen der wirtschaftlichen und der pädagogischen Motivation der Berufserziehung.
So sah er in der pädagogischen Seite des Berufsbildungsproblems eine Möglichkeit, die bisherigen Erziehungsstandpunkte, die nicht mehr ausreichten, zu reformieren. Er verfolgte hiermit insgesamt eine Neuordnung der gesamten Volkserziehung, und er schrieb dabei der Berufsarbeit die entscheidende Rolle zu. Sein Ausspruch hierzu: „Ich weiß kein anderes Mittel, die Massen zu erziehen, als durch die Arbeit hindurch“ (Kerschensteiner 1908, S. 333 zit n. Müllges 1967, S. 21).
Damit gab er der Berufsbildung die entsprechende pädagogische Prägung. In seiner Auseinandersetzung mit menschlicher Bildung und Berufsbildung trat er gegen die herrschende Meinung auf, die in der beruflichen Bildung bzw. im Beruf keinen pädagogischen Bezug sah.
* Revision vorhandener Bildungsprinzipien
Kerschensteiner übte scharfe Kritik an der Bildungsarbeit der öffentlichen Schulen zur Erreichung der sogenannten „Allgemeinbildung“ oder der „allgemeinen Menschenbildung“ und insgesamt am Verhältnis Bildung und Berufsbildung. Er sah diese durch folgende Gedanken bestimmt;
- Gedanke der Universalität der Bildung,
- Gedanke der Intellektualität,
- Gedanke der Personalität,
— Priorität der Allgemeinbildung gegenüber der Berufsbildung.
Der Aspekt der Universalität der Bildung beinhaltet die Beherrschung der verschiedensten Wissensgebiete wie Sprachen, Naturwissenschaften, Geschichte, Religion usw.
Hierzu sollen in der Schule frühzeitig alle notwendigen Kenntnisse aller Bereiche des menschlichen Wissens vermittelt werden.
Kerschensteiners Kritik richtete sich gegen diesen Bildungsgedanken, da für das handarbeitende Volk eine derartige Bildung verfehlt sei und begründete dies zum fehlenden Bezug zum Berufsleben. Im Sinne Kerschensteiners läßt sich formulieren: Wo in der Berufsbildung der praktische Bezug fehlt, ist diese Bildung unangemessen. Kerschensteiner ging es hierbei jedoch nicht ausschließlich um die Methodik in der Berufsbildung, sondern er maß der Berufsbildung eine prinzipielle Bedeutung bei.
Hinsichtlich der Intellektualität der Bildung bestand seine kritische Auseinandersetzung darin, daß die in den Schulen praktizierte Arbeitsweise im Erwerb von theoretischem Verhalten und Bücherwissen lag und wiederum der Praxisbezug fehlte.
Er wandte sich gegen eine „Überschätzung des Wissens und Verwechslung von Wissen und Bildung“ (vgl. Müllges 1967, S. 26).
Auch hinsichtlich des Gedankens der Personalität der Bildung vollzog Kerschensteiner eine Umkehrung, insbesondere in Bezug zur Gemeinschaftserziehung.
Er leimte die praktizierte Erziehungsweise ab, bei der jeder Einzelne im. Vordergrund zu stehen hat und die Erziehung außerhalb jeglichen Gemeinschaftssinns erfolgt. Kerschensteiner war von der Erziehung auf die Gemeinschaft überzeugt und forderte daher, daß in der Erziehungsarbeit die jungen Menschen durch eigenes gemeinschaftliches Handeln soziale Grunderfahrungen sammeln müssen. Dafür sah er in der Berufserziehung eine realistische Grundlage und vertrat das Prinzip der Sozialität aller Bildung (vgl. ebenda, S. 28).
Hierauf werde ich bei der Darlegung Kerschensteiners Erziehungsziel der „Staatsbürgerlichen Erziehung und sittlichen Persönlichkeit“ nochmals Bezug nehmen.
Kerschensteiner wandte sich entschieden gegen die herkömmliche Bildungsauffassung, die sich in der Priorität der Allgemeinbildung gegenüber der Berufsbildung ausdrückte. Hiermit wurde neben der zeitlichen Gliederung des menschlichen Bildungsweges auf institutionellem Wege auch eine Rangordnung geschaffen. Für die Berufsbildung war keine Bildungsftmktion erklärt und somit die Allgemeinbildung als Alternative zur Berufsbildung gesehen.
Kerschensteiner sah jedoch im Beruf die Perspektive des menschlichen Lebens und begründete hieraus seine neuen Bildungsprinzipien. Er erkannte die pädagogische Bedeutung des Berufes und räumte daher der Berufsbildung den Vorrang ein. Dabei erhob er die Berufsbildung zum Richtmaß der menschlichen Bildung innerhalb der pädagogischen Gesamtaufgabe. Er forderte die Umkehrung vom traditionellen Bildungsgedanken, daß man erst den allgemeingebildeten Menschen schaffen muß und später den besonderen für das reale Berufsleben.
Sein Postulat „Priorität der Berufsbildung gegenüber der Allgemeinbildung“ kommt treffend in seinen Worten zum Ausdruck: „Daß der einzelne seine Arbeit erkenne, an ihr Einsicht, Wille und Kraft üben und erstarken lasse. Das ist die erste Aufgabe auf dem Wege zur Bildung. Die Berufsbildung steht an der Pforte zur Menschenbildung“ (Kerschensteiner 1954, S. 48 zit n. Müllges 1967, S. 28). Damit unterstrich Kerschensteiner seine Gedanken, indem er in der Berufsbildung das wahre pädagogische Instrument sah, so daß der gesamte Bildungs- und Erziehungsprozeß nur über die praktische Arbeit erfolgen kann. Damit begründete Kerschensteiner die Berufsbildung als Hauptinstrument zur Menschenbildung.
3.3.2 Inhalt und Form der Berufsausbildung
* Kerschensteiners Arbeitslehre
Kerschenstemer stellte der bisherigen Bildungsarbeit, die im wesentlichen aus Wissensvermittlung und Intellektschulung bestand, den Gedanken der Praktikabilität der Bildung gegenüber.
Er wollte damit ausdrücken, daß auch das Arbeitenlernen erlernt werden muß und dies nur mit der unablässigen Beschäftigung mit der beruflichen Praxis erfolgen kann.. Die praktische Beherrschung der Berufsarbeit läßt sich nur durch die Praxis erreichen.
Diese pädagogische Zielstellung des Arbeitenlemens wollte er durch ein Bildungsmittel , der Schulwerkstatt, erreichen.
Die Schulwerkstatt sollte dabei eine zentrale Funktion der Berufserziehung erhalten und über die Bedeutung einer organisatorischen Maßnahme hinausgehen. Kerschenstemer sah hierin eine Grundforderung der beruflichen Erziehung verwirklicht, nämlich die entsprechenden Lern- und Übungsmöglichkeiten unmittelbar in der Praxis auszuführen.
Diese Praxis war trotz Meisterlehre notwendig, da hier vom Grundsatz her jeglicher pädagogischer Ansatz fehlte und oftmals die Ausbildung sehr einseitig und unvollkommen erfolgte (vgl. Wehle 1966, S. 105).
Die Schulwerkstatt sollte u.a. folgende Funktionen erfüllen:
- Beseitigung von Defiziten in der bisherigen Meisterlehre
Hierbei sollten nicht nur pädagogische, sondern auch bisher fehlende technisch/technologische Unzulänglichkeiten ausgeglichen werden und die Gesamtheit der berufspraktischen Fertigkeiten in der Schulwerkstatt vermittelt werden.
- Erziehung zu Arbeitsgewohnheiten
Eine weitere Zielstellung bestand in der Herausbildung solcher elementarer Grundlagen und Charaktereigenschaften, die fur das gemeinsame Arbeiten unerläßlich sind.
- Systematische Aneignung der Lemelemente des jeweiligen Handwerks auf didaktischem Prinzip
Kerschensteiners Überlegungen zielte hierzu in Richtung der Durchführung von Lehrgängen zur Erreichung von Fingerfertigkeiten und Gewöhnung, vom Einfachen zum Komplizierten.
- Erziehung zur Grundeinstellung nach restloser Vollendung eines Werkes Diese Funktion war durch Aneignung einer Grundhaltung beim Arbeitenlemen gekennzeichnet, die sich in der vollendeten Erledigung eines Auftrages nach Erreichung des gesetzten Zweckes ausdrückte.
- Sammeln von Erfahrungswissen
Hierunter verstand Kerschensteiner die Reflexion des erworbenen Wissens durch die Lehrlinge aus der praktischen Arbeit und die Ableitung bestimmter Regeln (vgl. ebenda, S. 116-129).
Kerschensteiner war sich bewußt, daß der Erfolg beruflichen Könnens nicht nur aus eintrainierten Arbeitsabläufen bestehen kann, ohne die Arbeit auch wirklich geistig zu erfassen. Beruflicher Erfolg kann nur dann dauerhaft werden, wenn ein enger Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis besteht.
Hieraus leitete er auch seine Erfordernisse für die Lehrplangestaltung ab, in der die Einfügung der praktischen Arbeit in den Gesamtlehrplan und die Verbindung mit dem theoretischen Unterricht formuliert wurde.
Die Theorie des Berufes ist bei Kerschensteiner für den Lehrling nur dann wertvoll, wenn sie die Belange der Praxis wirklich auch theoretisch unterstützt. Kerschensteiner lehnte daher eine theorielose Praxis ab. Vielmehr sollte der berufliche Bildungsprozeß dadurch gekennzeichnet sein, daß die Theorie in die Praxis eingebunden ist. Sie muß letztlich zur geistigen Beherrschung der Praxis fuhren (vgl. Müllges 1967, S. 35).
Im Sinne Kerschensteiners muß eine Kongruenz zwischen dem Gedanken der Praktikabilität der Bildung und dem Gedanken der Intellektualität der Bildung bestehen. In diesem „Prozeß“ muß allerdings die Praxis die Priorität erhalten, da sie allein den Umfang des theoretischen Wissens festlegt.
* Allgemeinbildung in der Berufserziehung
Beinhaltet eigentlich die berufliche Bildung ausschließlich die Vermittlung bzw. Aneignung von fachlichem Können und fachlichem Wissen?
Für Kerschensteiner war dies nicht alleiniger Inhalt der Bildungsaufgabe, ihm ging es vielmehr darum, den Bezug zum universellen Lebensverständnis herzustellen.
Er lehnte daher eine derartige, lediglich in arbeitstechnischem Sinne bestehende Berufsbildung kategorisch ab. Denn er erkannte, daß hierdurch die Möglichkeit einer Verbildung der Menschen, Einengung von Interessen und Beschränktheit der Lebensanschauung besteht (vgl. ebenda, S. 37).
Lfm nicht in eine derartige Situation zu gelangen, muß die Konzeption der Berufsbildung eine ausbaufähige Berufserziehung sein und einen höheren Anspruch an sich stellen als bloße Berufsertüchtigung. Die ursprünglichen bemfsorientier- ten Grenzen müssen daher fallen.
Kerschensteiner lehnte auch solche Meinungen ab, die darin zum Ausdruck kamen, mit den Jugendlichen nach der Berufsausbildung die „Menschenbildung“ vorzunehmen. Dies resultierte aus der althergebrachten Unterscheidung beider Begriffe.
Für Kerschensteiner waren es jedoch die beiden Komponenten ein und derselben Bildungsaufgabe, die nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern sich nur miteinander und durcheinander erfüllen lassen.
Der Beruf und die Berufsbildung sind daher die Grundlage für weitergreifende Bildungsabsichten, sie sind die Ermöglichung für eine allgemeine Menschenbildung.
Der Beruf hat daher für Kerschensteiner eine zentrale Bedeutung für das menschliche Leben (vgl. Wehle 1966, S. 94).
In bezug auf die allgemeine Menschenbildung ging es Kerschensteiner darum, im Rahmen der Berufsbildung bestimmte Sachkomplexe in den Berufszusammenhang zu bringen. Hierzu zählte er folgende Aspekte:
- berufstheoretische,
- wirtschaftlich-kaufmännische,
— politisch-soziale und
— gymnastisch-musische.
Mir erscheint hierbei sein politisch-sozialer Aspekt besonders interessant.
Er unterteilt diesen in zwei Fachgebiete, in „Bürgerkunde1 ' und in „Lebenskunde“ bzw. „Gesundheitslehre“.
Kerschensteiner strebte auch hier den Bezug zur Realität an, d.h. die Wissensvermittlung sollte nicht in abstrakter Form erfolgen. Vielmehr sah er eine Chance über den berufsgeschichtlichen Weg des jeweiligen Ausbildungsberufes, politische und soziale Strukturen aufzuzeigen und auf die gegenwärtige Zeit den analogen Bezug herzustellen.
Die fächerübergreifende Einbeziehung u.a. Aspekte sollten im Rahmen der Jugenderziehung am Berufsbild der Jugendlichen ansetzen. Kerschensteiner sah in den beiden Prinzipien der Bildung, der Menschenbildung und der Berufsbildung, keinen Gegensatz, sondern eine Einheit, die sich gegenseitig bedingt.
* Grundlagen der staatsbürgerlichen Erziehung
Kerschensteiner sah eine ideale Verknüpfungsmöglichkeit zwischen beruflicher Bildung und staatsbürgerlicher Erziehung.
Hierbei ging es ihm vordergründig um eine Erziehung, die für die Gesellschaft am wertvollsten und zweckmäßigsten war. Er prägte hierzu den Begriff „brauchbarer Staatsbürger“ und sah darin den Zweck jeglicher Erziehung begründet (vgl. Müllges 1967, S. 46).
Kerschensteiner verstand hierunter nicht die Politisierung der Jugendlichen und die Erziehung zum politisch angepaßten Menschen, sondern im eigentlichen eine Erziehung im Kontext einer sittlichen Lebensweise und zu einem Staatsbürger, der Mitverantwortung trägt. Aus diesem Grunde ordnete er dem Werten gegenüber jeglichem Wissen und Können eine dominierende Rolle zu.
Die Erziehung der Jugend mußte daher die Vermittlung von Wertmaßstäben zum Gegenstand haben, so daß in allen Fächern charakterliche Bildung einen Schwerpunkt darstellte.
Das Verhalten eines „brauchbaren“ Staatsbürgers sah Kerschensteiner im rechten moralischen Verhalten, insbesondere seiner beruflichen Einstellung für die Ge-
Seilschaft. Somit begründete er, daß die berufliche Bildung auch die Grundlage fur die staatsbürgerliche Erziehung darstellt. Anders formuliert: Staatsbürgerliche Erziehung ist nur über berufliche Erziehung in deren Fortsetzung zu gewährleisten.
Kerschensteiners Auffassung bestand weiter darin, daß der Berufstätige einen „doppelten“ Beruf hat, den „besonderen“ und den „allgemeinen“. Unter dem „besonderen“ verstand er den erlernten bzw. ausgeübten Beruf, dagegen im „allgemeinen“ den sittlich-sozialen Beruf. Daher folgerte er weiter, daß alle Bildungskonzepte auf dieser Tatsache resultieren müssen, d.h. die Berufsbildung muß sowohl die individuelle Leistungsfähigkeit berücksichtigen wie auch im Sinne der sozialen Bildung wirksam sein (vgl. Kerschensteiner 1926, S. 43).
Eine weitere Bedingung, die für die charakterliche Bildung notwendig ist, sah Kerschensteiner in den Möglichkeiten des praktischen Handelns für die Jugendlichen. Kerschensteiner sieht hierin den „Fundamentalsatz der Erziehung“, daß mit allen erzieherischen Mitteln die jungen Menschen zum selbständigen Handeln erzogen werden. Die Bildung des Charakters erfolgt nur über die praktische Handlung. Daraus leitete er schließlich auch in dieser Beziehung seine Forderung an die Berufsschule ab, nämlich daß sie nicht nur eine Stätte des theoretischen Unterrichts sein darf, sondern auch ein praktischer Lemort.
* Egoistisches Verhalten und soziale Einstellung
Bemerkenswert sind Kerschensteiners Ausführungen in seiner „Preisschrift“ „Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend (1901)“, in der er hier den inneren Zusammenhang deutlich macht. Ausgehend von der Aufgabe des Staates bestimmte er hiernach die Notwendigkeit der Erziehung zur staatsbürgerlichen Brauchbarkeit als allgemeines Erziehungsziel für die handarbeitende Bevölkerung (vgl., Kerschensteiner 1901, zit. n. Wehle 1966, S. 17). In späteren Ausführungen spricht er vom „brauchbaren Staatsbürger“ und leitete hieraus die Aufgaben der Berufsausbildung, die Aufgaben für deren Versittlichung sowie Aufgaben zur Versittlichung des Gemeinwesens ab (vgl. Kerschensteiner 1964, S. 10 zit. n. Müllges 1967, S. 186).
In seinen Begründungen verwendete Kerschensteiner die Termini „Egoismus“ und „Altruismus“ als die beiden Grundtriebe der Seele (vgl
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- Quote paper
- Klaus Schädlich (Author), 2000, Berufsausbildung in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196570