Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist für die allermeisten deutschen Staatsbürger außerhalb jeder empirischen Erfahrbarkeit. Der Diskurs stützt sich v.a. auf das, was medial über die zentralasiatische Region verbreitet wird. Eine wichtige Position in diesem Prozess kommt den Bundesministern der Verteidigung zu. Ihre Aufgabe besteht u.a. maßgeblich darin, sicherheitspolitische Entscheidungen der Regierung in der Öffentlichkeit zu vertreten. Darüber hinaus stellen sie allerdings auch eine der wenigen Quellen
dar, die Informationen über Kampfhandlungen und zivile Projekte liefern können.
Diese Arbeit verfolgt die Frage, wie die Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt auf sprachlicher Ebene agieren, wenn politische Ziele und Faktenlage in Widerspruch geraten. Wird dann relativiert oder beschönigt? Wie verhalten sie sich, wenn Unsicherheit über die verfügbaren Informationen besteht? Wird dies eingeräumt oder
vielmehr instrumentalisiert? Und mit welchem Geltungsanspruch werden die Äußerungen versehen? Gerieren sich die Minister als Verkünder einer unumstößlichen Wahrheit? Oder reflektieren sie, dass es sich bei den eigenen Einschätzung nur um eine Annäherung an die empirischen Begebenheiten handeln kann?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die Aussagen der drei ehemaligen Minister im BMVg, Peter Struck, Dr. Franz Josef Jung und Karl-Theodor zu Guttenberg2, in einer speziellen Vermittlungsform, dem klassischen Zeitungsinterview, zwischen 2001 und 2011 untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1 Die Wahrheit und das, was wirklich passierte
2 Der Euphemismus als sprachwissenschaftliches Phänomen
2.1 Tabuisierung als Ursprung euphemistischer Sprachverwendung
2.2 Verhüllungen - Euphemismen im allgemeinen Sprachgebrauch
2.3 Bildungsweisen von Euphemismen
2.4 Verschleierungen - Euphemismen in der Politik
2.5 Euphemisierung militärischer Konflikte
3 Der Afghanistan-Konflikt - politisch-historischer Kontext
3.1 Die sowjetische Besatzung - Afghanistan im Kalten Krieg
3.2 Afghanistan nach dem Zusammenbruch der UdSSR
3.3 Der 11. September 2001 und die Folgen
3.4 Neuordnung Afghanistans und aktuelle Entwicklung
3.5 Die Bundeswehr in Afghanistan
4 Analyse der Euphemismen in den Interviews der Verteidigungsminister
4.1 Prämissen der Untersuchung
4.1.1 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes
4.1.2 Vorüberlegungen und Vorgehensweise
4.2 Grundlegende Strategien der Benennung
4.2.1 Einhörner reitende Heroen
4.2.2 Euphemistische Dreibuchstabenverwendung (EDV)
4.3 Motivation und Motivierung des Einsatzes
4.3.1 Die Verteidigung deutscher Defensivität
4.3.2 Die Verteidigung unserer Werte
4.4 Benennung und Charakterisierung der Konfliktparteien
4.4.1 Hinterhältig, feige und gemein
4.4.2 Al-Kaida-Talibanisten
4.4.3 Die Tötung Todgeweihter
4.4.4 Die Unangemessenheit militärischer Angemessenheit
4.5 Charakterisierung und Vermittlung des Einsatzes
4.5.1 Wanderer, kommst du nach Kundus
4.5.2 Majuskelsalven und Versalvasallen
4.5.3 Vernetzte Kriege
4.5.4 Kriegsähnliche Kriege
4.5.5 Bewaffnete Kriege
4.6 Metasprachliche Aspekte
5 Eine weitere Wahrheit: Die Perpetuierung des Kriegszustandes
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
A Auswertung Dr. Peter Struck
A.1 Kategorisierung
A.2 Reduktion
B Auswertung Dr. Franz Josef Jung
B.1 Kategorisierung
B.2 Reduktion
C Auswertung Karl-Theodor zu Guttenberg
C.1 Kategorisierung
C.2 Reduktion
D Materialband
1. Die Wahrheit und das, was wirklich passierte
Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.
(Aischylos)
„Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. // Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. // Warum nicht, fragte der Soldat.“ (Borchert 2008: 82) - in dieser Lesebuchge- schichte zeichnete Wolfgang Borchert kurz vor seinem Tod im Jahr 1947 den Krieg als totale Entgrenzung, der auch dann noch in und zwischen den Menschen wütet, wenn die Instanz, die sie in den Kampf entsendet hat - der Staat, die Partei, der Führer - schon längst gefallen ist. Borchert verortete deshalb den Widerstand, die Absage an jeden Waf- fengang und damit die Verantwortung für den Frieden in seinem Manifest Dann gibt es nur eins! unmissverständlich auf der Seite des Individuums: „Sag NEIN!“ (ebd.: 110).
62 Jahre später unterhält die Bundeswehr zehn Auslandseinsätze in Europa, Afri- ka und Asien. Unter der Flagge der NATO, der UNO und der EU bekämpfen deutsche Streitkräfte u. a. am Horn von Afrika Piraten (EU NAVFOR Somalia - Operation Ata- lanta), entwaffnen die Kombattanten in Sudan (UNMIS) und sorgen für den Erhalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Kosovo (KFOR). Der überwiegende Teil der insgesamt 7.110 sich im Ausland befindlichen Soldaten ist jedoch im Verbund mit der International Security Assistance Force (ISAF) am Hindukusch stationiert.
Bei Borchert ist der Krieg erfahrbar, er hat ihn selbst erfahren. Der totschlagende Soldat kehrt in die Heimat zurück. Die Front weicht hinter die Landesgrenzen zurück. Die Bom- ben regnen auf die Dächer über den Köpfen der deutschen Bevölkerung. Berlin. Hamburg. Dresden.
Die Auseinandersetzungen in Afghanistan, wo sich in dieser Zeit dem ehemaligen Ver- teidigungsminister Dr. Peter Struck zufolge Deutschlands vorderste Verteidigungslinie befindet, werden diese Städte nie erreichen. Selbst der eigentliche Auslöser des Einsatzes, die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, ist hierzulande nur ein
Fernsehbild, eine Schlagzeile, eine Rundfunkansprache. Der unterstützende Soldat kehrt mit PTBS zurück. Die Stabilität im Süden des Landes kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Allianz antwortet mit gezielten Luftschlägen. Kabul. Kundus. Kandahar.
Jeder Bundesbürger legitimiert diesen Einsatz mit seiner Wählerstimme. Um sich eine Meinung bilden zu können, ist er darauf angewiesen, die Wahrheit über die Hinter- gründe, Zustände und Folgen der Missionen zu erfahren. Aber was ist die Wahrheit?
Der Wahrheitsbegriff wird seit mehreren tausend Jahren kontrovers diskutiert. Einigkeit besteht wohl höchstens darüber, dass die Wahrheit nicht identisch ist mit dem, was wirklich passiert ist. Die Vermittlung von Realität ist immer mit einer Interpretationsleistung verbunden. Sie unterliegt der subjektiven Sichtweise, ist an ein Medium angepasst und für einen Empfänger konzipiert. Deswegen muss Wahrheit immer als konstruiert angesehen werden, sie hat viele Gesichter.1
Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist für die allermeisten deutschen Staatsbürger außerhalb jeder empirischen Erfahrbarkeit. Der Diskurs stützt sich v. a. auf das, was me- dial über die zentralasiatische Region verbreitet wird. Eine wichtige Position in diesem Prozess kommt den Bundesministern der Verteidigung zu. Ihre Aufgabe besteht u. a. maßgeblich darin, sicherheitspolitische Entscheidungen der Regierung in der Öffentlich- keit zu vertreten. Darüber hinaus stellen sie allerdings auch eine der wenigen Quellen dar, die Informationen über Kampfhandlungen und zivile Projekte liefern können.
Diese Arbeit verfolgt die Frage, wie die Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK) auf sprachlicher Ebene agieren, wenn politische Ziele und Faktenlage in Widerspruch geraten. Wird dann relativiert oder beschönigt? Wie verhalten sie sich, wenn Unsicherheit über die verfügbaren Informationen besteht? Wird dies eingeräumt oder vielmehr instrumentalisiert? Und mit welchem Geltungsanspruch werden die Äußerungen versehen? Gerieren sich die Minister als Verkünder einer unumstößlichen Wahrheit? Oder reflektieren sie, dass es sich bei den eigenen Einschätzung nur um eine Annäherung an die empirischen Begebenheiten handeln kann?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die Aussagen der drei ehemaligen Minister im BMVg, Peter Struck, Dr. Franz Josef Jung und Karl-Theodor zu Guttenberg2, in einer speziellen Vermittlungsform, dem klassischen Zeitungsinterview, zwischen 2001 und 2011 untersucht.
Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (2001) hat festgestellt, dass Zeichen arbiträr sind, sie also keine Bedeutung besitzen, die ihnen ursprünglich zukommt. Die Verbindung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten wird erst durch die Sprachverwendung (parole) etabliert. Die Bedeutung ist jedoch nicht als Entität zu fassen, sie ergibt sich vielmehr nur über die Differenz zu anderen bedeutungstragenden Einheiten eines Sprachsystems (langue). Eine derartige Beschreibung bezieht sich allerdings nur auf ein bestimmtes Sprachstadium zu einem bestimmten Zeitpunkt (synchrone Ebene).
Der relationale Charakter von Signifikant und Signifikat tritt auch im Laufe der Zeit im Sprachwandel (diachrone Ebene) deutlich zu Tage. Sprache ist damit sowohl der Kontinuität als auch der Transformation unterworfen. Die Bedeutung eines Zeichens kann sich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen essentiell verändern. Politiker, denen es darum geht, Mehrheiten von ihren Ideen zu überzeugen, können sich die prinzipielle Ungebundenheit des Zeichens zunutze machen, indem sie Zustände oder Verhalten mit positiver besetzteren Worten versehen. Diese Aufwertung durch geziel- te Sprachverwendung wird als Beschönigung bezeichnet. Das entsprechende sprachliche Phänomen, der Euphemismus, wird in Kapitel 2 vorgestellt. Dabei wird zunächst darauf eingegangen, welcher Motivation Euphemismen im alltäglichen Sprachgebrauch entsprin- gen (Abschnitt 2.1) und auf welche Art und Weise sie gebildet werden (2.3). Abschnitt 2.4 zeigt die spezielle Funktion von Beschönigungen innerhalb der Sprache der Politik, bevor zum Schluss des Kapitels auf die Vermittlung militärischer Konflikte eingegangen wird (2.5).
Wie sich zeigen wird, kann das euphemistische Potential sprachlicher Einheiten nur über ihren Kontext erschlossen werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, in Kapitel 3 aus- führlich auf den Verlauf des Afghanistan-Konflikts einzugehen, dessen Ursprünge bis zur Besatzung des Landes durch sowjetische Truppen in den 1980er Jahren zurückreichen. Weiterhin wird auf aktuelle Entwicklungen nach dem 11. September 2001 eingegangen (3.3) und die Rolle der Bundeswehr innerhalb der Missionen zur Stabilisierung des Lan- des (ISAF) und zur Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) beleuchtet (3.5).
Die anschließende Untersuchung der in den Interviews verwendeten Euphemismen setzt mit der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes und der Darlegung der Vorgehensweise ein (4.1). Darauf wird in Abschnitt 4.2 zunächst auf grundlegende Strategien der Benennung von Kriegsgerät und Truppenteilen eingegangen.
Im Folgenden werden unterschiedliche Aspekte des Sprechens über den Einsatz im Mit- telpunkt stehen: Abschnitt 4.3 diskutiert Euphemismen, die im Zuge der Darstellung der Gründe, welche für die Entsendung der deutschen Streitkräfte als ausschlaggebend erach- tet wurden, von den Ministern gebraucht werden. Im Anschluss fokussiert die Analyse die Benennung und Charakterisierung der am Konflikt beteiligten Parteien bzw. ihrer militärischen Vorgehensweise.
Bevor auf metasprachliche Aspekte der aufgezeigten Wortwahl eingegangen wird (4.6), steht Abschnitt 4.5 ganz im Zeichen der Debatte um den grundsätzlichen Charakter der Bundeswehreinsätze. An deren vorläufigem Ende, so wird sich zeigen, steht die Frage, ob deutsche Truppen in Afghanistan nun wieder in einem Krieg kämpfen? Hier soll abschließend in Kapitel 5 unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Antwort versucht werden.
2. Der Euphemismus als sprachwissenschaftliches Phänomen
Was jemand willentlich verbergen will, sei es vor anderen, sei es vor sich selber, auch was er unbewusst in sich trägt: Die Sprache bringt es an den Tag.
(Victor Klemperer)
Sprache ist ein grundlegendes Mittel der Kommunikation innerhalb sozialer Gemeinschaften. Sprache wird aber auch im Umkehrschluss durch die Mitglieder dieser Gemeinschaften erst hervorgebracht und fortwährend modifiziert. Die Anwendung von Sprache orientiert sich nicht nur an sprachinternen Kriterien, z. B. aus dem Bereich der Semantik oder der Grammatik, sondern wird vielmehr auch durch sprachexterne Faktoren (Kommunikationssituation, Medium etc.) beeinflusst. Die Art und Weise über sich und mit anderen zu reden ist in nicht zu unterschätzendem Maße abhängig von den Zwängen und Konventionen innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft.
Wenngleich das deutsche Grundgesetz (GG) das Recht auf freie Meinungsäußerung ga- rantiert, so ist der Einzelne keineswegs vollumfänglich frei in Wort- und Themenwahl. Die Artikulation des Individuums unterliegt immer teilweise selbst auferlegten, dyna- mischen Sprachge- bzw. verboten, welche aus den gesellschaftlichen Wertvorstellungen hervorgehen. Die Soziolinguistik spricht in diesem Fall von Sprachtabuisierungen (vgl. u. a. Ullmann (1962), Zöllner (1997)).
2.1. Tabuisierung als Ursprung euphemistischer Sprachverwendung
Der Begriff Tabu geht zurück auf den Ausdruck tapu der polynesischen Tonga-Sprache. Dieses Lexem verwendeten die im östlichsten Teil Ozeaniens beheimateten Polynesier und Melanesier „zunächst für alles Heilige, Geweihte und, davon abgeleitet, für alles mystisch Unberührbare, Gefährliche, Unreine“ (ebd.: 15). Ein Tabu bezeichnet heutzutage im wei- testen Sinne eine „konventionelle Schranke, [eine] Vorschrift, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen oder bestimmte Handlungen nicht auszuführen“ (Pfeifer 1989: 1773). Entgegen ihres etymologischen Ursprunges sind Tabus jedoch keineswegs auf die abergläubisch-mystische Sphäre beschränkt. Vielmehr zirkulieren sie entlang aller vor-herrschenden Werte und Normen einer Gemeinschaft. Luchtenberg fasst deswegen neben den religiös motivierten Tabus unter diesem Terminus alle „aus verschiedenen Gründen mit Denk-, Anfaß- oder Nennverbot belegte[n] Gegenstände, Vorgänge oder Gedanken“ (Luchtenberg 1985: 24) einer Gesellschaft zusammen.
Tabus bilden als Kodex ungeschriebener Gesetze (vgl. Freud 1972: 85) die Grundlage jeder sozialen Gemeinschaft. Respektiert die überwiegende Mehrheit einer Gesellschaft bzw. Gruppe die Konventionen, wird eine Überschreitung beim Individuum Angst und Schuldgefühle auslösen, die den Einzelnen dazu zwingen, „den Tabubruch offenzulegen und die teilweise sehr harten Sanktionen, die die Gemeinschaft ihm auferlegt, anzuneh- men“ (Zöllner 1997: 19). Die damit einhergehende Selbstkontrolle des Individuums und die permanente gegenseitige Überwachung der Mitglieder einer Gesellschaft wirken für die soziale Ordnung stabilisierend.
Die sich aus den Tabuvorstellungen ergebenden Verhaltensregeln und Sanktionen bei Zuwiderhandlung können je nach Kultur und Tradition einer Gemeinschaft sehr unter- schiedlich ausfallen. „Das tabuisierte Bezugsfeld rankt sich“ aber, wie Zöllner feststellt, weltweit um dieselben Parameter: um Körperteile, Körperausscheidungen, Körper- funktionen, Sexualität, Krankheit und Tod, um gefährliche Tiere, bedrohliche Na- turerscheinungen, übernatürliche Mächte, heilige Personen, heilige Orte oder Ge- genstände, und um Vorstellungen, die die soziale Hierarchie und den sozialen Status betreffen.
(ebd.: 27)
Tabus können sich aber nicht nur auf bestimmte Verhaltensweisen, Handlungen, Objekte beziehen, sondern „auch auf die Sprache, auf bestimmte Wörter, Wendungen und Begriffe, die benutzt oder nicht benutzt werden dürfen, um über tabuisierte Erscheinungen zu sprechen“ (ebd.: 29). Ullmann (1962) unterscheidet diese Tabuisierung von Wörtern in
- das auf religiös-magischen Vorstellungen basierende taboo of fear, welches sich u. a. in der Umgehung einer direkten Gottesbezeichnung äußert, z. B. der Vater (im Himmel) für ‚Gott‘
- das taboo of delicacy, bei dem aus Feinfühligkeit direkte Bezeichnungen für Krankheiten, Tod und geistige wie körperliche Versehrtheiten vermieden werden und
- das taboo of propriety, dessen implizierte Anstandsnormen sich in erster Linie auf Körperteile, -ausscheidungen und -funktionen sowie menschliche Sexualität bezie- hen.1
Alle tabuisierten Wörter bzw. Wortverbindungen zeichnen sich nach Zöllner dadurch aus, dass sie „unwillkommene Vorstellungen“ auslösen,
die entweder den Sprecher in bestimmten Sprechsituationen als vulgär diskreditieren oder aber den Hörer bzw. Hörer und Sprecher peinlich berühren. Die Meidungsge- bote werden folglich motiviert durch die Angst, zu kränken, durch die Angst, öf- fentliches Ärgernis zu erregen und durch die Angst, das persönliche Ansehen in der Gemeinschaft zu gefährden.
(Zöllner 1997: 53)
Die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sind bezüglich ihrer Wortwahl generell darauf bedacht - natürlich gibt es auch Ausnahmen, z. B. Provokationen (vgl. 4.1.2) -, Tabus zu umgehen. Da davon jedoch viele Bereiche des alltäglichen Lebens, über die dennoch fortwährend kommuniziert werden muss und wird, betroffen sind, etablierte sich eine Strategie zur Vermeidung der entsprechenden Begriffe. Anstatt das tabuisierte Wort zu verwenden, wird auf einen semantisch verwandten Ersatzausdruck, einen Euphemismus, zurückgegriffen, der keinen Anteil an der tabuisierten Vorstellungsgruppe hat.
2.2. Verhüllungen - Euphemismen im allgemeinen Sprachgebrauch
Der Terminus Euphemismus kann etymologisch auf das Altgriechische zurückgeführt wer- den und setzt sich aus dem Präfix eu- für ‚gut‘ bzw. ‚wohl‘ und dem Stamm pheme für ‚Gerücht‘ bzw. ‚Kunde‘ zusammen. Das Substantiv euphemism ó s bezeichnete die Substi- tution „einer unangenehmen, schlimmen Sache durch einen mildernden Ausdruck“ (Pfeifer 1989: 305). Im Deutschen tritt das Wort mit der Bedeutung ‚beschönigender, verhüllen- der sprachlicher Ausdruck‘ erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jhds. in Erscheinung (vgl. Zöllner 1997: 92).
In der Sprachwissenschaft wird der Begriff vielfältig verwendet und „entzieht sich, ähnlich wie der des Tabus, einer klaren Definitionsbestimmung“ (ebd.: 94). Euphemismen werden in der Rhetorik als Bestandteil der uneigentlichen Rede aufge- fasst, die dann gegeben ist, „wenn ein Sprecher etwas nicht so meint, wie er es sagt
und dabei offensichtlich anders verstanden werden möchte“ (Berg 1978: 20). Sprachliche Ausdrucksformen der uneigentlichen Rede sind die Tropen, „ungewöhnliche Wendungen, die anstelle der sonst üblichen Bezeichnung für ein Designat gebraucht werden“ (Zöllner 1997: 95). Der Euphemismus dient in diesem Sinne der Ersetzung der unmittelbaren, als unerlaubt, unhöflich oder anstößig geltenden Bezeichnung durch einen anderen ab- schwächenden, beschönigenden, umbenennenden sprachlichen Ausdruck und zielt damit auf eine Veränderung des propositionalen Gehalts.2 Die Beschönigung tilgt „aus einer für objektiv geltenden Aussage Seme, die störend oder überflüssig erscheinen und substitu- iert ihnen neue Seme“ (Dubois u. a. 1978: 227). Durch diesen Vorgang können negativ besetzte Bedeutungen ausgeschaltet und durch positive ersetzt werden (vgl. Danninger 1983: 237).
In der Rhetorik, die Aussagen über die formale Realisierung von Sprache trifft, bleibt die Motivation der Verwendung von Euphemismen außen vor. Ebenso wie Tabus stehen auch die sprachlichen Ausdrücke, mit denen diese umgangen werden sollen, in einem Spannungsverhältnis mit den vorherrschenden Werten und Normen einer Sprachgemein- schaft. Die Wirksamkeit eines Euphemismus kann deswegen nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes, d. h. zeitrelativiert, im Rahmen derjenigen Sprache, in der er vorkommt, und im Zusammenhang mit dem jeweiligen gesellschaftlichen und politischen System beurteilt werden (vgl. Leinfellner 1971: 10ff.). Diese Beeinflussung ist jedoch keineswegs einseitig zu betrachten, vielmehr müssen Euphemismen als Manifestationen der wechselseitigen Beziehungen zwischen sozialem Handeln und Sprachstruktur gesehen werden:
Die in einer Gesellschaft geltenden Normen, Dezenzansprüche und Anstandsvorstel- lungen wirken auf die Sprachstruktur, indem sie zur Bildung von Ersatzausdrücken führen; und umgekehrt, der Gebrauch der Ersatzausdrücke festigt die gesellschaftli- chen Normen und Tabus und gibt Aufschluß über das Sozialverhalten der Sprach- teilnehmer.
(Zöllner 1997: 113)
Der Gebrauch einer sprachlichen Äußerung mit dem Ziel, „bestimmten gesellschaftlichen Normen und bestehenden sozialen bzw. individuellen Tabus zu genügen, d. h. etwas mil- dernd zu benennen, teilweise auch Rücksicht auf die Gefühle des Rezipienten zu nehmen“ (Bohlen 1994: 171), wird als Verhüllung bezeichnet.
Euphemismen werden aus dem Wortbestand einer Sprache gebildet. Die Funktion des Beschönigens ist jedoch nicht auf die Ebene der Lexeme begrenzt, sondern kann sich auch aus Wortverbindungen, einfachen und komplexen Sätzen und sogar Texten ergeben: „Grundsätzlich sind Euphemismen [...] nicht an die Gestalt gebunden, sondern beziehen ihre euphemistische Wirkung über die Bedeutung“ (Zöllner 1997: 115). Zwar wurde bis- her durchgehend die kontextuelle Gebundenheit der Beschönigungen hervorgehoben, die euphemistische Wirkung kann aber auch als Konnotation zum festen Bestandteil der Lexembedeutung werden. Diese Sedimentation ins Sprachmaterial kommt nach Bohlen
vor allem dadurch zustande, daß bestimmte Wörter oder andere syntaktische Einheiten immer wieder in bestimmten Kommunikationssituationen (z. B. beim Tod eines Menschen) mit gleicher kommunikativer Zielstellung (etwa Schonung der Gefühle des Kommunikationspartners) aktualisiert, d. h. gebraucht werden.
(Bohlen 1994: 114)
Derartige „gewissermaßen gesellschaftlich anerkannte Milderungen für anstößige Wörter“ (Luchtenberg 1985: 152) werden langue-Euphemismen bzw. traditionelle Euphemismen genannt (vgl. Bohlen 1994: 154).
Mit der Aufdeckung der euphemistischen Funktion eines Lexems durch Aufnahme bspw. in ein Wörterbuch kann die entsprechende sprachliche Einheit ihren beschönigenden Cha- rakter jedoch auch einbüßen. Eine allgemein anerkannte Verhüllung umgeht einerseits die Tabuisierung, wird andererseits bei häufiger Verwendung aber auch zu ihrem direkten Er- kennungszeichen. Zwar wird der Euphemismus verwendet, um einen Sachverhalt positiver darzustellen, als er eigentlich ist. Semantisch betrachtet ist dies aber nicht mit einer Me- lioration der Ersatzbezeichnung gleichzusetzen. Vielmehr übernimmt die beschönigende Formulierung in den meisten Fällen die negativen Konnotationen desjenigen Terms, den sie ursprünglich verdrängt hat, und ein anderer sprachlicher Ausdruck muss an ihre Stelle treten. Diesen fortwährenden pejorativen Prozess fasst Pinker im Bild der euphemisti- schen Tretmühle zusammen:
Terms for concepts in emotionally charged spheres of life such as sex, excretion, aging, and disease tend to run on what I call a euphemism treadmill. They become tainted by their connection to a fraught concept, prompting people to reach for an unspoiled term, which only gets sullied in its turn. For instance, toilet, originally a term for bodily care (as in toilet kit and eau de toilette), came to be applied to the device and room in which we excrete. It was replaced by bathroom, leading to absur- dities like The dog went to the bathroom on the rug and In Elbonia, people go to the bathroom on the street. As bathroom became tainted (as in bathroom humor), it was replaced in successive waves by lavatory, WC, gents ’, restroom, powder room, and comfort station. A similar treadmill cycles terms for the handicapped (lame, cripp led, handicapped, disabled, challenged), names of disfavored professions (sanitation, garbage collection, environmental services), and academic activities (gym, physical education, human biodynamics), and names for oppressed minorities (colored, Negro, Afro-American, black, African American).
(Pinker 2008: 319f.)
Die Beispiele machen deutlich, dass Euphemismen sowohl Resultat als auch gleichzeitig Ausgangspunkt eines Bedeutungswandels einer Sprache seien können. Sie werden zum einen durch veränderte bzw. veränderliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen und da- mit einhergehende Tabuisierungen beeinflusst, zum anderen aber auch durch die sich daran orientierende Verwendung von Sprache. Beschönigungen befinden sich damit in a constant state of flux. New onces are created almost daily. Many of them prove to be nonce terms - one-day wonders that are never repeated. Of those that are ratified through reuse as true euphemisms, some may last for generations, even centuries, while others fade away and develop into unconscious euphemisms, still used, but reflexively, whitout thought of their checkered origins.
(Rawson 1981: 5f.)
Wie Bohlen konstatiert, wird der Begriff Euphemismus in der Sprachwissenschaft häu- fig ambivalent verwendet und bezeichnet sowohl „das ‚uneigentliche‘ Wort, de[n] Aus- druck selbst, der einen direkten ersetzt“ (Bohlen 1994: 101), als auch den „Gebrauch eines solchen Wortes bzw. Ausdrucks“. Davon ausgehend entwickelt er eine Definition des Euphemismus, die darauf abzielt, die Funktion der Beschönigungen, ihre sprachli- che Erscheinung als lexikalische Einheit und ihre Verwendung voneinander abzugrenzen. Insofern versteht er unter dem Euphemismus im weitergefassten Sinne
die Funktion einer lexikalischen Einheit (eines einzelnen Wortes, eines Wortverbandes, eines Teilsatzes, eines einfachen Satzes, eines komplexen Satzes, eines Teilsatzes oder eines ganzen Textes), objektive Tatsachen zu mildern, zu beschönigen, zu verhüllen oder zu verschleiern bzw. den Gebrauch von sprachlichen Einheiten, die die Wirklichkeit direkter, unmittelbarer, unbeschönigt bzw. unverhüllt und weitgehend adäquat widerspiegeln, zu vermeiden.
(ebd.: 110)
Die sprachlichen Einheiten selbst werden als Euphemismen im engeren Sinne aufgefasst, „die in einem bestimmten sprachlichen und außersprachlichen Kontext eine mildernde, beschönigende, verhüllende oder verschleiernde, d. h. euphemistische Funktion“ (ebd.) er- füllen. Den Vorgang der Ersetzung von „sprachlichen Ausdrücken mit negativen Konno- tationen und Assoziationen oder in semantischer Hinsicht neutraler Ausdrücke [...] durch beschönigende oder verschleiernde lexikalische Einheiten“ (ebd.: 110) hingegen bezeichnet Bohlen als „Euphemisierung von Gegenständen, Prozessen, Zuständen etc. der Wirklichkeit bzw. von diesbezüglichen sprachlichen Ausdrücken“.
2.3. Bildungsweisen von Euphemismen
Eine umfassende Beschreibung aller möglichen Formen von Euphemismen i. e. S. kann nicht geleistet werden, da jeder sprachliche Ausdruck, unter Berücksichtigung der jewei- ligen Situation, in der er verwendet wird, als Beschönigung fungieren kann: „Mit anderen Worten könnte in geeignetem Kontext nahezu jedes Wort euphemistischen Sinn erhalten, jedoch eignen sich bestimmte Bildungsweisen in besonderem Maße zu Euphemismen“ (Luchtenberg 1985: 128). Als wirkungsvolle und deswegen häufig anzutreffende Stra- tegien der Euphemisierung haben sich v. a. (1) die Substitution von Lexemen, welche tabuisierte Sachverhalte bezeichnen, (2) die Modifizierung der Bedeutung dieser Wörter durch Hinzufügen weiterer Ausdrücke und (3) die formale Veränderung des Signifikanten erwiesen.
Aufgrund ihrer Eigenschaft, durch Ersetzung bestimmter sprachlicher Ausdrücke eine semantische Variation hervorzurufen, eignen sich Tropen, d. h. Formen der uneigentli- chen Rede, besonders zur Beschönigung. Da bspw. Periphrasen Designate nicht direkt benennen, sondern umschreiben, verfügen sie über ein hohes Potential, zum Zwecke einer Euphemisierung eingesetzt zu werden. Die Litotes legt durch die ihr eigene Verneinung des Gegenteils des Gemeinten eine euphemistische Verwendung nahe, da sie in jedem Fall den durch sie ersetzten Ausdruck abschwächt, z. B. nicht mehr jung sein für ‚alt sein‘ (vgl. ebd.: 130). Auch Metaphern mit ihrer polysemen Struktur können besonders gut „Ersatzbezeichnungen für Anstößiges und Unangenehmes“ (ebd.: 128) liefern, bspw. über den Jordan gehen für ‚sterben‘. Mit der Hyperbel können Aspekte von Objekten, Sachverhalten etc. übermäßig hervorgehoben und damit einhergehend eine vorteilhafte Darstellung von Gegebenheiten der Wirklichkeit erreicht werden (vgl. Bohlen 1994: 120). Euphemismen und Ironie teilen die Eigenschaft, ihre Funktion erst durch einen bestimm- ten sprachlichen und außersprachlichen Kontext zu erhalten, d. h. eine „genaue Abgren- zung ironischen und euphemistischen Gebrauchs wird im Einzelfall u. U. schwer zu treffen sein“ (ebd.). Die Lüge schließlich stellt sowohl innerhalb der Tropen als auch der Beschö- nigungen einen Grenzfall dar. Bohlen erkennt in den Aussagen über die Wirklichkeit, deren Denotat den Tatsachen diametral entgegengesetzt ist, eine radikalere „Methode, die Wahrheit bzw. der Wahrheit nahekommende sprachliche Ausdrücke zu umgehen“ (ebd.: 122f.).
Wie in der Beschreibung des euphemistischen Potentials uneigentlicher Redeweise deut- lich wurde, eignet sich insbesondere Mehrdeutigkeit als Strategie der Beschönigung, da sie „Auswirkungen auf die Verständigung im Kommunikationsakt haben kann: Polysemie, die durch den Kontext nicht beseitigt wird, führt zur Mehrdeutigkeit der Meinung“ (Luchten- berg 1985: 132). Die erste Regel von Leinfellner für die Bildung sprachlicher Ausdrücke u. a. zur Verhüllung gibt deswegen vor, „man möge vage oder mehrdeutige Ausdrücke verwenden, um - bei gegebenen pragmatischen Umständen - euphemistische Wirkung zu erzielen“ (Leinfellner 1971: 80). Unter derselben Prämisse können auch Fremdwörter, seltene Wörter und ‚geschraubte Ausdrücke‘ Eingang in den Sprachgebrauch finden, da beim Rezipienten - in seltenen Fällen auch beim Schreiber bzw. Sprecher selbst - oft Unklarheit über ihre Bedeutung herrscht. Luchtenberg führt ergänzend an, Fremdwörter würden „aber auch deshalb als Euphemismen verwandt, weil ihnen leicht ein vornehme- rer Nebensinn als dem entsprechenden deutschen Wort zugesprochen wird“ (Luchtenberg 1985: 134).
Eine Steigerung der bereits angesprochenen Euphemismusbildung mittels polysemer Lex- eme stellen Verallgemeinerungen und Leerformeln dar. Formulierungen unter Zuhilfenah- me von stark verallgemeinernden Ausdrücke wie z. B. Sache, Ding, etwas, Angelegenheit etc. bieten die Möglichkeit, präzise Benennungen zum Zwecke der Euphemisierung zu vermeiden (vgl. ebd.: 131). Leerformeln wie z. B. Freiheit oder Menschenwürde hingegen definieren sich nicht über ihre Bedeutungs- sondern über ihre Inhaltslosigkeit: „Wegen der Vieldeutigkeit solcher Wörter braucht sich der Sprecher nicht festzulegen, die Hörer werden ihre subjektive Vorstellung als die vom Sprecher gemeinte ansehen“ (ebd.: 133).
Ein sprachlicher Ausdruck muss jedoch nicht zwingend komplett ersetzt wer- den, um eine Euphemisierung zu erzielen. Auch durch Hinzufügen bzw. Auslassen von Wörtern oder Wortgruppen können semantische Modifikationen erreicht werden. Ein be- kanntes Beispiel für das Wegfallen von Präzisierungen bildet die Verwendung des Lexems Endlösung in der Sprache des Nationalsozialismus. Die Ausformulierung des Genetivat- tributs führt zu dem Term Endlösung der Judenfrage durch Tötung und zeigt, wie die euphemistische Wirkung des für sich stehenden Begriffs zustande kommt (vgl. Leinfell- ner 1971: 89). In die angesprochene Kategorie fasst Leinfellner auch das Verschweigen tabuisierter Sachverhalte durch gänzliches Auslassen von Lexemen. Diese sogenannten Nulleuphemismen bilden einen Grenzfall innerhalb der Realisation von Beschönigungen (vgl. ebd.: 91). Demgegenüber kann auch die Erweiterung der sprachlichen Ausdrücke beschönigend wirken. Leinfellner zufolge sind solche Euphemismen eher selten zu finden, auffällig sei aber v. a. die Verwendung bestimmter Lexeme, die den Ausdrücken „den An- schein einer uneigentlichen Redeweise [...] geben“ (ebd.: 93). Besonders häufig kämen in diesem Sinne die Adjektive sogenannt (z.B. die sogenannte DDR), wahr (wahre Freunde) und moralisch (moralischer Sieg) zum Einsatz (vgl. ebd.).
Euphemisierung kann schließlich auch über die Veränderung der Erscheinungsform von sprachlichen Ausdrücken realisiert werden. Luchtenberg bspw. erkennt eine beschönigende Funktion in der Nutzung von Kurzwörtern (H-Bombe statt Wasserstoffbombe, ABC Waffen etc.), in der gezielten Manipulation von Lauten und Buchstaben (z. B. Deibel statt Teufel) und in der Maskierung anstößiger Wörter mit Hilfe von Strichen und Pünktchen (z. B. Sch... anstelle von Schei ß e) (vgl. Luchtenberg 1985: 136ff.).
2.4. Verschleierungen - Euphemismen in der Politik
Wie anhand der im vorangegangen Abschnitt genannten Beispiele deutlich wurde, ist der Euphemismus kein inhaltlich festgelegtes Einzelphänomen und kommt in vielfältigen Anwendungsgebieten zum Einsatz (vgl. Zöllner 1997: 161). Neben dem persönlichen bzw. zwischenmenschlichen, dem gesellschaftlichen oder ökonomischen u. a. Sprachgebrauch3, sind Beschönigungen v. a. in der Sprache der Politik verbreitet.
Nach Klein (1989) ist die politische Sprache nicht schlechthin als eigene Fachsprache an- zusehen, sondern vielmehr eine Überschneidung (je nach Ressort) mehrerer Fachsprachen und der Alltagssprache. Der politische Wortschatz verzeichnet demzufolge eine Mischung aus Institutionsvokabular, Ressortvokabular, allgemeinem Interaktionsvokabular und dem Ideologievokabular, d. h. „Wörter, in denen politische Gruppierungen ihre Deutungen und Bewertungen der politisch-sozialen Welt, ihre Prinzipien und Prioritäten formulieren“ (ebd.: 7). Die Grenzen zwischen diesen Vokabularien sind fließend (vgl. ebd.: 4).
Politische Sprache variiert jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer fachlichen Verwendung, sondern auch in Bezug auf ihren Kommunikationsbereich. Strauß (1985) unterscheidet in diesem Sinne zwischen politischer Binnen- und Au ß enkommunikation. Die Binnen- kommunikation markiere den „Raum der institutionen-internen Kommunikation und der Kommunikation zwischen den Institutionen“ (ebd.: 150). Politik wirke aber auch we- sentlich außerhalb dieser Sphäre. In dieser Hinsicht sei noch einmal zwischen ö ffentlich- keitsbezogener, administrativ geregelter Kommunikation zwischen Bürgern und Behörden und ö ffentlich-politischer Kommunikation in Form von bspw. politischen Diskussionen, Propaganda etc. zu differenzieren (vgl. ebd.: 150). Euphemismen kommen besonders in letztgenanntem Bereich zum Einsatz, weil in dieser auf Überzeugung ausgelegten Sprache „stärker als in den auf Effizienz bedachten Sprachstilen der Verwaltung und Gesetzgebung der wertende Charakter und die Absicht, Meinung zu bilden und zu verändern, zum Ausdruck kommt“ (Bergsdorf 1978: 64f.).
Bergsdorf deutet an, dass der politische Euphemismus nur bedingt dahingehend verwendet wird, verbale Tabus zu umgehen. Vielmehr, so führt Zöllner diesen Gedanken weiter, wird in der Politik die Gunst der Wähler zum entscheidenden Kriterium hinsichtlich der Modalität der sprachlichen Äußerungen:
Im Wettstreit [...] um Ansehen und Machtanteile müssen Parteien und Politiker auf eine vorteilhafte Selbstdarstellung achten, aber auch darauf, daß die negativen Aspekte ihres politischen Handelns nicht allzu deutlich hervortreten. Sie sind um Beschönigungen bemüht.
(Zöllner 1997: 342)
Ist die Auswahl aus dem Sprachmaterial aber von persönlichen bzw. institutionellen Inter- essen geleitet, so kann von Rücksichtnahme und Feinfühligkeit aus Fragen des Anstands geschweige denn von religiösen Motiven keine Rede mehr sein. Von einem Tabu kann in der Politik nur insofern gesprochen werden, als dass „bestimmte politische Einstellun- gen nicht öffentlich vertreten werden dürfen, weil die meisten Mitglieder der Gesellschaft diese Haltungen als verwerflich ablehnen“ (ebd.: 346). Auch politische Euphemismen re- kurrieren damit auf gesellschaftlich verankerte Tabus, meiden eine direkte Benennung aber nicht, um die Etikette zu wahren, sondern aufgrund taktischer Erwägungen. Sie grenzen sich also v. a. in pragmatischer Hinsicht von den verhüllenden Euphemismen ab, da sie dazu dienen, „‚Tabuzonen‘ zu errichten, um unerwünschte Effekte eines direkten Ansprechens von Designaten der Wirklichkeit wie z. B. offenen Protest, Kritik usw. zu vermeiden“ (Bohlen 1994: 142).
Um dieser Erweiterung des Euphemismus-Begriffs in der politischen Sphäre gerecht zu werden, spricht Luchtenberg (1985) neben den Verhüllungen auch von verschleiernden Euphemismen. Verhüllende und verschleiernde Funktion seien zwar im Einzelfall oftmals nicht eindeutig voneinander abzugrenzen. Eine Verschleierung ziele jedoch im Gegensatz zur Tabu umgehenden Verhüllung v. a. darauf ab, „beim Hörer eine vom Sprecher intendierte Wirkung hervorzurufen“ (ebd.: 173). Sie soll „etwas besser darstellen, als es in Wirklichkeit ist“ (Zöllner 1997: 110) und ist damit in erster Linie „handlungstaktisch orientiert“. Sanders konstatiert diese Gruppe der Euphemismen vor allem in politischer, propagandistischer, demagogischer und damit manipulierter Verwendung; Minuswachstum an Stelle wirtschaftlicher Rezession, Vorwärtsvertei- digung als zynische Umschreibung des Angriffskrieges, seinerzeit die makabre ‚End- lösung‘ der Judenfrage für rassistischen Völkermord und der Beispiele mehr.
(Sanders 1992: 127f.)
Diese beschönigenden Redeweisen, die ihre euphemistische Wirkung erst durch die Sprachverwendung erhalten, werden auch als parole-Euphemismen respektive okkasionelle Euphemismen bezeichnet (vgl. Bohlen 1994: 155).
Verschleierungen eignen sich eben deshalb für jene Anwendungsgebiete, die eine zielgerichtete Lenkung des Menschen anstreben, da ihnen grundsätzlich ein Element der gewollten Täuschung innewohnt. Sie heben bestimmte Eigenschaften ihres Designats hervor, stellen ihre implizite Charakterisierung und Wertung aber nicht offen zur Diskussion, sondern transportieren sie unterschwellig mit (vgl. Zöllner 1997: 343). Verschleiernde Euphemismen fokussieren damit die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf bestimmte Aspekte [...], die vom Wesen eines Objektes, Zustandes, Zusammenhanges usw. ablenken und die damit objektiv den Interessen bestimmter Personen, Personengruppen, Parteien, der Regierung usw. entsprechen.
(Bohlen 1994: 171)
Der manipulative bzw. täuschende Gebrauch eines Euphemismus fordert eine Abgren- zung zur Lüge. Die Betrachtung dieses Grenzfalls beschönigenden Sprachgebrauchs in Abschnitt 2.3 muss insofern konkretisiert werden, als dass Verschleierungen nie totale Lügen sind, d. h. nach Intention des Sprechers bzw. Schreibers den empirischen Fak- ten diametral entgegengesetzt. Ein derartiger Euphemismus integriert vielmehr „zumeist Teile der Wahrheit in seine Bedeutungsstruktur, während er partiell durchaus zur Täu- schung [...] in der Lage ist“ (ebd.: 125). Leinfellner charakterisiert diese Beschönigungen deshalb als „Unterabteilung der möglichen partiellen Lüge“ (Leinfellner 1971: 42). Ihr manipulativer Charakter ergäbe sich nicht aus der Produktion einer faktisch falschen Aussage, sondern aus der zielgerichteten Differenzierung innerhalb eines Wahrscheinlich- keitsparadigmas: Je unwahrscheinlicher eine Aussage, desto größer ist die Absicht zu euphemisieren (vgl. ebd.: 55). Wie Leinfellner weiter ausführt, sei es gerade die Fähig- keit, zwischen den Polen wahr und falsch mit Wahrscheinlichkeiten zu operieren, die das Verhältnis von Politikern und Staatsbürgern grundlegend bestimme:
Unter dem Zwang der der Umgangssprache zugrundeliegenden, oder primär zugrun- deliegenden zweiwertigen Logik glaubt nun der Staatsbürger, daß auch der politische Euphemismus unter eine solche zweiwertige Logik falle. Der Erfolg ist einerseits, daß er dessen kontextuale Bedeutung [...], für eine empirische hält, d. h. den Euphemis- mus mit einem faktisch wahren Satz verwechselt, andererseits daß er, wenn er den Mechanismus durchschaut, dem Politiker generell mißtraut, d. h. geneigt ist, dessen Euphemismen, für faktisch falsche Sätze, i. e. Lügen anzusehen.
(vgl. ebd.: 62)
2.5. Euphemisierung militärischer Konflikte
Im 20. Jhd. hat besonders das Wettrüsten während des Kalten Kriegs unzählige Eu- phemismen im politischen Sprachgebrauch hervorgebracht. Die permanente Gefahr einer atomaren Vernichtung machte eine umfassende Euphemisierung erforderlich, um die Si- tuation allgemein erträglich zu gestalten (vgl. Bohlen 1994: 138). Der Krieg bzw. dessen Androhung stellt als letztes Mittel der Politik auch für die im politischen Sprachgebrauch stattfindende Euphemisierung einen Extremfall dar. In diesen Zeiten fällt es Politikern besonders schwer (bzw. ist ihnen nicht sonderlich daran gelegen) den Staatsbürgern die Wahrheit zu sagen. Für Bohlen geht die
Ausübung politischer Macht [...] einher mit dem extensiven Gebrauch verhüllender und insbesondere verschleiernder Ausdrücke, und dieser wird ausgedehnt in dem Maße, wie politische Krisen, insbesondere daraus resultierende militärische Konflikte um sich greifen.
(ebd.: 143)
Die Gewalt, die Gräueltaten und die Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen stimulie- ren nicht nur die Verwendung von Verhüllungen, sie verlangen darüber hinaus auch nach Verschleierung, um die Resultate der (verfehlten) Politik weniger schrecklich erscheinen zu lassen. Luchtenberg konstatiert folgerichtig, dass quantitativ die meisten Euphemis- men in diesem Bereich des politischen Wortschatzes zu finden seien, „was wohl mit der Bedeutung von Krieg für das menschliche Leben zu erklären ist“ (Luchtenberg 1985: 44). In nahezu allen inhaltlichen Analysen politischer Beschönigungen wird der semanti- schen Aufwertung militärischer Konflikte ein umfassender Abschnitt gewidmet. Lein- fellner (1971) berichtet sowohl von Euphemismen für Okkupationen, kriegerische Hand- lungen u.ä. als auch von Verhüllungen und Verschleierungen im Zusammenhang mit militärischen Misserfolgen. Luchtenberg (1985) unterteilt den Bereich Militär und Krieg nochmals in die Sachgebiete Militärpolitik, Militärdienst (auch in Friedenszeiten) und Krieg. Bohlen (1994) kategorisiert, um in seiner Analyse der Berichterstattung über den Golfkrieg den Kriegs-Euphemismen Herr zu werden, nicht weniger als 22 Untergruppen, darunter u. a. Euphemismen zur Verhüllung und Verschleierung des wirklichen Charak ters des Krieges und von politischen Hintergründen und Ursachen, zur Verhüllung und Verschleierung physischer Gewalt, von Todesopfern und Verletzten sowie ihrer Zahl und zur Umgehung des Ausdrucks ‚ war ‘ etc.
Politische Aussagen enthalten geradezu zwangsläufig Benennungen bzw. Charakterisie- rungen von Vertretern divergierender Meinungen und Werte, konkurrierender Parteien oder im Falle militärischer Auseinandersetzungen weiterer Konfliktteilnehmer. Es ist ein- leuchtend, dass die Beschönigung zur Beschreibung des Feindes eher nicht zur Anwendung kommt:
Gleichwohl kann als sicher gelten, daß im öffentlichkeitswirksamen politischen Be- reich Unaufrichtigkeiten und krasse Lügen, leichtfertige Versprechungen und entstell- te Tatsachen, simplifizierende, emotionalisierende und polarisierende Pseudoargu- mentationen, Diffamierungen Andersdenkender usw. zu den gebräuchlichen Sprach- praktiken zählen.
(Sanders 1992: 129)
Zur Abgrenzung vom Anderen wird, wie Sanders beschreibt, v. a. dessen Abwertung angestrebt. Ein mächtiges sprachliches Mittel in diesem Sinne stellt der Dysphemismus dar, „an expression with connotations that are offensive either about the denotatum or the audience, or both, and it is substituted for a neutral or euphemistic expression for just that reason“ (Allan und Burridge 1991: 26). Dysphemistische Sprachverwendung zielt darauf ab, „ jemanden zu kränken, Mißbilligung zu äußern oder etwas verächtlich zu machen“ (Zöllner 1997: 392).
Dysphemismen und Euphemismen unterscheiden sich weder konzeptionell noch funktio- nell. In beiden Fällen strebt der Sprecher respektive Schreiber danach, „die für ihn und seine Absichten günstigen Aspekte einer Information hervorzuheben und so den Hörer zu manipulieren“ (ebd.: 392). Abwertungen werden zudem weitgehend nach denselben Mustern wie Beschönigungen gebildet (vgl. 2.3), die Verfahrensweise vollzieht sich dabei sozusagen nur unter umgekehrten Vorzeichen. Euphemismus und Dysphemismus sind da- mit als weitestgehend antagonistisch aufzufassen und markieren die Verteidigungslinien politischer Auseinandersetzungen.4
Militärische Konflikte rufen deswegen besonders viele aufwertende und abwertende Um- schreibungen hervor, weil jeder Aspekt des Krieges - Waffen, Beteiligte, Zerstörungen, Motive selbst das Sprechen über den Krieg - in diesen semantischen Gefechten als Mu- nition verwendet wird. Und dies nicht nur partiell, von einer beteiligten Gruppierung, sondern sowohl „von Seiten der Kriegsteilnehmer zur Verhüllung des Schrecklichen, das in vielen Fällen nur durch grob-witzige Umschreibungen zu bewältigen zu sein scheint“, als auch „von Seiten der Kriegsführenden, um das Geschehen in seiner Kraßheit zu ver- schleiern“ (Luchtenberg 1985: 44).
3. Der Afghanistan-Konflikt - politisch-historischer Kontext
Wenn Gott eine Nation bestrafen will, dann lässt er sie in Afghanistan einfallen.
(Geflügeltes Wort im asiatischen Raum)
Die Islamische Republik Afghanistan befindet sich - in direkter Nachbarschaft zu den Großmächten Iran, Pakistan und der Volksrepublik China gelegen - geografisch gesehen genau an der Schnittstelle von Süd- und Zentralasien. Im Norden grenzt das Land zu- dem an die ehemaligen Sowjet-Republiken Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Mit einer Gesamtfläche von ca. 652.225 km2 schmiegt sich der Binnenstaat um die süd- östlichen Ausläufer des von unzähligen Schluchten zerfurchten Hindukusch-Gebirges. Die Region, momentan von ca. 28,4 Mio. Menschen bewohnt, gilt als eine der ärmsten und kärgsten der Welt. Fast drei Viertel der bergigen Landschaft sind für menschliche Sied- lungen ungeeignet. Schetter zufolge wird das Gebiet in der Geschichtsschreibung deshalb auch als militärisches und wirtschaftliches Durchgangsland bzw. Highway of Conquest bezeichnet:
Tatsächlich ist die Historie dieser Region dadurch geprägt, dass immer wieder unterschiedlichste Völker von Zentralasien aus in diesen Landstrich einfielen, sich hier für kurze Zeit niederließen und dann weiter Richtung Indischen Subkontinent zogen oder von neuen Eindringlingen dorthin abgedrängt wurden.
(Schetter 2009a: 21)
In jüngerer Zeit, besonders im 19. und 20. Jhd., hat Afghanistan auffällig oft weltpoli- tische Geschichte geschrieben, worin Schetter (2004) sogar einen Grundzug in der Ent- wicklung des Landes sieht. Bereits mit dem Zerfall des Durranii1 -Reiches, welches „als der eigentliche Ursprung des modernen Afghanistan“ (Schetter 2009a: 23) gilt, schickten sich am Ende des 18. Jhds. zwei Weltmächte an, das entstandene Vakuum auszufüllen: Von Norden aus griff das expandierende russische Zarenreich nach Zentralasien hinein, während die Briten die Monguln-Herrschaft auf dem Indischen Subkontinent ablösten (vgl. ebd.: 25).
Um den russischen Vormarsch zu stoppen, suchten die Briten das Land unter ihre Kon- trolle zu bringen, stießen jedoch auf erbitterten Widerstand der in der Region siedelnden paschtunischen Volksstämme. Die folgenden blutigen Kriege von 1839-1842 sowie 1878/79 sollten u. a. den bis heute gültigen Grenzverlauf zwischen Afghanistan und Pakistan be- siegeln. Das Land der Afghanen wandelte sich in dieser Zeit zu einer entmilitarisierten Zone (EMZ) zwischen den verfeindeten Kolonialmächten. Das sogenannte Great Game2 steht heute beispielhaft für ein von imperialistischen Bestrebungen geprägtes Zeitalter (vgl. Schetter 2004: 13). Zu Beginn des 20. Jhds. vereinbarten beide Seiten, sich nicht mehr in die Angelegenheiten des Landes am Hindukusch einzumischen und ließen ihren absurden Wettbewerb um Einfluss und Macht ruhen (vgl. Baberowski 2009: 31). Die Briten hielten jedoch ihre Stellung, bis im Dritten Anglo-Afghanischen Krieg, der 1919 ausgefochten wurde, dann die waffentechnisch unterlegenen Stammeskrieger die vollstän- dige Unabhängigkeit Afghanistans erkämpften.
In jeder der drei Auseinandersetzungen mit den Paschtunen musste das Vereinigte Königreich verheerende Verluste hinnehmen. Über die traumatische Niederlage bei Chord Kabul am 6. Januar 1842 dichtete Theodor Fontane in seinem Trauerspiel von Afghanis tan: „Mit dreizehntausend der Zug begann, // Einer kam heim aus Afghanistan“ (Fontane 1898: 91). Doch es sollte nicht das letzte Mal sein, dass „eine hoch gerüstete Militärmacht“ versuchte, „mit konventionellen Mitteln gegen überwiegend dezentral organisierte und mit Guerillataktik operierende Kräfte vorzugehen“ (Orywal 2009: 183).
3.1. Die sowjetische Besatzung - Afghanistan im Kalten Krieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss sich Afghanistan der Bewegung der Blockfreien an, einer internationalen Organisation von Staaten, die weder der NATO noch dem War- schauer Pakt beigetreten waren. Im anschließenden Kalten Krieg befand sich Kabul wie- der im Grenzbereich zweier Supermächte. Wie Schlagintweit schreibt, lavierte die Regierung jedoch „lange Zeit so geschickt zwischen den Blöcken, dass beide Seiten großzügige Entwicklungshilfe leisteten“ (Schlagintweit 2009: 40).
Im Verlaufe dieser ‚Goldenen Jahre‘ vergrößerte sich allerdings die Abhängigkeit des Landes von der Sowjetunion, woraufhin selbstredend auch der Einfluss kommunistischer Ideologie zunahm. 1978 schließlich wurde der amtierende Präsident Da’ud von revolu- tionären Truppen ermordet und Mohammed Taraki, Gründungsmitglied der Demokra- tischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), zum Ministerpräsidenten ernannt. Die Saur- Revolution, so berichtet es Schlagintweit, versetzte den gesamten Staat in Aufruhr:
In ganz Afghanistan brachen blutige Kämpfe zwischen islamischen Kräften und den Truppen der kommunistischen Regierung aus. Die religiösen Milizen konnten sich auf die Bevölkerung stützen und gewannen immer mehr an Boden. Flügelkämpfe schwächten die kommunistische Partei, Präsident Taraki wurde ermordet.
(ebd.: 45)
Der folgende Machthaber Hafisullah Amin, der Führer der DVPA, schlug einen prowestlichen Kurs ein. Daraufhin marschierte im Dezember 1979 die Rote Armee in Afghanistan ein, liquidierte Amin und ersetzte ihn durch Babrak Kamal.
Infolge der sowjetischen Intervention griffen die Proteste in Afghanistan weiter um sich. Der Widerstand gegen die Besatzer wurde zum Dschihad (dt. etwa ‚Anstrengung‘ oder ‚Kampf‘) erklärt. Die USA sahen in den Mudschaheddin (dt. ‚derjenige, der Heiligen Kampf betreibt‘) „Freiheitskämpfer, die sich für eine unabhängige Demokratie in Af- ghanistan einsetzten“ (Schwarz 2002: 115). Zwischen 1980 und 1992 finanzierten sie die Versorgung und Ausbildung der Gotteskrieger mit ca. vier bis fünf Milliarden US-Dollar (vgl. Rashid 2001: 56). Waffen und Geld wurden über den pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) verteilt, die CIA schulte die Dschihadisten in der Gueril- lataktik (vgl. Schwarz 2002: 115f.).
Wie Chiari deutlich macht, bildeten die Parteien, Stämme und Gruppen des Widerstandes zwar immer wieder rasch wechselnde Allianzen, doch verfügten sie über keine gemeinsame Vision für die Zukunft. Vielmehr vereinte sie die Ablehnung einer fremden, nicht-muslimischen Armee im eigenen Land, die Bekämpfung der kommunistischen Zentralregierung in Kabul, die mit Unterstützung der Sowjetunion die Idee eines modernen Zentral- staates auf ihre Fahnen schrieb, sowie nicht zuletzt die Verteidigung traditioneller Lebensweise und Kultur.
(Chiari 2009a: 60)
In den 1980er Jahren weiteten sich die Unruhen auf alle Landesteile aus. Die sowjeti- sche Armee antwortete mit militärischer Härte und setzte Kampfhubschrauber ein. Diese wurden jedoch alsbald von den Mudschaheddin mit amerikanischen Flugabwehrraketen beschossen (vgl. ebd.: 69). Der Konflikt entwickelte sich zu einem Stellvertreterkrieg der verfeindeten Blockmächte auf afghanischem Boden. Erst im April 1988 wurde ein vom Kreml angestrebter Rückzug im von den Regierungen Afghanistans, Pakistans, der So- wjetunion und der USA unterzeichneten Genfer Abkommen besiegelt und auf den Februar 1989 datiert. Der Krieg hatte 13.310 sowjetischen Soldaten das Leben gekostet, 35.478 wurden verwundet, 311 blieben vermisst (vgl. Schwarz 2002: 123). Auf afghanischer Sei- te fanden 1,3 Mio. Zivilisten und Kämpfer den Tod. Mehr als fünf Mio. Menschen - ein Drittel der Vorkriegsbevölkerung - flüchteten nach Pakistan oder in den Iran. Weitere zwei Mio. Binnenflüchtlinge sind teilweise bis heute nicht in ihre angestammten Sied- lungsgebiete zurückgekehrt (vgl. Chiari 2009a: 71).
3.2. Afghanistan nach dem Zusammenbruch der UdSSR
Da die Mudschaheddin von den Verhandlungen zum Genfer Friedensvertrag ausgeschlossen blieben, setzten sie nach dem Abzug der Roten Armee ihre Angriffe auf die weiterhin durch die UdSSR unterstützte Zentralregierung fort. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 konnte sich das kommunistische DVPA-Regime unter Karmals Nachfolger Mohammed Nadschibullah nicht mehr an der Macht halten. Im Anschluss wurde eine innerafghanische Neuordnung durch den Einfluss angrenzender Staaten erschwert. „Dem Afghanistan-Konflikt“, konstatiert Mielke,
fehlte nach dem Rückzug der USA und der Sowjetunion somit zwar die weltpoli- tische Dimension des Kalten Krieges, er verkörperte aber auf regionaler Ebene die rivalisierenden Vorstellungen der unterschiedlichen Nachbarstaaten zum Aufbau des afghanischen Staates.
(Mielke 2009: 77)
Nur zwei Monate, nachdem die Mudschaheddin die Macht übernommen hatten, zerfiel das Land in Einflussbereiche mehrerer Konfliktparteien, die vom jeweilig angrenzenden Staat protegiert wurden (vgl. ebd.). Der folgende Bürgerkrieg konzentrierte sich auf die damals zwei Mio. Einwohner zählende Hauptstadt Kabul. 60.000 bis 80.000 Menschen fanden im Zuge der Kampfhandlungen den Tod. Mehr als eine halbe Mio. floh bereits im ersten Kriegsjahr vor den Gefechten. 1996 lebten nur noch zwischen 300.000 und 600.000 Menschen in der Stadt (vgl. ebd.: 79). Die Auseinandersetzungen entwickelten vor dem Hintergrund des Zerfalls des politischen Systems und der Schwäche staatlicher Struk- turen eine Eigendynamik, sodass die terrorisierte Bevölkerung ihre Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden zunehmend an die seit 1994 vordringende Islamische Talibanbewegung knüpfte (vgl. ebd.: 80f.).
Die v. a. vom ISI unterstützten Taliban konnten bis zum Sommer 1996 weite Teile Af- ghanistans erobern, darunter die Hauptstadt, und drängten die vormals verfeindeten Parteien des Bürgerkriegs, die sich inzwischen zur Allianz für die Rettung des Vaterlan- des, auch Nordallianz genannt, zusammengeschlossen hatten, weit in die nordöstlichen Provinzen um Masar-e Scharif, Kundus und Faisabad zurück (vgl. Schetter 2009b: 83). Es gelang ihnen, in dem vom Krieg geschüttelten Land die öffentliche Sicherheit wieder- herzustellen. Die Talibanbewegung distanzierte sich von den Mudschaheddin und strebt bis heute danach, Afghanistan in einen islamischen Gottesstaat umzuwandeln. Zu die- sem Zweck wurden besonders die zentralen Städte, deren Einwohner sich im Vergleich zur Landbevölkerung durch eine liberalere Lebensweise auszeichneten, unter die Aufsicht strenger Sittenwächter gestellt, welche die Einhaltung der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islams, und der Regeln des paschtunischen Rechts- und Ehrenkodex Paschtunwali mit aller Härte durchsetzten (vgl. ebd.: 84f.).
Die dogmatische Interpretation des Korans erschwerte ein geordnetes Verhältnis zu den Vereinten Nationen. Das Hinterland Afghanistans entwickelte sich zur Drehscheibe eines globalisierten Netzwerks militanter Islamisten mit dem Namen Al-Kaida (dt. ‚Daten- bank‘). Dessen Anführer Osama bin Laden wurde beschuldigt, die Anschläge auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi im August 1998 geplant und veranlasst zu haben. Da die Taliban sich weigerten ihn auszuliefern, verhängte die UNO Sanktionen ge- gen die Islamische Republik. Mullah Omar, Führer der Talibanbewegung, ließ daraufhin am 10. März 2001 die Buddha-Statuen von Bamian sprengen, die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählten (vgl. ebd.: 85f.).
3.3. Der 11. September 2001 und die Folgen
Am 11. September 2001 entführten 19 Al-Kaida-Mitglieder vier Passagiermaschinen auf Inlandsflügen über US-amerikanischem Territorium, zwei lenkten sie in die beiden Türme des New Yorker World Trade Centers (WTC), eine schlug in das Pentagon bei Washing- ton D. C. ein und die letzte wurde über Shanksville, Pennsylvania gezielt zum Absturz gebracht. Die Anschläge forderten insgesamt über 3.000 Todesopfer und mindestens doppelt so viele Verletzte.3 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verurteilte am darauf folgenden Tag in der Resolution 1368 mit allem Nachdruck die grauenhaften Terroranschläge, die am 11. September 2001 in New York, Washington und Pennsylvania stattgefunden haben, und betrachtet diese Handlungen, wie alle internationalen terroristischen Handlungen, als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.
(UNO-Sicherheitsrat 2003: 315)
Des Weiteren wurden alle UNO-Staaten dringend zur Zusammenarbeit aufgefordert, „um die Täter, Organisatoren und Förderer dieser Terroranschläge vor Gericht zu stellen“ (ebd.: 316). Damit wurden den USA implizit „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ (Verlag C. H. Beck 2010: 12) zugesprochen, wie es „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ in Artikel 51 der UN-Charta verankert ist.
In der Folge griff zum bisher ersten und einzigen Mal der im Nordatlantikpakt festgelegte Bündnisfall. Der NATO-Rat beschloss noch am selben Tag that if it is determined that this attack was directed from abroad against the United States, it shall be regarded as an action covered by Article 5 of the Washington Treaty, which states that an armed attack against one or more of the Allies in Europe or North America shall be considered an attack against them all.
(NATO 2001)
Auf die am 20. September 2001 erneut von den USA geforderte Auslieferung Osama bin Ladens reagierte die Regierung in Kabul mit Verzögerungspolitik. Die Vereinigten Staaten initiierten daraufhin die Coalition against Terrorism, ein Bündnis, dem neben den NATO-Mitgliedern und Russland u. a. auch den Taliban nahestehende Länder wie Pakistan und Saudi-Arabien angehören (vgl. Schetter 2009b: 86). Die militärische Groß- offensive im Kampf gegen den internationalen Terrorismus wurde unter dem Namen OEF (dt. ‚andauernde Freiheit‘) gestartet. Ihr Auftrag lautet bis heute, die „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unter- stützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten“ (Deutscher Bundestag 2001a: 3).
Ziele wurden in Zentral- und Südostasien und in Nord- und Ostafrika ausgemacht, neben den Philippinen (OEF-P), dem Horn von Afrika (OEF-HOA), der Sahara (OEF- TS), Kirgisien und Georgien geriet v. a. die Region um das zentralasiatische Hindukusch- Gebirge ins Visier der Koalition. Am 07.10.2001 begann die US-Armee Stellungen der Taliban zu bombardieren. Mit logistischer Unterstützung der Amerikaner und Briten ver- suchten die Streitkräfte der Nordallianz im Rahmen einer Bodenoffensive die Linien des Feindes zu durchbrechen. Noch im November desselben Jahres brach der Widerstand zu- sammen. Die Taliban wurden gestürzt und in die Bergregionen im pakistanischen Grenz- gebiet zurückgedrängt (vgl. Schetter 2009b: 86). Im Rahmen dieser Operation kämpfen bis heute tausende Soldaten für die ‚andauernde Freiheit‘ Afghanistans.4
Mit dem Petersberger Abkommen - benannt nach dem Petersberg in Bonn - wurde unter der Führung der UNO eine demokratische Neuausrichtung des Landes eingeleitet und eine Übergangsregierung um den späteren Präsidenten Hamid Karzai eingesetzt. Diese nahm am 22. Dezember 2001 ihre Arbeit auf. Zu ihrem Schutz autorisierte der UNO-Sicherheitsrat auf Empfehlung der Bonner Konferenz in der Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001
die Einrichtung einer Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe [...] um die Afgha- nische Interimsverwaltung bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung zu unterstützen, damit die Afghanische Interimsverwaltung wie auch das Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld tätig sein kön- nen.
(UNO-Sicherheitsrat 2003: 297)
Das UNO-Mandat wurde mehrmals verlängert und inhaltlich modifiziert, der Einsatz territorial in vier Phasen auf alle Landesteile ausgeweitet.
Das Hauptquartier der ISAF befindet sich in Kabul und koordiniert seine Tätigkeiten mit der afghanischen Regierung, der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UN- AMA), internationalen Organisationen und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Seit Januar 2003 wurden über das gesamte Land 28 Provincial Reconstruction Teams (PRTs) verteilt,
kleine Gruppen, die sich aus militärischem und zivilem Personal zusammensetzen und in den Provinzen Afghanistans mit dem Ziel eingesetzt werden, sichere Rah- menbedingungen für Hilfsprogramme zu schaffen sowie die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau in Gebieten mit anhaltenden Konflikten bzw. hohen Sicherheits- risiken zu unterstützen.
(Maley 2007)
Beispiele für die Aufgaben der Teams sind etwa die Instandhaltung öffentlicher Einrich- tungen wie Behörden oder Bildungsstätten, der Ausbau von Versorgungseinrichtungen sowie Verkehrswegen und Maßnahmen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Angeleitet werden die PRTs dabei von einem der insgesamt fünf übergeordneten Regional Commands (RCs), die außerdem die Überwachung von Logistik und Kommandoführung übernehmen.
Einhergehend mit der Expansion des Mandats vergrößerte sich auch der Verantwortungs- bereich der ISAF: Ihr unterstanden nun auch zunehmend militärische Verbände, die im Rahmen der OEF gekämpft hatten, seit Sommer 2006 auch das Gros der Truppen im umkämpften Süden und Südosten Afghanistans. Hatte der Einsatz einst mit einer Perso- nenstärke von 5.000 Mann begonnen, erhöhte sich in der Folge die Anzahl der beteiligten Streitkräfte deutlich, sodass aktuell 132.203 Soldaten und Soldatinnen aus 48 Staaten zur Truppe zählen.5
3.4. Neuordnung Afghanistans und aktuelle Entwicklung
Unter der Obhut der ISAF wurde im Juni 2002 Hamid Karzai in einer eilig einberufe- nen Loya Dschirga - die Dschirga stellt in der paschtunischen Stammesgesellschaft „das wesentliche Forum dar, in dem Entscheidungen und Konfliktlösungen herbeigeführt wer- den“ (Schetter 2004: 25) - als Präsident der Übergangsregierung bestätigt. Am 4. Januar 2004 verabschiedete eine weitere konstituierende Loya Dschirga die neue Verfassung Afghanistans, die dem Land nicht nur demokratische Prinzipien setzen sollte, sondern u. a. auch die Gleichstellung von Mann und Frau vorsieht.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2004 bzw. 2005 brachten den Petersberger Prozess zum Abschluss, doch damit herrschte nicht zwangsläufig Frieden am Hindukusch. Wie Schetter feststellt, hatte der Sturz der Taliban nicht das Ende des AfghanistanKonfliktes eingeläutet, sondern nur eine neue Runde der Konfliktaustragung: Die starken Einzelinteressen örtlicher Machthaber, eine blühende Drogenökonomie sowie verbreitete Korruption und Patronage behinderten den Wiederaufbau, und Süd- und Südostafghanistan wurden zum Schlachtfeld eines neuen Krieges - diesmal unter Beteiligung der USA und der NATO.
(Schetter 2009b: 89)
Karzais Macht blieb auf Kabul begrenzt, konkurrierende Warlords konnten den Rest des Landes unter sich aufteilen. Der zunehmenden Destabilisierung setzte die internationale Gemeinschaft die Einrichtung der bereits angesprochenen PRTs entgegen (vgl. ebd.: 92). Die Alliierten werden jedoch durch die seit 2005 in dem undurchsichtigen Umfeld wieder- erstarkten Taliban militärisch immer wieder herausgefordert. Die islamistische Bewegung entwickelte sich, so fährt Schetter fort, zu einem Auffangbecken der Unzufriedenen:
Talib zu sein, avancierte nun im Unterschied zu den 1990er-Jahren zu einem Lifestyle, der sich jenseits ethnischer, religiöser oder sozialer Grenzen gegen jegliche Einmi- schung von außen richtete - ob durch militärische Präsenz, durch die Vernichtung von Schlafmohnfeldern oder durch die Einrichtung von Mädchenschulen.
(ebd.: 95)6
Als Reaktion auf den zunehmenden Widerstand erhöhten die NATO-Staaten ihre Kon- tingente und die USA weiteten ihre Militäroperationen auch in die Bergregionen der afghanisch-pakistanischen Grenze aus (vgl. ebd.: 94f.). Nach Einschätzung von Chiari tobte 2008 in den Südprovinzen Afghanistans ein „regelrechter Krieg“ (Chiari 2008: 101). In den anderen Teilen des Landes und selbst in der Hauptstadt nahm die Gewalt deutlich zu (vgl. ebd.: 101).7 Der Gegner operierte dabei weder systematisch noch abgestimmt und konnte nur als eine Vielzahl sich permanent verändernder Interessengruppen beschrieben werden (vgl. ebd.: 104).
Angesichts der sich zuspitzenden Lage geriet der Aufbau der Afghan National Army (ANA) sowie eines funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesens zunehmend ins Stocken (vgl. ebd.: 102). Auch die Arbeit der über 1.000 seit 2001 nach Afghanistan geströmten Hilfs- und Entwicklungsorganisationen wurde beträchtlich beeinflusst. Der von der Zivilbevölkerung erhoffte Wiederaufbau stand und steht dabei vor denselben Hindernissen, die eine Weiterentwicklung in der Geschichte schon so oft haben scheitern lassen:
In Afghanistan etablierte sich eine Instabilität auf hohem Niveau, die ihre Ursa- che seit Jahrhunderten in den ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen hat. Der abweisende Naturraum, die Konflikte zwischen Stadt und Land, der extreme Partikularismus, die kulturelle Heterogenität wie auch die Einmischung von außen werden wohl auch zukünftig die Entwicklung des Landes beeinflussen.
(Schetter 2009b: 97)
3.5. Die Bundeswehr in Afghanistan
Aufgrund der Mitgliedschaft in der NATO sahen mit den Anschlägen in den Vereinigten Staaten die Abgeordneten des Bundestages auch die BRD einer akuten Gefährdung aus- gesetzt und erklärten deshalb am 7. November 2001, dass der Einsatz militärischer Mittel unverzichtbar sei, „um die terroristische Bedrohung zu bekämpfen und eine Wiederholung von Angriffen wie am 11. September 2001 nach Möglichkeit auszuschließen“ (Deutscher Bundestag 2001a: 2), und stimmten „der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräf- te an der Operation ENDURING FREEDOM zu“. Der aus 3.900 Soldaten bestehende Einsatzverband übernahm in erster Linie die Überwachung und den Schutz der See- Verbindungslinien in den Gebieten um das Horn von Afrika und die Arabische Halbinsel (OEF-HOA).8 Das Mandat legitimierte allerdings Missionen in einem Gebiet von Zen- tralasien bis Nordost-Afrika, sodass Soldaten des im Geheimen operierenden Kommando Spezialkräfte (KSK) Seite an Seite mit den US-Verbündeten auch in Afghanistan kämpf- ten. Der deutsche Beitrag wurde mehrmals verlängert, das entsprechende Mandat soll nach einem Beschluss des Bundeskabinetts vom 10. November 2010 aber im Jahr 2011 offiziell auslaufen. Die Beteiligung wurde jedoch schon am 29. Juni 2010 eingestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Truppenstärke vor Afrika bereits auf zwischenzeitlich 1.400 bzw. letztlich 60 Mann zurückgefahren worden.
Auf die Resolutionen 1368, 1378 und 1383 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNSC) Bezug nehmend beantragte die vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder ge- führte Bundesregierung am 22. Dezember 2001 im Bundestag die Bereitstellung bewaff- neter Streitkräfte für die ISAF-Truppe in Afghanistan (vgl. Deutscher Bundestag 2001b).
1.200 Soldaten mit entsprechender Ausrüstung sollten in Kabul und Umgebung zum Ein- satz kommen. Die Stationierung war zunächst bis zum 20. Juni 2002 befristet, dauert aber bis zum heutigen Tage an. Die Personalobergrenze wurde sukzessive erhöht, mit dem Bundestagsmandat vom 30.10.2004 lag sie bei 2.250, mit dem vom 28.09.2005 wur- de sie auf 3.000 Soldaten und am 26.02.2010 schließlich auf 5.350 Soldaten hochgesetzt. Die BRD stellt nach den USA (90.000) und Großbritannien (9.500) momentan mit 4.909 Streitkräften das drittgrößte Kontingent im Rahmen der ISAF-Mission.9 Das Mandat wurde zuletzt am 28.01.2011 durch den Bundestag um weitere zwölf Monate verlängert.10 Darin wurde erstmalig auch eine Abzugsperspektive verankert, die eine geordneten Rückzug der Bundeswehr ab Ende 2011 in Aussicht stellt. Die afghanische Regierung soll bis Anfang 2015 schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit des Landes am Hindukusch übernehmen (vgl. Deutscher Bundestag 2011a: 4).
Am 1. Juni 2006 übernahm Deutschland als Lead Nation die Führung des RC-North mit seinen neun Provinzen und einer Fläche von mehr als 162.000 km2. Von Masar-e Scharif aus werden sowohl die beiden deutschen PRTs bei Kundus und Faisabad (Provinz Bad- achschan) als auch die jeweils unter schwedischer (Masar-e Scharif), ungarischer (Pol-e Chomri), norwegischer (Maimaneh) und türkischer Führung (Scheberghan) stehenden re- gionalen Wiederaufbauteams in der Nordregion angeleitet. Im November 2005 übernahm die Bundeswehr das Kommando über den Flughafen der Stadt. Kräfte der Luftwaffe wur- den hier bereits vor der Indienststellung des Einsatzgeschwaders im Mai 2006 eingesetzt.
Mit einem Bundestagsbeschluss vom 8. Februar 2007 sind zudem sechs Mehrzweckkampfflugzeuge vom Typ Tornado Recce in Masar-e Scharif stationiert worden. Im Gegensatz zum restlichen Geschwader, konnten diese als „Aufklärungsflugzeuge [...] im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich eingesetzt“ (Deutscher Bundestag 2007: 2) und direkt vom Hauptquartier der ISAF befehligt werden. Die Tornados wurden am 22. November 2010 wieder aus Afghanistan abgezogen.
Deutschland hat, wie bereits erwähnt, die Verantwortung für zwei der Regionalen Wie- deraufbauteams übernommen. Die PRTs bestehen sowohl aus einer zivilen (Diplomaten, Polizeiausbilder und Wiederaufbauhelfer) als auch aus einer militärischen Komponente. Der zivile Leiter ist Angehöriger des Auswärtigen Amtes (AA). Ebenfalls zur zivilen Seite eines PRTs gehören Vertreter des Bundesinnenministeriums (BMI) und des Bundesmi- nisteriums für Entwicklung und Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ).
In Faisabad ist die Bundeswehr seit September 2004 aufgestellt. Im dortigen PRT verfügt sie neben Stabs-, Versorgungs- und Verwaltungskomponenten über Schutz-, Sanitäts- und Militärpolizeikräfte sowie Experten zur Kampfmittelbeseitigung. In einem nahegelegenen Feldlager wird ein Bataillon der ANA durch deutsche Soldaten in Ausbildung und Einsatz unterstützt.
Bereits seit Oktober 2003 tragen Streitkräfte der BRD die Verantwortung für das deutlich größere PRT in Kundus. Seine Kernaufgaben sind laut Bundeswehr der Wiederaufbau und die Herstellung der Sicherheit in der Region. Auch hier widmen sich die Deutschen speziell der Aus- und Weiterbildung der afghanischen Armee. Das militärische Einsatzkontingent Kundus besteht aus einem Stab mit den üblichen Führungsfunktionen sowie Unterstützungs- und Schutzkräften. Zusätzlich gibt es das Ausbildungs- und Schutzbataillon Kundus, das als eigenständiges Manöver-Element eingesetzt werden kann.
Darüber hinaus werden seit Februar 2002 etwa 100 Soldaten zum Betrieb eines strategischen Lufttransport-Stützpunktes auf dem Flugplatz im usbekischen Termes, nahe der afghanischen Grenze, eingesetzt. Für die Einsatzkontingente der ISAF ist er das Tor nach Afghanistan, über das der Lufttransport für die Kontingentwechsel, Verpflegung, Folgeversorgung und Betreuung der Truppe sichergestellt wird. Insgesamt wurden in Afghanistan zwischen dem 27.12.2001 und Ende 2010 58.411 t Material und 659.016 Passagiere durch die deutsche Luftwaffe transportiert. Im Jahr 2011 zeichnen die Deutschen für 50 Prozent der NATO-Lufttransporte im Land verantwortlich (vgl. Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung 2011).
Seit dem 1. Juli 2008 hat die Bundeswehr im Norden Afghanistans auch die Aufgaben der Quick Reaction Force (QRF) übernommen. Dazu gehören u. a. Patrouilleneinsätze, der Schutz von Konvois, Evakuierungsoperationen sowie der Einsatz als taktische Reserve.
Des Weiteren unterstützt die Bundeswehr die UNAMA. Für den Auf- und Ausbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Förderung der nationalen Versöhnung stellt die Bundesrepublik Deutschland (BRD) einen Soldaten als militärischen Berater in Kabul.
[...]
1 Siehe dazu auch den Vortrag Die Wahrheit und was wirklich passierte von Frank Rieger und Ron auf dem 24. Chaos Communication Congress (24C3) vom 29.12.2007, im Internet unter http://events.
ccc.de/congress/2007/Fahrplan/events/2334.en.html (Stand: 16.04.2011) zu finden.
2 Eigentlich Karl Theodor Xerox Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg, hier und in der Folge aber kurz: Karl-Theodor zu Guttenberg.
1 Dieser Einteilung muss ergänzend noch die politisch motivierte Umgehung bestimmter sprachlicher Ausdrücke, von der noch explizit in Abschnitt 2.4 die Rede sein wird, hinzugefügt werden.
2 Obwohl Beschönigungen prinzipiell den Charakter einer Umschreibung aufweisen, dürfen sie jedoch nicht der entsprechenden Subkategorie der Tropen, den Periphrasen, untergeordnet werden. Vielmehr kann jede Form uneigentlicher Redeweise, also Metapher, Litotes, Periphrase usw. in euphemistischer Funktion zur Anwendung kommen. Vgl. zur Bildungsweise von Euphemismen auch Abschnitt 2.3. Zur Trennung von sprachlicher Realisationsform und Funktion siehe dieser Abschnitt unten.
3 Für eine erweiterte Differenzierung von Euphemismen nach inhaltlichen Kriterien siehe bspw. Luchtenberg 1985: 37ff.
4 Dysphemismen werden nicht nur im politischen Rahmen, sondern auch in der Alltagssprache verwendet. Auffällig ist dabei, dass die Abwertungen häufig identisch mit tabuisierten sprachlichen Einheiten sind oder zumindest auf Tabubereiche referieren, die in höflichen Sprechsituationen verstärkt verhüllt werden (vgl. Zöllner 1997: 396). In dieser Arbeit soll nicht ausführlicher auf umgangssprachliche Dysphemismen eingegangen werden, für weitere Aspekte siehe ebd.: 392ff.
1 Die Schreibweise der Eigennamen und Bezeichnungen orientiert sich hier und im folgenden an Chiari (2009b). Zitate wurden in der Originalform belassen.
2 Bereits diese Bezeichnung, die in der westlichen Geschichtsschreibung allgemein anerkannt ist, hat natürlich einen beschönigenden Charakter, weil sie den Konflikt verniedlicht. Zur euphemistischen Funktion solcher Bezeichnungen für Kampfhandlungen siehe 2.5.
3 Die Anzahl divergiert je nach Zählweise. Die Internetseite www.september11victims.com zähl- te bis zum 18.12.2007 2.996 Tote (vgl. http://web.archive.org/web/20071218170906/http: //www.september11victims.com/september11victims/STATISTIC.asp (Stand: 16.04.2011)). Inzwi- schen werden oftmals auch die Opfer der Spätfolgen des 11. September, z. B. Krebs, der auf den während der Aufräumarbeiten eingeatmeten giftigen Staub zurückzuführen ist, hinzugerech- net, wodurch sich entsprechend höhere Angaben ergeben. Der Großteil der Opfer hatte die US- amerikanische Staatsbürgerschaft, außerdem starben 68 Menschen aus 40 weiteren Nationen, darun- ter sechs Deutsche (vgl. http://web.archive.org/web/20071116152151/www.september11victims. com/september11victims/COUNTRY_CITIZENSHIP.htm (Stand: 16.04.2011)). Eine genaue Statistik über die an diesem Tag Verwundeten liegt nicht vor.
4 Aufgrund der zunehmenden Verschmelzung mit den Streitkräften der ISAF ist eine genaue Angabe der aktuellen Truppenstärke der OEF nicht möglich. Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) bezifferte sie im Oktober 2007 auf über 8.000 Soldaten (vgl. Haydt u. a. 2007: 19).
5 Stand: 04.03.2011 (vgl. http://www.isaf.nato.int/images/stories/File/Placemats/PLACEMAT. MARCH%2004..pdf (Stand: 16.04.2011)). Die Angaben sind nur Näherungswerte, die tatsächliche An- zahl kann davon abweichen. Ab 2005 kontrollierte die ISAF neben Kabul und Umgebung und dem Norden auch das westliche Afghanistan, das Kontingent erhöhte sich dadurch auf über 9.000 Solda- ten. 2006 weitete sich der Verantwortungsbereich auch auf die südlichen und östlichen Provinzen aus und die Truppe wuchs auf über 30.000 Mann an. Im Februar 2010 waren ca. 85.795 Streikräfte aus 43 Ländern vor Ort, im August 2010 stationierten 47 Staaten 119.819 Soldaten bzw. Soldatinnen in Afghanistan. Neben den NATO-Staaten nehmen auch Nicht-NATO-Nationen des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats (EAPR) und gänzlich ungebundene Ländern wie z.B. Australien an der Mission teil. Die Schweiz und die Niederlande haben sich bereits wieder aus Afghanistan zurückgezogen, Kanada hat sein Ausscheiden für 2011 angekündigt, Polen für 2012, Dänemark und Großbritannien für 2015. Hinsichtlich der Abzugsperspektiven der Bundeswehr siehe Abschnitt 3.5.
6 Die Bezeichnung Lifestyle ist äußerst fragwürdig. Seine Ideale bzw. sein Land mit Waffengewalt zu verteidigen, wird an dieser Stelle damit gleichgesetzt, sich bspw. der HipHop-Bewegung anzuschließen oder die neuesten Schuhe zu kaufen. Es ist ein erster Hinweis auf den Versuch, dem Widerstand jegliche tiefere Motivation abzusprechen. Weiteres dazu in Abschnitt 4.4.2.
7 Vgl. http://www.icosmaps.net (Stand: 16.04.2011).
8 Für diese und die folgenden Angaben zu den Streitkräften der Bundeswehr siehe http://www.einsatz. bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/ (Stand: 16.04.2011).
9 Stand: 04.03.2011 (vgl. http://www.isaf.nato.int/images/stories/File/Placemats/PLACEMAT. MARCH%2004..pdf (Stand: 16.04.2011))
10 Da sich Deutschland nicht an dem im März 2011 begonnenen NATO-Einsatz im Rahmen des Bürger- kriegs in Libyen beteiligt, wurden zur Entlastung der involvierten Staaten 300 zusätzliche Streitkräfte der Bundeswehr für die Luftraumüberwachung an den Hindukusch entsandt. Die Mandatserweiterung gilt bis zum 31.01.2012 (vgl. Deutscher Bundestag 2011b).
- Arbeit zitieren
- David Blum (Autor:in), 2011, Euphemismen in der Politik am Beispiel der Legitimierung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196495