Wer sich dem Thema Neokonservatismus nähert und erste Recherchen unternimmt, stellt schnell fest, dass sich um diese Bewegung viele Mythen ranken, manche wahr, die meisten aber schlicht übertrieben. Der Mythos, es handle sich bei den Neocons um eine „jüdische Lobby“, die im Weißen Haus die Interessen Israels vertritt, ist ebenso unwahr wie die Behauptung, nach dem 11.September 2001 habe eine „neokonservative Verschwörung“ die USA in den Irak-Krieg getrieben. Beschäftigt man sich eingehender mit dem Phänomen des Neokonservatismus, lassen sich die „Ammenmärchen“ schnell falsifizieren, und man stößt auf ein in höchstem Maße komplexes und heterogenes Gebilde. Der Neokonservatismus ist beispielsweise noch so jung, dass seine Gründungsväter noch am Leben sind und zum Teil noch ihre Meinung durch Buchveröffentlichungen oder Essays kundtun, wie es zum Beispiel bei Norman Podhoretz der Fall ist. Daneben steht eine zweite Generation von Neocons, die sich unter anderen politischen Rahmenbedingungen entwickelte als ihre Vorgänger. Wer den Neokonservatismus zum Gegenstand einer politikwissenschaftlichen Untersuchung macht, muss sich dieser Heterogenität stets bewusst sein. Da eine umfassende Behandlung den Rahmen einer Magisterarbeit sprengt, wurde das Thema auf die neokonservativen Zielvorstellungen einer amerikanischen Außenpolitik eingegrenzt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass der Neokonservatismus ursprünglich ausschließlich innenpolitische Themen diskutierte und sich die Ansichten der Neocons erst im Laufe der Sechziger Jahre internationalisierten. Diesem Wandel wird hier Rechnung getragen, indem als erster neokonservativer Text ein Artikel von Norman Podhoretz aus dem Jahre 1966 herangezogen wird, der quasi eine Brücke vom alten zum neuen Themenschwerpunkt schlagen soll. Ziel der Arbeit ist der Nachweis einer Kontinuität im neokonservativen Denken seit den späten Sechzigern bis heute. Zu diesem Zweck wird ein eigener Ansatz ausgearbeitet, welcher anschließend durch die Bearbeitung von Quellen verifiziert werden soll. Um welche Quellen es sich dabei handelt, wird im folgenden Kapitel erläutert. Am Ende der Magisterarbeit sollen neben der Hauptfrage, ob es eine Kontinuität im Denken der Neocons gibt, auch die Frage „nach der Henne und dem Ei“ beantwortet werden. Haben die Neocons die Geschichte beeinflusst oder waren sie immer „Kinder ihrer Zeit“?
Gliederung
1. Vorüberlegungen
1.1. Einleitung
1.2. Methodik und Forschungsstand
2. Zentrale Grundüberzeugungen
2.1. Was ist Neokonservatismus?
2.2. Versuch einer Definition: Drei-Plus-Zwei-Formel
2.2.1. Das erste Axiom: „Neo-Manifest Destiny“
2.2.2. Das zweite Axiom: „Battleship America“
2.2.3. Das dritte Axiom: „From Evil Empire to the Axis of Evil“
2.2.4. Das Reaktive Moment
2.2.5. Das interdependente Moment
2.3. Abweichende Meinungen
3. Zeitabschnitt I: Kalter Krieg bis 1989/90 - „Klar definiertes Feindbild Kommunismus“
3.1. Exkurs: Was zeichnet die Ära des Kalten Krieges aus?
3.2. Wichtige Köpfe der frühen Bewegung
3.2.1. Irving Kristol
3.2.2. Norman Podhoretz
3.3. Untersuchung der Drei-Plus-Zwei-Formel anhand der Quellen
3.3.1. Podhoretz, “My Negro Problem - And Ours”
3.3.2. Dreimal Podhoretz in Buchform
3.3.3. Kirkpatrick, „Dictatorships and Double Standard“
4. Zeitabschnitt II: Zwischen 1989/90 und 9/11 - „Der unipolaristische Imperativ“ oder „Saddam Must Go!“
4.1. Exkurs: Think Tanks in den USA
4.2. Die neue Generation von Neocons
4.2.1. Charles Krauthammer
4.2.2. William Kristol, Robert Kagan
4.3. Untersuchung der Drei-Plus-Zwei-Formel anhand der Quellen
4.3.1. Krauthammer, “The Unipolar Moment”
4.3.2. Feindbild Irak im Spiegel der Quellen
4.3.3. Kagan, „A Retreat From Power“
5. Zeitabschnitt III: Zwischen 9/11 und 2003 - „Neocons in Hochform“
5.1. Die „Vollstrecker“: Paul Wolfowitz, Richard Perle
5.2. Untersuchung der Drei-Plus-Zwei-Formel anhand der Quellen
5.2.1. Kristol / Kaplan, „War Over Iraq“
5.2.2. Offensive Kriegspropaganda
5.2.3. Wolfowitz’ Forderung nach Präemption
6. Zeitabschnitt IV: Nach 2003: „Neocons in der Krise - Teilweiser Rückzug von oder stures Festhalten an alten Positionen?“
6.1. Einleitende Worte
6.2. Fukuyama, „Scheitert Amerika?“
6.3. Podhoretz, “World War IV”
7. Zusammenfassung und Ausblick
8. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Vorüberlegungen
1.1. Einleitung
Wer sich dem Thema Neokonservatismus nähert und erste Recherchen unternimmt, stellt schnell fest, dass sich um diese Bewegung viele Mythen ranken, manche wahr, die meisten aber schlicht übertrieben. Der Mythos, es handle sich bei den Neocons um eine „jüdische Lobby“, die im Weißen Haus die Interessen Israels vertritt, ist ebenso unwahr wie die Behauptung, nach dem 11.September 2001 habe eine „neokonservative Verschwörung“ die USA in den Irak-Krieg getrieben.
Beschäftigt man sich eingehender mit dem Phänomen des Neokonservatismus, lassen sich die „Ammenmärchen“ schnell falsifizieren, und man stößt auf ein in höchstem Maße komplexes und heterogenes Gebilde. Der Neokonservatismus ist beispielsweise noch so jung1, dass seine Gründungsväter noch am Leben sind und zum Teil noch ihre Meinung durch Buchveröffentlichungen oder Essays kundtun, wie es zum Beispiel bei Norman Podhoretz der Fall ist. Daneben steht eine zweite Generation von Neocons, die sich unter anderen politischen Rahmenbedingungen entwickelte als ihre Vorgänger.
Wer den Neokonservatismus zum Gegenstand einer politikwissenschaftlichen Untersuchung macht, muss sich dieser Heterogenität stets bewusst sein. Da eine umfassende Behandlung den Rahmen einer Magisterarbeit sprengt, wurde das Thema auf die neokonservativen Zielvorstellungen einer amerikanischen Außenpolitik eingegrenzt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass der Neokonservatismus ursprünglich ausschließlich innenpolitische Themen diskutierte und sich die Ansichten der Neocons erst im Laufe der Sechziger Jahre internationalisierten. Diesem Wandel wird hier Rechnung getragen, indem als erster neokonservativer Text ein Artikel von Norman Podhoretz aus dem Jahre 1966 herangezogen wird, der quasi eine Brücke vom alten zum neuen Themenschwerpunkt schlagen soll. Ziel der Arbeit ist der Nachweis einer Kontinuität im neokonservativen Denken seit den späten Sechzigern bis heute. Zu diesem Zweck wird ein eigener Ansatz ausgearbeitet, welcher anschließend durch die Bearbeitung von Quellen verifiziert werden soll. Um welche Quellen es sich dabei handelt, wird im folgenden Kapitel erläutert.
Am Ende der Magisterarbeit sollen neben der Hauptfrage, ob es eine Kontinuität im Denken der Neocons gibt, auch die Frage „nach der Henne und dem Ei“ beantwortet werden. Haben die Neocons die Geschichte beeinflusst oder waren sie immer „Kinder ihrer Zeit“?
1.2. Methodik und Forschungsstand
Als neokonservative Quelle wurden alle schriftlichen Äußerungen von ausgewiesenen Neocons bzw. schriftliche Äußerungen in neokonservativen Publikationsforen klassifiziert. Dazu gehören sowohl komplette Bücher als auch einzelne Artikel sowie Statements aus Denkfabriken. Die Quellenlage wurde in vier Zeitabschnitte aufgeteilt:
1) Kalter Krieg ab ca. 1965, 2) 1989/90 bis 11.Sept. 2001, 3) Zwischen den Terroranschlägen und dem Ausbruch des Irak- Krieges und 4) Heute. Eine Zweiteilung in vor und nach 1989/90 wurde vermieden, da es die Arbeit unübersichtlicher gestaltet hätte. Zwar stellt das Ende des Kalten Krieges eine viel stärkere Zäsur dar als 9/11 oder der Irak-Krieg, doch werden die einzelnen Kapitel offenbaren, dass aus Sicht der Neocons alle Einschnitte einen ähnlich hohen Stellenwert haben.
Die folgende Tabelle soll einen groben Überblick über die verwendeten Quellen geben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In den USA leben eine Vielzahl von Neocons, die ihre Meinungen artikulieren. Da sich nicht alle in dieser Arbeit berücksichtigen lassen, wurden solche Neocons als Quelle ausgewählt, deren Artikulationen sich in fast allen Zeitabschnitten wiederfinden. Dazu gehören Norman Podhoretz und William Kristol. Wenn möglich oder vorhanden, wurden ihre Quellen priorisiert. Außerdem benennt die Sekundärliteratur so genannte „Standardtexte“ des Neokonservatismus, die als wegweisend für die Bewegung angesehen werden. Aus diesem Grund finden sich hier Jeane Kirkpatrick, Charles Krauthammer und Paul Wolfowitz wieder.
Das Thema Neokonservatismus hat eine fast 30-jährige Rezeptionsgeschichte. Der erste Versuch, die Bewegung in ihrer Gesamtheit darzustellen, unternahm 1979 Peter Steinfels, wobei sein Buch den außenpolitischen Aspekt nicht behandelt, weshalb es für diese Arbeit kaum relevant war. Zu Zeiten des Kalten Krieges erschienen auch einige Abhandlungen aus Deutschland, unter anderem vom Josef Korsten, Frank Rieger, Helmut Dubiel und Jürgen Habermas.
Vor allem Korsten und Rieger wurden für die Erarbeitung des hier aufgestellten Ansatzes herangezogen. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass erst die Literatur nach 1989 den Neokonservatismus differenzierter darstellen konnte, da im Kalten Krieg der Antikommunismus als das prägende Charakteristikum übermäßig betont wurde. Von der Literatur ab 1990 sind auf amerikanischer Seite John Ehrman, Gary Dorrien und das Autoren-Duo Stefan Halper und Jonathan Clarke zu nennen, wobei Dorrien und Halper/Clarke mit dem Erscheinungsjahr 2004 am aktuellsten sind. Ihre Herangehensweise ist in erster Linie biographisch. Die aktuellste deutsche Monographie stammt von Bernd Volkert aus dem Jahr 2006. Sie versucht, ähnlich wie diese Magisterarbeit, die neokonservativen Zielvorstellungen durch eine Betonung der historischen Perspektive herzuleiten.
Die wichtigste Gemeinsamkeit der alten und neuen Sekundärliteratur besteht in der Betonung eines idealistischen Aspekts des Neokonservatismus, was sich auch im ausgearbeiteten Ansatz dieser Arbeit widerspiegelt. Ein Aspekt, der erst in der neuesten Forschung zur Sprache kommt, ist die skeptische Haltung der Neocons gegenüber den europäischen Mächten.
2. Zentrale Grundüberzeugungen
2.1. Was ist Neokonservatismus?
Der Neokonservatismus lässt sich als eine Intellektuellen- Bewegung in den USA beschreiben, die auf (aus ihrer Sicht) negative Zustände in ihrem Land und in der Welt reagiert, indem sie Probleme analysiert und kritisiert. Die Betätigungsfelder der Neocons sind vor allem die Denkfabriken, politischer Journalismus, zum Teil auch Politikberatung und -ausübung. Der Neokonservatismus ist zwar heute in der Republikanischen Partei beheimatet, jedoch durch seine Wurzeln in der liberalen Linken der Vierziger bis Sechziger Jahre und in der Demokratischen Partei in keine eindeutige Schublade zu stecken. Die ersten neokonservativen Intellektuellen stammten aus Einwandererfamilien und besuchten zu einem Großteil das City College von New York, da ihnen die teuren Universitäten wie beispielsweise Harvard verschlossen blieben. „Jene Zeit war wie die heutige eine Zeit schwerer Krisen in der Weltpolitik, und die CCNY-Gruppe war durch und durch politisiert und der Linken verpflichtet.“2 Die Trennung von der Linken beschreibt Seymour Martin Lipset durch seine Definition der Neocons:
„A number of prominent intellectuals, with roots in the anti- Stalinist left, were dismayed by the rise of the increasingly influential New Left and New Politics tendencies which they perceived as soft on Communism. They were especially critical of the student movement and identified many of the new single issue movements that had developed in the sixties as somehow linked together in undermining resistance on Communism.”3
Diese Arbeit wird zeigen, dass Neocons von Beginn an zwischen politischen Lagern gefangen waren. Erstens wiesen die meisten von ihnen das Label „neoconservative“, das Harrington eingeführt hatte, zurück, da sie nach eigener Meinung nichts mit amerikanischen Konservativen gemein hatten. „Many of them didn’t know any conservatives personally. To them, conservatives were country clubbers, reactionaries, racists, and Republicans, nothing like mainstream Democrats or tough social democrats.”4 Das war 1973, doch sieben Jahre später nahmen sie die neue Bezeichnung an, da sie ihren neuen Platz in der Republikanischen Partei legitimierte.5 Und zweitens konnten sich die Neocons weder im realistischen noch im liberal-internationalistischen Lager komplett wohl fühlen. Bei den Realisten nicht, da diese die Souveränität anderer Staaten respektierten und somit den Weg einer aktiven Einmischung versperrten, und bei den liberalen Internationalisten nicht, da diese alle Handlungen der USA unter dem Dach der Vereinten Nationen durchführen wollten.
Um nicht zu viel vom folgenden eigenen Definitionsversuch vorwegzunehmen, soll es bei dieser Kurzdefinition bleiben.
2.2. Versuch einer Definition: Drei-Plus-Zwei-Formel
Die These, es gäbe eine Kontinuität in den politischen Vorstellungen und in der Überzeugung der Neokonservativen, wird in dieser Arbeit nicht zum ersten Mal aufgestellt - John Ehrman und Bernd Volkert haben sie bereits untersucht - jedoch soll hier versucht werden, die Säulen der neokonservativen Mentalität selbst zu definieren, aus der Vielzahl von Attributen das herauszufiltern, was den Kern, das Zentrale, das Immanente darstellt.
Liest man die einschlägige Sekundärliteratur, die über die Jahrzehnte hinweg veröffentlicht wurde, so stößt man auf eine Vielzahl von Stichworten, die mit dem Neokonservatismus in Verbindung gebracht werden: Vital- Center-Liberalismus, Antitotalitarismus, Moralismus, Unilateralismus, Idealismus, Anti-Isolationismus. Ebenso ist die Rede vom amerikanischen Führungsanspruch, der unipolaren Welt, einer Gut-Böse-Polarisierung uvm. Es ist keine Kunst, all diese Stichworte und Attribute aufzuzählen und zu beschreiben, sondern diese müssen zu Kernaussagen gebündelt werden und dann anhand der Quellen als kontinuierlich verifiziert werden.
Nach dem Studium der Sekundärliteratur, die sich explizit mit dem außenpolitischen Aspekt des Neokonservatismus beschäftigt, scheinen sich aus der Fülle an Stichworten und Attributen drei Punkte herauszukristallisieren, die im Zentrum der neokonservativen Weltsicht stehen und zwar von Beginn an bis in die heutige Zeit. In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, herzuleiten und zu beweisen, warum gerade diese drei Axiome ausgewählt wurden. Folgende Diktion wurde gewählt:
1. Axiom: „Neo-Manifest Destiny“
2. Axiom: „Battleship America“
3. Axiom: „From Evil Empire to the Axis of Evil“
Eine Erklärung, warum diese Schlagworte für die drei Axiome gewählt wurden, soll jeweils am Ende der Ausführungen eines jeden Axioms abgegeben werden. Diese drei Grundannahmen reichen jedoch für sich alleine stehend nicht aus, um den Neokonservatismus hinreichend zu erklären. Deshalb soll eine Drei-Plus-Zwei-Formel aufgestellt werden - zwei Punkte, welche die drei Axiome ergänzen und das Ursprüngliche der Bewegung erklären sollen:
- Das reaktive Moment
- Das interdependente Moment
Im Folgenden sollen die drei Axiome genauer erklärt werden.
2.2.1. Das erste Axiom: „Neo-Manifest Destiny“
Nicht durch Zufall steht dieser Punkt am Anfang der Überlegungen, denn der idealistische Aspekt des Neokonservatismus wurde mit Abstand am häufigsten in der Sekundärliteratur genannt, weshalb man auch vom idealistischen Axiom sprechen kann. Weltpolitik ist demnach im neokonservativen Denken eine Strategie für die „freiheitliche, moralisch hochstehende Sache der amerikanischen Ideale.“6 Eine solche Strategie verlangt eine gut ausgebaute Verteidigung und damit verbunden das „Bekenntnis zum Prinzip der Abschreckung“7. Der „liberal idealism“ des Neokonservatismus wird vor allem durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass Bündnisse mit autoritären Staaten nicht genügen müssen, sondern dass wenn möglich das Hinführen oder gar Drängen zur Demokratie eine Option sein sollte.8 Bernd Volkert sieht hierin einen zentralen Punkt, den er als „Kernsatz des heutigen Neokonservatismus“ formuliert: „Das liberale System der USA kann in der Welt nur Bestand haben, wenn diese sich einen liberalen Internationalismus auf die Fahnen schreiben, der nicht davor zurückschreckt, Verhältnisse zu verändern oder gar umzuwälzen, wenn ‚Stabilität’ die größere Gefahr darstellt.“9
Die Demokratie ist im neokonservativen Denken der Idealtypus, denn sie garantiert Freiheit. Dabei geht es vor allem um die Freiheit des Eigentums und der Kapitalverwertung. Umgekehrt ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung die Vorraussetzung für einen demokratischen Staat.10 So sieht es zumindest Josef Korsten, der seine Dissertation allerdings schon 1985 schrieb und somit im Gegensatz zu Bernd Volkert nicht eine Kapitalismus-Debatte unter den Neokonservativen kennen konnte, die sich 2000 in The Public Interest abspielte und zeigte, dass Neocons wie James Q. Wilson die „gesellschaftlich destruktiven Tendenzen des Kapitalismus“11 bewusst sind und nach Lösungsmodellen für dieses Problem gesucht wird. Den Streit um die Funktionsweise des Kapitalismus führten aber auch schon die Neocons der ersten Stunde wie z.B. Irving Kristol und Daniel Bell, wobei sich alle Beteiligten Abhilfe auf der Ebene der Kultur als notwendiges Gegengewicht erhofften.12
Frank Rieger sieht die idealistische Ebene besonders bei den neokonservativen Reaktionen auf den Vietnamkrieg. Der Einsatz wurde immer als richtig angesehen, weil das Prinzip richtig war: „[Der] Vietnam-Krieg [existierte] nicht in der realen Welt von Konflikten um Macht und geopolitischen Kräften, sondern auf einer idealen Ebene [...].“13
Ein wichtiger Aspekt, den John Ehrman in seiner Untersuchung hervorhebt, ist das so genannte Vital Center, benannt nach dem gleichnamigen Buch von Arthur Schlesinger. Nach dem 2. Weltkrieg herrschte ein liberaler Konsens zum außenpolitischen Ziel, die freie Gesellschaft zu verteidigen und zu stärken. Der Konsens hielt bis zum Vietnam-Desaster, an dem er zerbrach.14 Während zum Teil versucht wurde, eine Einigkeit wiederherzustellen, sahen andere wie Irving Kristol den Konsens des „’liberal internationalism’ als an Vietnam endgültig gescheitert“15 an. Ehrman zufolge war das Vital Center erfolgreich, weil es eine verbindende Ideologie eines liberalen Internationalismus darstellte. Das konnte aber nur solange halten, solange die Liberalen an ihre Ideale glaubten.16 Die Neocons am Anfang ihrer Bewegung sahen sich dem Vital Center verpflichtet bzw. bezeichneten sich nach dem Ende des Konsens als „veterans of the vital center [...] committed to it’s combination of reform at home and anti-Communism abroad.“17. Folglich erhielten sie sich ihren Idealismus, während ehemalige liberale Weggefährten aufgaben und sich beispielsweise der Neuen Linken zuwandten. Die Neocons fürchteten diese Gruppe von Beginn an als Gefahr für die liberale Demokratie - ein Thema, das genauer beim dritten Axiom untersucht werden soll.
Es ist festzuhalten, dass John Ehrman die Kontinuität in der neokonservativen Verbindung zum Vital Center und dessen liberalen Internationalismus sieht18:
„The journey from The Vital Center to ‚The End of History’ was a short one. Despite the shift from left to right and various diversions in between, the neoconservatives finished close to where they had started. Both Arthur M. Schlesinger, Jr., and Francis Fukuyama expressed a remarkable, perhaps naive, faith in the eventual triumph of liberal democracy.”19 In Zusammenhang mit dem neokonservativen Idealismus und dem Vital Center steht auch der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr als wichtiger Einfluss auf das Denken, die Demokratie verteidigen zu müssen.20 In erster Linie geht es um das 1947 erschienene Buch „Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis“, das für den Einfluss verantwortlich sein soll. In der Berufung auf Niebuhr will John Ehrmann ein kontinuierliches Merkmal des Neokonservatismus sehen. Niebuhrs Denken benutzten die Neocons, um zu verstehen, dass Fortschritt langsam geht und Siege nicht komplett sind.21 Niebuhr drückt es so aus: „Die unbegrenzte schöpferische Kraft der Geschichte bestärkt die Idee einer freien, demokratischen Gesellschaft, die es ablehnt, den menschlichen Lebenskräften vorzeitig Einhalt zu gebieten. Die zerstörerischen Möglichkeiten dieser Lebenskräfte weisen darauf hin, dass die Demokratie schwieriger zu gestalten ist, als man gewöhnlich annimmt.“22 Nach dem Ende des Kalten Krieges musste die Frage nach dem Fokus der amerikanischen Außenpolitik komplett neu gestellt werden. Für Ehrman signifikant „was what the debate revealed about neoconservatism’s continuing reliance on Reinhold Niebuhr”23. In den Neunzigern wurde Niebuhrs Einfluss dann deutlich durch die neokonservative Meinung, dass die Menschheit in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sei und dass man Macht nur mit Macht ausgleichen könne: „The neoconservative dependence on Niebuhr appears in more subtle ways as well, whether it is Kristol’s dismissal of utopian expectations at home, or Krauthammer’s warnings that the end of the cold war will not bring an end to international dangers and suffering.”24
Zum Thema der Macht unterscheidet Niebuhr die Kinder des Lichts in naive und intellektuelle. Die Naiven haben den Glauben „an die Macht einer Formel über den Rohstoff der Menschheitsgeschichte“. Die Intellektuellen wissen dagegen, dass es „zur Organisation jeglicher menschlicher Gemeinschaft der Macht bedarf.“25
Niebuhr half den Neocons also offenbar, idealistisch zu sein, ohne dabei der Utopie zu verfallen. Er war für die Liberalen - und damit für die späteren Neokonservativen - so wichtig, weil er ihnen versicherte, dass ihre Sache Gültigkeit behalten würde, auch wenn sie nicht perfekt war. Ehrman zitiert in diesem Zusammenhang Irving Kristol mit der Feststellung, dass Niebuhr „’gave me all the good reasons’ to avoid falling into the trap of utopianism“26. Und in Bezug auf einen weiteren Neocon, Elliot Abrams: „[Abrams] further noted, in terms reminiscent of Niebuhr, that ‚any efforts we make on behalf of democracy, small as they may be, are sustained by democracy’s gradual expansion since the days of the American revolution.“27
Niebuhrs Gedanken hatten auch einen stark realistischen Aspekt, denn er befürchtete, dass ein zu starker Optimismus in der menschlichen Natur unrealistisch sei „and would ultimately undermine democracy“.28 Gleichzeitig geht es um die pessimistische Erkenntnis, dass der Mensch zum Bösen fähig ist, was den Neocons ihre „Kalter-Krieg-Theologie“ lieferte.29 Für Niebuhr bewies die Geschichte, dass menschlicher Ehrgeiz maßlos ist, „dass menschliche Schöpfungskraft und menschliche Bosheit größere Dimensionen besitzen“30. Oder wie es ein weiterer Neocon, Michael Novak 1972 in Commentary ausdrückt: „[…] an understanding of the brutal character of the behavior of all human collectives, and the power of self-interest and collective egoism in all inter-group relations […]”31.
Anscheinend lieferte Niebuhr den Neocons eine Vielzahl von Denkanstößen, seien sie nun abstrakt oder mehr konkret wie beispielsweise die Aussage, der Isolationismus sei die negative Form des nationalen Egoismus und nicht mit den Notwendigkeiten der Weltgemeinschaft zu vereinbaren.32
Daraus resultiert die allgemeine Frage zum neokonservativen Denken, nämlich ob Internationalismus automatisch einen Anti-Isolationismus mit sich bringt, der folglich auch eine Kontinuität darstellt. In der Literatur wird mehrfach auf die Existenz anti-isolationistischen Denkens bei den Neocons hingewiesen, wie z.B. bei den Autoren Stefan Halper und Jonathan Clarke. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang den Wahlkampf 1972 und George McGoverns Slogan „Come home, America!“. Neocons wie Norman Podhoretz und Jeane Kirkpatrick kritisierten diesen Ausspruch als defätistisch und isolationistisch, und kurz darauf wurde die Coalition for a Democratic Majority gegründet, um isolationistische Tendenzen in der Demokratischen Partei zu bekämpfen. „[…] they had begun the movement against what they regarded as spineless foreign policy that would eventually define neoconservatism.“33
Auch Bernd Volkert sieht das anti-isolationistische Moment, das er wiederum mit der Kontinuitäts-These verbindet:
„Keine Abstinenz in Sachen auch militärischer Einmischung in die Weltpolitik, sondern die Beibehaltung des internationalistischen Anspruchs der USA, [...] mit Überzeugung das liberale Gesellschaftsmodell, für welches die USA stünden, in der Welt zu verbreiten. Ehrman folgend kann man feststellen, dass die Neokonservativen zu dieser Zeit, also bis Ende der 70er Jahre, zentrale Punkte ihrer Haltung zu außenpolitischen Fragen entwickelt hatten, die noch heute eine wichtige Rolle bei ihnen spielen.“34
Ein „Ex-Neocon“ bestätigt das idealistische Axiom als ein Grundprinzip des Neokonservatismus: Francis Fukuyama bezeichnet es als die Erkenntnis, dass die Macht der USA zu moralischen Zwecken eingesetzt werden und das Land sich in die internationalen Angelegenheiten einmischen muss.35 Das Stichwort Moral führt zu einem transzendenten Aspekt, der nur in der älteren Sekundärliteratur, und zwar in der vor 1989 explizit erwähnt wird. Josef Korsten sieht bei den Neocons eine Wahrnehmung, dass Moral und Tradition bei allen Problemen eine Rolle spielen, dass Probleme immer dann auftauchen, wenn die traditionelle Ordnung zerbricht.36 Es handelt sich also um das Transzendieren politischer Grundsatzfragen, das in der Außenpolitik zu einer Art Kreuzzug führt, zu einer Schlacht „zwischen gottgläubiger Demokratie und atheistischem Kommunismus“37. Hier zeigt sich deutlich die Zentrierung auf das antikommunistische Moment, das bei der Literatur vor 1989/90 leider viele wichtige Aspekte verschleiert oder vernachlässigt. Frank Rieger drückt das Transzendente etwas allgemeiner aus, indem er in der neokonservativen Vorstellung der USAußenpolitik den Appell an das Bewusstsein erkennt, „einem höheren Zweck zu dienen“38.
Zusammenfassend sei noch einmal erklärt: Der neokonservative „liberal idealism“ bedeutet, dass die Demokratie - wie sie in den USA verwirklicht ist - das Ideal darstellt, dass auf der Welt verbreitet sein muss, damit die USA nicht in eine isolierte Position geraten. Diese Einstellung ist zurückzuführen auf die neokonservativen Wurzeln im Vital Center und den damit verbundenen Glauben in den Triumph der liberalen Demokratie. Gleichzeitig bewahrt eine Berufung auf Reinhold Niebuhr die Neocons vor dem Verfallen in utopisches Denken. Der Mix aus idealistischen und realistischen Zügen macht den Neokonservatismus zu einer Bewegung, die sich in keine Schublade stecken lässt.
Zum Schluss noch ein paar Worte zu Betitelung des Axioms: Den Ausdruck „Manifest Destiny“ prägte John O’Sullivan in dem Artikel „Annexation“, den er 1845 in The United States Magazine and Democratic Review veröffentlichte, womit er die schicksalhafte Bestimmung der Amerikaner meinte, sich über den nordamerikanischen Kontinent auszubreiten.39 Bereits 1939 hatte er seine Gedanken zur Bestimmung der USA in dem Artikel „The Great Nation of Futurity“ geäußert: „[...] we may confidently assume that our country is destined to be the great nation of futurity […]. For this blessed mission to the nations of the world, which are shut out from the life- giving light to truth, has America been chosen.”40 Den Zusatz “neo” findet man bei Gary Dorrien in „Imperial Designs“, in dem er vom “neo-manifest destinarianism” als neuer Rhetorik der Pax Americana nach 1989 spricht.41 Das Präfix ist nötig, da O’Sullivan damals im engen Sinn von der Verbreitung auf dem amerikanischen Kontinent sprach, während den Neocons heute der globale Schauplatz für ihre „blessed mission“ vorschwebt.
2.2.2. Das zweite Axiom: „Battleship America“
Dieser Grundgedanke beinhaltet eine Komponente, die im ersten Moment bereits durch das idealistische Axiom abgedeckt zu sein scheint: es handelt sich um den Führungsanspruch der USA, den die Neocons als naturgegeben anzusehen scheinen. Tatsächlich geht es um einen globalen Anspruch, der die Bereitschaft zur Intervention beinhaltet, aber zusätzlich unilateralistische Züge hat. Die USA werden als sich in der Minderheit befindend angesehen, weshalb sie sich auf sich selbst verlassen müssen.42 Statt „Battleship America“ kann man auch vom individualistischen Axiom sprechen.
Der Unilateralismus in Bezug auf die USA ist ein heikles Thema, das vorbelastet und undifferenziert erscheint. Zu behaupten, der Neokonservatismus stehe generell für Unilateralismus, ist schlichtweg falsch. Vielmehr herrscht bei den Neocons eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber multilateralen Handelns in den U.N. vor.43 Die Skepsis wiederum beruht auf der neokonservativen Annahme, dass die USA die stärkste globale Macht sind. Da es folglich nur um Kooperationen mit schwächeren Partnern gehen kann, verneint der Neokonservatismus die Möglichkeit eines wahren Multilateralismus, da dieser nur zwischen „coequal partners of comparable strength and stature“44 existieren kann. Ehrman weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass einige Neocons wie Walter Laqueur eine multipolare, interdependente Welt als Illusion ansahen.45
In puncto Weltgemeinschaft wird auch der Einfluss Reinhold Niebuhrs deutlich. Dieser stand zwar der Idee an sich positiv gegenüber, sah aber ihre Chancen als gering an.46 „Die Weltgemeinschaft, auf die uns, wie es scheint, alle historischen Kräfte hintreiben, ist die letzte Möglichkeit und Unmöglichkeit der Menschheit.“47 Keine Nation, die an dem Gleichgewicht beteiligt ist, sei jemals mit seiner Stellung zufrieden. „Jedes Machtzentrum sucht seine Stellung zu verbessern“48. Daher könne nur eine Vorherrschaft der Großmächte einen „geeigneten Kristallationskern für ein Mindestmaß an Weltordnung bilden.“49
Frank Rieger hat darauf hingewiesen, dass das Thema Unilateralismus unter den Neocons zum Teil zu Dissens geführt hat. So hat beispielsweise die NATO einen höheren Stellenwert als die U.N., ohne ihr Bestehen haben die USA weniger Chancen, als freie Gesellschaft zu überleben.50 Die U.N. scheinen dagegen aus der Sicht der Neocons viel weniger ein Garant für Sicherheit zu sein, weshalb sie seit den 70ern als ineffektive Institution kritisiert werden.51
Es wird deutlich, dass das Attribut unilateralistisch nicht generell auf den Neokonservatismus angewandt werden kann. Vielmehr scheint es sich um eine ausgeprägte U.N.- Skepsis zu handeln, die sich erklären lässt durch die Enttäuschungen, welche die Neocons über die Jahrzehnte hinweg in dieser Institution erleben mussten, angefangen bei der so genannten Zionismus-gleich-Rassismus-Resolution52 (vgl. Kapitel 3.1.) bis hin zum Balkankrieg53. Deshalb scheint es angebracht, in diesem Punkt Fukuyama zu folgen:
„[...] eine skeptische Haltung gegenüber der Legitimität und Effektivität des Völkerrechts und internationaler Institutionen zur Verwirklichung von Sicherheit oder Gerechtigkeit. [...] Die Neokonservativen stimmen [...] mit den Realisten überein, dass das Völkerrecht nicht geeignet sei, um Regeln durchzusetzen und Aggression einzudämmen. [...] Das Misstrauen gegenüber den Vereinten Nationen erstreckt sich bei den meisten Neokonservativen nicht auf sämtliche Formen einer multilateralen Kooperation; die meisten [...] sind vom Wert kollektiver Maßnahmen auf der Grundlage gemeinsam akzeptierter demokratischer Grundsätze überzeugt.“54
Die Autoren Halper und Clarke kommen aber trotzdem zu dem Schluss, dass der Unilateralismus die bevorzugte Art der Ausführung für die Neocons darstellt.55 Bernd Volkert dagegen sieht als Gemeinsamkeit die zugrundegelegte Weltsicht, dass die USA eine aktive Rolle in der Welt spielen müssen, weil sie sich in einer isolierten Position befinden. Da man sich weder auf die U.N. noch auf Europa als Partner verlassen kann, müssen die USA „die Zügel ihrer Politik in der eigenen Hand“ behalten und „sich nicht von anderen dominieren lassen“56. Die Kontinuität wird bewiesen, da die neokonservative Sicht auf die U.N. und Europa „als Fortsetzung und Aktualisierung von Ansichten gelten dürfen, die sich in den 70er Jahren herausgebildet haben“57. Die ablehnende Haltung gegenüber Europa wird in der Literatur kaum behandelt, bei Volkert jedoch spielt sie in dem eben erläuterten Zusammenhang eine wichtige Rolle. So weist er unter anderem auf die blockfreien Staaten Mitte der Siebziger hin, deren antikapitalistische bzw. anti- imperialistische Ideologie die Neocons auf das Erbe der ehemaligen Kolonialstaaten zurückführen58, die Schuld an der anti-amerikanischen Haltung der Dritte-Welt-Staaten also Europa ankreiden. In diesem Zusammenhang lässt sich auch Somalia nennen, das aus britischem und italienischen Kolonialgebiet hervorgegangen war. 1969 putschte das Militär und errichtete eine islamisch-marxistische Diktatur.59 Volkert erkennt ein „gewisses Bild von Europa und europäischen Ideologien als wenigstens potentiell gegen den Liberalismus gerichtet, welches schon früh bei den Neokonservativen zu finden ist und sich bis heute gehalten“60 hat. Die im nächsten Kapitel behandelte Angst vor einer Finnlandisierung der USA deutet ebenso auf eine Europa- skeptische Sicht der Neocons hin (vgl. Kapitel 2.2.3.). Die Autoren Halper und Clarke bestätigen dieses Argument mit dem Hinweis auf die pro-arabische Politik Europas nach der Ölkrise 1973: „The perception that Europe was reassessing its own commitment to Israeli security helped to nurture the seeds of anti-European sentiment among certain neo- conservative intellectuals, which already existed based on what they saw as the European embrace of socialist economic models.”61
Zusammenfassend soll noch einmal der anfangs erwähnte Führungsanspruch zur Sprache gebracht werden. Nach Meinung der Neocons beanspruchen die USA ihre Überlegenheit „aus der Tatsache ihrer Gründung als unabhängiger Staat auf der Grundlage von Vernunft und Lebenserfahrung“62.
Da das Attribut „unilateralistisch“ offenbar zu verallgemeinernd wirkt und somit dem Neokonservatismus nicht gerecht wird, geht es konkreter um eine U.N.- und um eine Europa-Skepsis. Das Axiom ist (offenbar stärker als die anderen) durch geschichtliche Ereignisse geprägt. Da diese zeitversetzt über mehrere Jahrzehnte passierten, kann man von einer Kontinuität der skeptischen Haltung sprechen. Die Bezeichnung „Battleship America“ für dieses Axiom passt sehr gut, da das Schlachtschiff mit den Worten Gebhard Schweiglers traditionell das „Sinnbild einer einseitig aktiven Rolle in der Weltpolitik“ darstellt, welches „die Projektion von Macht und [...] den Schutz eigener Interessen, wo diese in Gefahr stehen“63, ermöglicht. Die Rolle der USA als „Number One“ gründet sich auf das Weltbild des Realismus: Die Gefahr, die überall auf der Welt droht, erzeugt ein Sicherheitsdilemma, durch welches die Selbsthilfe den besten Schutz garantiert, während die multilaterale Kooperation sehr eng begrenzt ist. „Kooperation mag dazu dienen, die eigene Machtposition durch Allianzbildung zu konsolidieren. Keinesfalls kann sie aber dazu beitragen, das internationale System dauerhaft verlässlich zu verregeln und verrechtlichen.“64
2.2.3. Das dritte Axiom: „From Evil Empire to the Axis of Evil“
„Der Neokonservatismus wird in zwar modifizierter Weise, aber immer noch von den von ihm entdeckten Gegnern und Gefahren bestimmt.“65
Diese Aussage von Bernd Volkert fasst sehr gut zusammen, was im Folgenden als Erklärung des dritten Axioms betrachtet werden soll: dass nämlich der Neokonservatismus sich selbst immer über eine Bedrohung definiert hat, dass der Feind zwar changierte, aber die Klassifizierung des Feindes dieselbe geblieben ist. Diese Kontinuität sieht Volkert gleichzeitig als Problem an, denn als der erste Feind, die Sowjetunion, unerwartet wegfiel, offenbarte sich, „dass der Neokonservatismus ein eher fragiles Gebilde ist, solange ihm der Gegner oder eine klar erkennbare Herausforderung fehlt.“66 Und auch Ehrman konstatiert (wenn auch nur einem bestimmten Neocon): „[...] Podhoretz’s view of the world had been defined by what it opposed more than by what it favored“67.
Vor was genau hatte der Neokonservatismus nun soviel Angst? Als erstes zeigt sie sich in der Überzeugung, dass eine neue Schwäche des Westens in den 70ern die Zerstörung Israels und eine Wiederholung des Holocaust bedeuten könnte.68 Einige Autoren weisen auf die immer wieder verwendete Analogie zum Nationalsozialismus hin69, hinter dem die Angst vor einem erneuten Holocaust und einer Finnlandisierung der USA steht. Die Finnlandisierung, die allgemein als Schlagwort für die durch Gehorsam gekennzeichnete Außenpolitik Finnlands gegenüber der Sowjetunion benutzt wird, muss per definitionem von den Neocons negativ konnotiert worden sein. Wie bereits im vorherigen Kapitel dargelegt, beweist der Gedankenzug die Skepsis gegenüber der Standhaftigkeit gegen antiliberale Tendenzen bei den europäischen Staaten. Im Grunde geht es also um eine Position der Stärke, da eine „Kultur des Appeasement“ eine „gefährliche Schwächung der USA gegen expansive Bedrohungen, wie sie die Sowjetunion darstelle, [...] letztlich sogar die Gefahr der ‚Finnlandisierung’ der USA mit sich bringen könne, d.h. dass diese zwar kein ‚Satellitenstaat’ der Sowjetunion würden, aber ihr Maß an Freiheit nur unter der Bedingung einer weitgehenden Anpassung an deren Willen in der Weltpolitik behalten könnten.“70 Ehrman nennt in diesem Zusammenhang als konkretes Beispiel die ablehnende Haltung gegenüber den SALT-II-Verträgen Ende der Siebziger, durch welche die Neocons die Sowjetunion gestärkt sahen und zitiert Paul Nitze: „SALT II’s terms ‚could result in forced accommodation to the Soviet Union leading to a situation of global retreat and Finlandization’.“71
Reinhold Niebuhr scheint auch zum Thema der Bedrohungswahrnehmung einen Grundgedanken geliefert zu haben. So konstatiert er - natürlich vor dem Hintergrund der für ihn aktuellen Bedrohung durch den Nationalsozialismus, dass die bürgerliche Zivilisation sich in schwerer Gefahr befinde und deshalb auch die Demokratie als Ideologie des Mittelstandes dem Untergang nahe sei.72
Wie bereits erwähnt, hat die jüngere Sekundärliteratur den Vorteil, die neokonservative Mentalität differenzierter darzustellen als es beispielsweise Josef Korsten möglich war. Der zweite große Punkt, der unter das hier behandelte Axiom fällt, der Antitotalitarismus, wurde deshalb auch bei ihm noch ganz im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes dargestellt und konzentriert sich um das Thema des Antikommunismus.73 Es ist natürlich richtig, dass der globale Kampf zwischen Kommunismus und Demokratie bis 1989 eine entscheidende Rolle im neokonservativen Denken gespielt hat. Korsten führt dazu die Überlegungen Habermas an, demzufolge die Neocons seit den 50ern an zwei wichtigen Positionen festgehalten haben, nämlich dem Antikommunismus mit Berufung auf das Konzept des Totalitarismus, und dem Antipopulismus.74 Das Festhalten an der Totalitarismustheorie wird von Josef Korsten als typisches Merkmal des Neokonservatismus begriffen: „Ein totalitärer Staat ist grundsätzlich als der amerikanischen Freiheitsidee feindlich gesinnt zu betrachten, sein Untergang ist wünschenswert.“75 Mit dieser Feststellung geht er aber über sein eigenes Konstatieren des neokonservativen Antikommunismus hinaus, denn der Antitotalitarismus ist auf weit mehr Bedrohungen als die Sowjetunion anwendbar. Deshalb besteht Bernd Volkert auch auf dem antitotalitären Aspekt und verweist darauf, dass die Neocons bereits in den 70ern neue Gegner, neue Gefahren für die liberale Demokratie in Form der blockfreien Staaten76 und des „islamic-marxist“ Regime im Iran77 gesehen haben. Dass eine Gefahr vom militanten Islamismus ausgeht, erkannten die Neocons ebenfalls früh, und zwar im Jahr 1984. Er wurde zum neuen antiliberalen Gegner, der die Sowjetunion ablöste:
„Dass gerade dieser Gegner die neue Geburt des Neokonservatismus ermöglichte, machte [...] deutlich, dass es sich beim Antikommunismus [...] nicht um eine konservative oder reaktionäre Haltung gegen die Moderne handelte, sondern um einen entschieden liberal motivierten antitotalitären Impuls [...]“78
In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass zu dieser Zeit auch der Terrorismus als globales Problem für die USA existiert.79
Um zu dem Aspekt der Kontinuität zurückzukommen: Volkert sieht in der subjektiven Wahrnehmung der Gegner der USA und des Liberalismus einen von zwei fundamentalen Gemeinsamkeiten, die alle Neocons teilen. Der andere Punkt ist die bereits erwähnte aktive Rolle, welche die USA in der Welt spielen sollen. Der Auftrieb des Antiamerikanismus in den Neunzigern und das erneute Aufflammen nach 2003 waren für die Neocons Déja-Vue-Erlebnisse, da sie diese Haltung bereits aus den Sechzigern kannten. Ähnliches gilt für die neokonservative Ablehnung der Antiglobalisierungsbewegung, da hier Parallelen zu der Protestbewegung der Sechziger gezogen werden, die damals eine Gefahr für den Liberalismus und das Bürgertum darstellte.80 Volkert fasst seinen Standpunkt wie folgt zusammen: Zwar gibt es eine Entwicklung im Neokonservatismus, die von einer anfänglich eher defensiven Haltung zu einer immer offensiveren geführt hat, jedoch ist der Hintergrund dieser Entwicklung gleich geblieben: „Auch zu dieser konstruktiven Seite gelangt er nur infolge seiner unveränderten Wahrnehmung eines durch totalitaristische Tendenzen existenziell bedrohten Liberalismus.“81
[...]
1 Genau datieren lässt sich der Ursprung des Neokonservatismus nicht. Die Bewegung ist aber sicherlich älter als ihre Bezeichnung, welche 1973 durch Michael Harrington in der Zeitschrift Dissent eingeführt wurde. Siehe Volkert, Neokonservatismus, S. 7
2 Fukuyama, Scheitert Amerika, S. 25; eine prägnante Definition des Neokonservatismus liefert Jakob Schissler im USA-Lexikon, S. 515 f
3 Seymour Martin Lipset, zitiert in: Rich, Think Tanks, S. 51
4 Dorrien, Imperial Designs, S. 8
5 Ders., S. 10
6 Korsten, Rechtspopulismus, S. 26
7 Korsten, Rechtspopulismus, S. 26
8 vgl. Kapitel 3.3.3.
9 Volkert, Neokonservatismus, S. 91
10 Korsten, Rechtspopulismus, S. 71 ff
11 Volkert, Neokonservatismus, S. 107 f
12 Volkert, Neokonservatismus, S. 108 f
13 Rieger, Neokonservatismus, S. 229
14 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 1 ff
15 Rieger, Neokonservatismus, S. 244; Irving Kristol stellt in diesem Zusammenhang aber einen Sonderfall unter den Neocons dar, wie das biographische Kapitel über ihn zeigen wird (vgl. Kapitel 3.2.1.).
16 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 17 f
17 Ders., S. 34
18 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 163
19 Ders., S. 187
20 Ders., S. 7
21 Ders., S. 188
22 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 39
23 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 180
24 Ders., S. 184 f
25 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 106 f
26 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 12
27 Ders., S. 159
28 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 7
29 Halper/Clarke, America Alone, S. 55 f
30 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 23
31 Novak, Needing Niebuhr Again, Commentary, Sept. 1972, S. 52; Novak zitiert in diesem Artikel auch einen berühmten Aphorismus Niebuhrs zur Verteidigung der Demokratie: “Man’s capacity for justice makes democracy possible; but man’s inclination to injustice makes democracy necessary.”
32 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 105
33 Halper/Clarke, America Alone, S. 55
34 Volkert, Neokonservatismus, S. 69
35 Fukuyama, Scheitert Amerika, S. 58
36 Korsten, Rechtspopulismus, S. 24
37 Ders., S. 26
38 Rieger, Neokonservatismus, S. 233
39 O’Sullivan, Annexation, The United States Magazine and Democratic Review, Juli/August 1845
40 O’Sullivan, The Great Nation of Futurity, The United States Magazine and Democratic Review, Nov. 1939
41 Dorrien, Imperial Designs, S. 79
42 Volkert, Neokonservatismus, S. 77
43 Ders., S. 81
44 Charles Krauthammer, zitiert in: Volkert, Neokonservatismus, S. 91
45 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 55; Das Thema Unipolarismus wird in einem späteren Kapitel genauer ausgeführt (vgl. Kapitel 4.3.1.)
46 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 7
47 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 122
48 Ders., S. 113 f
49 Ders., S. 115
50 Rieger, Neokonservatismus, S. 241 f
51 Halper/Clarke, America Alone, S. 57
52 Volkert, Neokonservatismus, S. 71; siehe auch Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 85
53 Halper/Clarke, America Alone, S. 91
54 Fukuyama, Scheitert Amerika, S. 58 f
55 Halper/Clarke, America Alone, S. 74, S. 91
56 Volkert, Neokonservatismus, S. 98
57 Ebd.
58 Volkert, Neokonservatismus, S. 73
59 Stöver, Kalter Krieg, S. 73
60 Volkert, Neokonservatismus, S. 74
61 Halper/Clarke, America Alone, S. 60
62 Korsten, Rechtspopulismus, S. 35
63 Schweigler, Außenpolitische Orientierungen, S. 424
64 Rüb/Wilzewski, Weltordnung durch Präemption, S. 4
65 Volkert, Neokonservatismus, S. 101
66 Volkert, Neokonservatismus, S. 89
67 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 176
68 Ders., S. 108
69 siehe auch: Korsten, Rechtspopulismus, S. 88; Rieger, Neokonservatismus, S. 229
70 Volkert, Neokonservatismus, S. 67
71 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 113
72 Niebuhr, Kinder des Lichts, S. 12
73 Korsten, Rechtspopulismus, S. 126 f
74 Ders., S. 28
75 Korsten, Rechtspopulismus, S. 88
76 Volkert, Neokonservatismus, S. 66
77 Ders., S. 77
78 Ders., S. 92 f
79 Ehrman, Rise of Neoconservatism, S. 167
80 Volkert, Neokonservatismus, S. 98 ff
81 Ders., S. 111
- Quote paper
- Claudia Fröhling (Author), 2008, Neokonservatismus in den USA, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195723
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