In dieser Seminararbeit wird wissenschaftlich bewiesen, dass viele Sachbücher und insbesondere neuere Belletristik leichter zu lesen sind als die Romane und Erzählungen des kroatischen Nobelpreisträgers Ivo Andric.
Dieser Beweis wird mathematisch und verbal unternommen. Die Leserlebnisse des Autors werden mit allgemeinen lesepsychologischen Befunden verglichen.
Insbesondere wird auf das Besondere des Stils, der Wortwahl, der Morphologie und der Syntax des Nobelpreisträgers eingeggangen.
Zur Lesbarkeit südslawischer Belletristik im Vergleich mit populärwissenschaftlichen Texten:
Eine Analyse anhand der Erzählungen mit jüdischer Thematik von Ivo Andric´
Meine Hypothese, die ich überprüfen will, ist, dass der poetische und elegante Stil von Ivo Andric´ dazu führt, dass seine Texte im Vergleich zu weniger herausragenden Erzählern und den im slowenischen und kroatischen Buchhandel erhältlichen populärwissenschaftlichen Werken insbesondere über südosteuropäische Geschichte schwerer zu lesen sein müssten. Ich will meine These aber dahingehend modifizieren, dass dies von Satz zu Satz unterschiedlich ist. Denn Andric´ gilt generell als flüssig zu lesen, so meldeten sich etwa Leserforen im Internet zu Wort.[1] Dieser Eindruck, Andric´ sei ohnehin leicht zu lesen, könnte aber darauf beruhen, dass seine packenden Geschichten den Leser inhaltlich mehr ansprechen oder eine höhere Personalisierung der Darstellung laut Flesch aufweisen.
Lesbarkeit wurde in der Tradition der Forschung zu diesem Thema psycholinguistisch als diejenige Eigenschaft eines Textes definiert, die ihn für seinen intendierten Adressaten, d. h. für den Leser, welchen sich der Autor vorgestellt hat, verständlich macht. Diese Eigenschaft gilt in erster Linie als eine Auswirkung des Stils des zu lesenden Textes. Sachbücher und die Spitzenleistungen der modernen Dichtung müssen zwar nicht gleich leicht zu lesen sein wie Texte, die einem didaktischen Zweck dienen. Dennoch haben sie wie die seriöse Presse eine kommunikative Absicht und sollten nicht nur für eine kleine intellektuelle Elite bestimmt sein. Für einen Schriftsteller wäre es gut, die Regeln der Lesepsychologie zu kennen, auch wenn inhaltliche und ästhetische Notwendigkeiten den Spielraum des Autors für leicht lesbare Formulierungen einschränken. Um einen schönen Stil zu schreiben, haben serbische und kroatische Dichter anscheinend ungewöhnliche, wenn auch grammatisch erlaubte syntaktische Konstruktionen verwendet, die weniger versierten Lesern Schwierigkeiten machen.[2]
Anschließend werde ich verbal die Faktoren der Lesbarkeit ausgewählter Erzählungen und Romanfragmente über das Leben der bosnischen Juden erörtern. Dem wird jedoch auch die Anwendung einiger mathematischer Lesbarkeitsformeln auf dieselben Texte folgen. Die Analyse von zum Vergleich herangezogenen belletristischen und populärwissenschaftlichen Texten sowie die Beschäftigung mit Sekundärliteratur zum Thema Lesbarkeit werden diese Seminararbeit abrunden.
Zunächst könnte man fragen, was ein leicht lesbarer Satz ist. Darum zitiere ich Beispiele von kürzeren Sätzen ohne größere lexikalische Schwierigkeiten aus dem Nachwort des Redakteurs Radivoje Konstantinovic´ zu den zu analysierenden Prosastücken: „ U ovoj knjizi nisu svi Andric´evi tekstovi koji se odnose na Jevreje “[3] (elf Wörter). „ Sledec´a dva teksta posvec´ena su travnicˇkim sefardima “[4] (sieben Wörter, ein seltenes Wort). „ U jesen daleke 1941. godine na uglu nasˇe ulice zaustavio se veliki, sivozeleni kamion “[5] (14 Wörter, zwei seltene Wörter, aber triviale Syntax). Wer Kroatisch oder Serbisch kann, wird schon an diesen drei Beispielen hoher Lesbarkeit sehen, dass diese gerade bei südslawischer Prosa mit deren Stil und Syntax zusammenhängt. Über die durch die Wortanzahl gemessene Satzlänge braucht man nicht zu streiten, und gerade Sätze mit weniger als 20 Worten sind angenehm zu lesen. Die Seltenheit serbokroatischer Wörter lässt sich hingegen anzweifeln, doch ist mein subjektiver Eindruck in dieser Hinsicht zuverlässig und lässt sich durch Häufigkeitsanalysen ausgehend von kroatischen Tageszeitungen oder korpuslinguistischen Datenbanken überprüfen.
Was die inhaltliche Komponente der Lesbarkeit betrifft, müssen Erzählungen mit historischer Thematik für einen Leser mit guter Allgemeinbildung ziemlich leicht sein. Das gilt insbesondere, wenn man sich vor der Lektüre über Andric´ und sein Werk informiert, indem man z. B. ein Nachwort liest.
Eine gewisse Verständnisschwierigkeit, gerade bei aus dem Zusammenhang gerissenen Passagen, könnte daraus erwachsen, dass Andric´ anhand des Schicksals seiner fiktionalen Helden Epochen und Kulturen charakterisiert. Diese Epochenschilderung ist in seinen chronikartigen Werken „Na Drini c´uprija“, „Travnicˇka hronika“ etc. ausgeprägter als in Texten wie dem biographisch-gesellschaftskritischen Roman „Gospo∂ica“. Das Interesse des Lesers und damit seine Leseleichtigkeit könnten u. a. dadurch geschwächt werden, dass in „Na Drini c´uprija“ die Brücke als Dingsymbol anstelle eines Menschen aus Fleisch und Blut die Hauptfigur ist. In die hier analysierte Andric´anthologie gingen zwei Ausschnitte aus „Travnicˇka hronika“ und ein Kapitel aus „Na Drini c´uprija“ ein, drei Texte, die aus chronikhaften Romanen stammen, aber trotzdem selbständige Kurzgeschichten sein können und gleich leicht zu lesen sind wie Novellen aus der kroatischen literarischen Moderne.
Damit unsere Andric´lektüre nicht an einer Unkenntnis der ehemaligen bosnischen Wirklichkeit und ihrer Symbolträchtigkeit scheitert, genügt es nicht, zu wissen, dass Andric´ in Essays, Kurzprosa und historischen Romanen über die bosnischen Juden schrieb. Wir müssen vielmehr die besondere Lage einer religiösen Minderheit in einem archaischen Land erkennen und die von Andric´ in all ihren Epochen poetisch evozierte Geschichte des jüdischen Volkes als Chiffre für das Lebensleid der unterdrückten Menschen in einer absurden Welt auffassen, um uns ein emotionales und rationales Andric´verständnis zu erschließen. Natürlich kann man auch lesen, ohne eine Interpretation des betreffenden Dichtertextes zu kennen, aber das durch Beschäftigung mit eigenen oder fremden Interpretationen vertiefte Verständnis könnte einem die Lektüre leichter und genussvoller machen. Es hängt wohl von der Erfahrung und dem Leseziel des Lesers ab, ob er bei Andric´ eine Interpretation benötigt oder nicht.[6]
Im Text „Na jevrejskom groblju u Sarajevu“ meditiert Andric´ in lyrischer Prosa über das Schicksal der spanischsprachigen bosnischen Juden. Schon der erste Satz dieses Texts überrascht durch einen schönen, aber sperrigen Stil: „ Petar Kocˇic´, koji je imao oka i smisla za bosanski predeo i kao pravi pisac umeo i uzgred da kazˇe lepe i tacˇne stvari, zapazio je mesto koje je u tom predelu zauzimaju groblja i stigao da to kazˇe cˇak i u jednom obicˇnom, strucˇnom cˇlanku “[7] (45 Wörter; vier Gliedsätze, die teils ineinander verschachtelt sind; ein seltsamer Kasusgebrauch, vier seltene Vokabeln). Auch wenn man den serbischen, d. h. ekavischen Sprachgebrauch gewöhnt ist, ist der Satz wegen seines Stils schwerer zu lesen als die österreichische qualitätsvolle Presse (Standard, Presse ...). Dieser Satz exemplifiziert eine niedrige Lesbarkeit, weil man sich etwas mehr konzentrieren muss, um seinen Sinn zu erfassen, als das bei leichten Gebrauchstexten der Fall ist. Außerdem wäre es für den Leser gut zu wissen, dass der bosnisch-serbische, national gesinnte Dichter Petar Kocˇic´ in der Prosa Realist und Ivo Andric´s literarisches Vorbild war. Doch sind so lange Sätze bei Andric´ eher die Ausnahme, wenn er beschreibt, dass an den Steilhängen rund um Sarajevo die Grabsteine verschiedener Konfessionen anzutreffen sind. Das sieht man an folgendem Beispiel: „ Jer uvek ostaje istinita stara recˇ da smrt nije poeticˇnija od zˇivota “ (12 Wörter, ein seltenes Wort, ein Gliedsatz, leicht zu lesen).[8] Diese Friedhöfe sind für den Dichter ein ästhetisch reizvoller Kontrast zum turbulenten modernen Stadtleben, was zwar leicht einzusehen ist, den Text aber mehrdeutiger und rätselhafter macht, als das bloße Tatsachenfeststellungen sind. Die Beschreibung des Friedhofs vermischt sich mit der Erinnerung an die vier versunkenen Jahrhunderte des bosnischen Judentums, was für Andric´ typisch ist. Die fremdländisch wirkenden Grabsteine in diesem Text sind zusammen mit den hebräischen, spanischen und serbokroatischen Aufschriften auf ihnen Zeichen und Zeugnis der Vergangenheit. Ich vermute, dass Texte mit einer symbolischen Komponente schwerer zu lesen sind, doch lässt sich das nicht objektiv nachweisen.
Andric´ erinnerte sich auf dem Friedhof an die orientalische und kosmopolitische Kultur des Bosniens seiner Kindheit und die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, die er mit seiner Kunst verurteilen will. Diese Identität zwischen Ich-Erzähler und Autor erleichtert das Lesen. Für einen oberflächlichen Leser ist der Text nicht schwer, aber genaue Leser (Interpreten etc.) könnten über die längeren Sätze verärgert sein.[9]
Die Erzählung „Pobednik“ behandelt ein biblisches Motiv, das man als bekannt voraussetzen darf, nämlich den Kampf zwischen David und Goliath. Andric´ stellt dar, wie der Sieger David von seinem Volk umjubelt wird, aber dennoch vom Kampf erschöpft und durch den Erfolg verwirrt ist. Der Inhalt lässt somit eine hohe Lesbarkeit erwarten. Es wird an die ferne Vergangenheit des jüdischen Volkes angeknüpft, die zugleich entmystifiziert wird. Die Erzählung lässt sich wie andere Meisterwerke der südslawischen Prosa mit historischer Thematik auch so deuten, dass das 20. Jahrhundert kritisiert und der Triumph im Krieg als fragwürdig entlarvt wird. Diese Deutbarkeit erhöht die Textschwierigkeit aber keineswegs.
Probleme bei der Lektüre sind vielmehr ausschließlich auf stilistische Faktoren zurückzuführen: Die Verwendung des Tempus Aorist anstatt des Perfekts der gesprochenen Sprache erschwert das Lesen. Eine abwechslungsreiche und geradezu farbenfrohe Wortwahl ist typisch für den Stil von Andric´. Obwohl dieser Wortschatz für den Muttersprachler keine so große Hürde ist wie für den Leser mit Deutsch als Kultursprache, kann man davon ausgehen, dass er die Leseleichtigkeit von kroatischen bzw. serbischen oder bosnischen Kindern und Ungebildeten ebenso negativ beeinträchtigt. Vokabeln wie „neopozivo“ (‚unwiderruflich’) und „cˇeljad“ (‚Leute’ statt dem viel gebräuchlicheren „ljudi“) könnten einem ungeübten Leser das Verständnis von Sätzen erschweren. Jedoch ist dies nicht für Andric´, sondern auch für viele andere Autoren, die sich als Schöpfer von ernster Kunst verstanden, typisch.[10]
„Mordo Atijas“ ist ein epischer Text, der aus Andric´s Roman „Travnicˇka hronika“ herausgegriffen ist. In ihm geht es um eine jüdische Familie, aus deren Reihen immer wieder Ärzte hervorgehen. Mordo Atijas, der Titelheld, betreibt eine prämoderne Apotheke, in die öfters Patienten und Kunden kommen, typischerweise Bauern mit Schmerzen. Dieser schweigsame Arzt kann nicht immer menschliches Elend lindern.
Es ist gut für das subjektive Empfinden der Textschwierigkeit, dass es in unserer Geschichte also eher um Konkretes als um Abstraktes geht. Da Andric´ eine vollständige Charakterschilderung liefern wollte, könnte der Text eine selbstständige Novelle sein. Manche Sätze haben infolge ihrer Kürze das optimale Ausmaß an Lesbarkeit erreicht. So eignen sich die ersten beiden Sätze wohl gut für die Lektüre durch serbische Volksschulkinder, wie ein Zitat zeigen wird: „ Atijasi su najstarija jevrejska porodica u Travniku. Tu zˇive vec preko sto pedeset godina. “ (Je sieben Wörter pro Satz)[11]
Doch auch in diesem Text wirkt sich der von den amerikanischen Lesbarkeitsforschern Vokabellast genannte Faktor negativ aus. Man denke nur an den Kräuternamen „rutvica“ (‚Edelraute’), welcher populärmedizinische Kenntnisse voraussetzt, die beim Muttersprachler keineswegs selbstverständlich sind. Es wäre eine ganz besondere Kunst, eine leicht lesbare und trotzdem ästhetisch wertvolle literarische Beschreibung zu verfassen.[12]
Auch die Erzählung „Odlazak Napoleonovog konzula“ stammt aus dem Roman „Travnicˇka hronika“. Es geht darum, dass sich der französische Konsul Davil in einer unangenehmen Lage befindet, weil er angesichts der bevorstehenden Niederlage seines Kaisers, Napoleons des Ersten, schwer einen Gläubiger findet. Salomon Atijas, der Onkel eines Juden, der für das französische Konsulat gedolmetscht hat, sucht den Konsul Davil eines Tages auf.
Da die Personenbeschreibungen lange und ermüdend sind und zusätzlich die Handlung etwas verwickelt, ist dieser Romanausschnitt keine besonders leichte Lektüre. Außerdem kommen dank Andric´s gepflegter ostsˇtokavischer Wortwahl extrem seltene Vokabeln wie „anterija“ vor, die sogar in sehr dicken zweisprachigen Wörterbüchern fehlen.[13] „Anterija“ ist übrigens eine Bezeichnung für ein eher bei Moslems übliches Kleidungsstück, ein kurzes Kleid, das man als Überwurf über das Hemd trug.[14]
Nach einem kurzen Gespräch einigen sie sich darauf, dass Salomon Davil 25 Dukaten leihen wird. Der Konsul ist deswegen dankbar und drückt seine generelle Sympathie für das jüdische Volk aus.
Kurze, beschreibende Sätze mit nur einem Gliedsatz sind in diesen Passagen natürlich leicht zu lesen, aber bei längeren Satzperioden sieht man sich gezwungen, sich an den Beistrichen und Strichpunkten zu orientieren. Schließlich äußert Salomon im Gespräch mit dem französischen Diplomaten seine Lebensansichten, wodurch eine Romanpassage mit essayähnlichem Charakter entsteht. Salomon möchte einen Zeugen aus dem fortschrittlichen Westen für die sefardischen Juden gewinnen, die ihrer ehemaligen Heimat Andalusien immer noch nachtrauern. Er erwähnt das seltsame Schicksal der bosnischen Juden, umgeben von türkischen Machthabern und christlichen Untertanen, und will einem Vertreter Westeuropas die Situation der bosnischen Juden darlegen, bevor der Konsul abreist. Dieser ins Abstrakte und Gedankliche übergehende Inhalt ist für einen unreifen Leser eine echte Herausforderung.[15]
Andric´s bekanntestes Werk, „Na Drini c´uprija“, ist ohnehin ein durch kompositorische Tricks und das Leitmotiv, die osmanische Bogenbrücke, zu einem Roman verschmolzene Novellensammlung. Daher fällt es Redakteuren und anderen Lesern leicht, Geschichten mit jüdischer Thematik aus ihm auszusondern.
Die Erzählung „Ljubav u kasabi“ verrät schon durch ihren Titel (Sie könnte aus dem Roman „Eine Brücke über die Drina“ sein, erschien aber wesentlich früher.) ein weiteres Charakteristikum des Stils von Andric´, und zwar den gezielten Einsatz von Lehnwörtern aus dem Türkischen. Diese tragen zwar zum bosnischen Lokalkolorit bei und wirken romantischer als die ihnen entsprechenden stilistisch weniger markierten Synonyme, senken jedoch das Leseverständnis. Denn das Wort „kasaba“ (‚Städtchen) ist relativ selten und ruft daher keine so klare begriffliche Vorstellung im Leser hervor wie das zum Grundwortschatz zählende „grad“ und, obwohl man es versteht, wenn man gut Kroatisch kann, muss man über die passende Erklärung oder Übersetzung ein bisschen nachdenken. Im nun besprochenen Roman begegnet uns eine relativ leicht lesbare allgemeine Beschreibung der Provinzstadt Visˇegrad, die jedoch ausgefallene Vokabeln wie „usov“ (‚Lawine’) enthält. Visˇegrad liegt in einem Talkessel, bei zwei Bergflüssen. Da sich solche Beschreibungen bei Andric´ wiederholen, sind sie für einen Kenner des Autors um so leichter zu lesen. Und die Menschen altern im orientalischen Geschäftsleben rasch. Der Leser muss selbst erkennen, wie das dermaßen geschilderte Schicksal der Stadt mit dem Los von Individuen zusammenhängt, was aber nicht die Lesbarkeit, sondern nur das Tiefenverständnis beeinträchtigt.
Ledenik stammt aus dem kroatischen Adel und wird in Bosnien Forstbeamter, nachdem er bei der Armee in Ungnade gefallen ist. Er begegnet der sehr attraktiven Jüdin Rifka, der Tochter eines reichen Kaufmanns und ehemaligen Glasers. Sie zieht die Aufmerksamkeit der Handwerker auf sich, ja es kommt zu Kleinstadttratsch über ihr Verhältnis zu Ledenik. Auch in diesem Text tauchen seltene Wörter auf, vor allem bosnische Regionalismen. Einem ungeübten Leser, der nicht auf Serbokroatisch, sondern in einer anderen Sprache denkt, würden sogar ziemlich häufige Vokabeln wie „miraz“ (‚Mitgift’) Schwierigkeiten bereiten. Bloß der einem trivialen Roman ähnliche und spannende Inhalt rettet das Lesevergnügen.
Andric´ schildert den romantischen Briefwechsel zwischen Rifka und Ledenik, die einander zunächst nur aus der Ferne betrachten und sich dann am Zaun des Hauses der Eltern Rifkas treffen. Ledenik schreibt weiters einem Freund über seine Probleme, so dass sich Andric´ dem relativ leicht lesbaren Genre Briefroman nähert. Rifkas Bruder ist über dieses heimliche Abenteuer empört, verjagt Ledenik und schießt ihm sogar nach. Auch die jüdische Gemeinde ist gegen Mischehen. Ledenik zieht sich ins Försterleben zurück. Andric´ ist es mit dieser Geschichte wieder einmal gelungen, historische Trends, wie die Verwestlichung Bosniens im späten 19. Jahrhundert, meisterhaft zu schildern. Es kommt zum tragischen Selbstmord Rifkas, die in die Drina springt. Sie wird auf dem jüdischen Friedhof begraben. Bald darauf treibt ein heißer, trockener Sommer manche Kleinstadtbewohner zu abergläubischen Handlungen, ja gar zum Wahnsinn. Ledenik erfährt die tragische Geschichte und wird nach Sarajevo versetzt. Indes ist im Städtchen Visˇegrad ein neues, attraktives Mädchen aufgetreten, womit es zur Pointe wird, dass sich Menschenschicksale wiederholen. Wie eben erwähnt, ist die bloße Lektüre leichter als eine wie immer geartete Interpretation des zwischen den Zeilen Angedeuteten.[16] Meinen Lesefluss störte bei dieser Erzählung am meisten die korrekte und sachlich erforderliche, aber ausgefallene Lexik, z. B. das Verb „sˇtektati“ (‚kläffen’). Dieses Vokabel ist wesentlich seltener als „lajati“ (‚bellen’) und wird daher von Kroatischstudenten kaum gelernt.[17]
Alles, was ich bisher ausgeführt habe, soll in erster Linie meine These illustrieren, dass Andric´ wegen seines gehobenen Stils auch versierten und sehr interessierten Lesern Schwierigkeiten bereiten kann und dass ihn diejenigen, die eine andere Muttersprache als Serbokroatisch haben, anfangs nur lesen können, indem sie sich auf den Sinn einer Passage konzentrieren, ohne über die Bedeutung jedes einzelnen Vokabels nachzudenken (engl.: reading for gist).
„Lotika“ ist eine weitere Episode aus dem Roman „Na Drini c´uprija“. Ihre Hauptfigur, Lotika, ist eine jüdische Hoteleignerin. Sie ähnelt in ihrer fleißigen und besorgten Teilnahme am Geschäftsleben der imperialistischen Epoche einer anderen Andric´´figur, dem „Fräulein“ aus Andric´s gleichnamigem Roman, unterscheidet sich aber von letzterer durch ihr Familienleben. Überhaupt hilft es bei der Lektüre, wenn man sich in Andric´ und ähnliche Autoren eingelesen hat, weil einem die typischen Motive dann vertraut vorkommen. „Lotika“ enthält stilistisch schöne längere Sätze, die einen ermüdeten Leser aber etwas verwirren, z. B. den ersten: „ Jedini osvetljeni prozor na hotelu, koji je ostao kao posljednji znak budnog zˇivota te noc´i u kasabi, bio je onaj mali, na prvom spratu, gde se nalazi Lotikina soba “ (29 Wörter)[18]. In diesem inhaltlich leicht verständlichen Satz unterbricht ein eingeschobener Gliedsatz den Gedankenfluss, aber auch die Wortstellung entspricht nicht ganz unseren Erwartungen, weil sich die Personalform der Kopula „biti“ ziemlich weit hinten im Satz befindet. Man beachte auch die typisch serbische Wortwahl, etwa „sprat“ statt „kat“, an welcher man Andric´ sogar erkennen kann.
Lotika ist nach einem Arbeitstag sehr müde und muss oft an Rechnungen denken. Sie kann sich an die Zeit erinnern, als sie nach der österreichischen Okkupation Bosniens den Betrieb aufgebaut hat. Viel hat sich seit damals geändert: Der Wald am Stadtrand wurde abgeholzt, und viele neue Gastronomiebetriebe machen Lotika Konkurrenz. Ihre Aktiengeschäfte sind wegen widriger politischer Umstände gescheitert. In der Familie gibt es leider ein behindertes Kind. Aber auch sonst macht ihr die Jugend Sorgen, denn der Neffe Albert wird zum Leidwesen der Familie Sozialist und emigriert nach Südamerika, obwohl er im Gymnasium und beim Jusstudium geglänzt hat. Eine Nichte, die sich wegen der Ehe mit einem reichen Börsenmakler taufen hat lassen, verwitwet früh und wird versponnen und sonderbar. Lotika kämpft trotz allem gegen den sozialen Abstieg, und das geht ihr durch den Kopf, bevor sie sich schlafen legt. Das Verständnis erschweren seltenere Kollokationen wie „pomeriti pamec´u“. Außerdem ist es auffällig, dass andere Verwandtschaftsbezeichnungen als in der kroatischen Umgangssprache von heute verwendet werden, etwa „sinovac“ statt „nec´ak“ (‚Neffe’). Für den durchschnittlichen kroatischen Leser ist „Na Drini c´uprija“ jedenfalls mit einem Glossar zu versehen, was manche Verlage auch machen.
„Lotika“ hat anscheinend einen volkstümlichen Inhalt, da es um den Arbeitsalltag und Familienprobleme geht, jedoch erschwert die Erzähltechnik der zeitlichen Rückblende die Lektüre, während der historische und gesellschaftskritische Hintergrund des Fabulierens des Nobelpreisträgers die Erzählung über das bloß Triviale erhebt. Dadurch spricht Andric´ heutzutage breitere Leserkreise an. Dennoch zeigt sich, dass stilistische Faktoren die Lesbarkeit mehr beeinflussen als inhaltliche. Wäre nicht jeder in der Lage folgende einfache Formulierung des von mir zitierten Satzes (Fußnote 15) zu lesen: Samo jedan je prozor josˇ uvek osvetljen, a to je Lotikina soba. Taj prostor je na prvom katu hotela. Recimo da je to znak da se i noc´u zˇivi. “ (29 Wörter, Formulierung von mir)? So bestätigen sich die Erkenntnisse der Lesbarkeitsforschung immer wieder.[19]
Die gesellschaftskritische und ins Essayistische übergehende selbständige Erzählung „Pismo iz 1920. godine“ ist dafür bekannt, dass sie Bosnien als ein Land des Hasses kritisiert. Stilistisch interessant, aber weder schwerer noch leichter zu lesen, sind Nominalsätze ohne Verb am Anfang der Geschichte.
Deren Rahmenerzählung ist, dass der fiktionale Erzähler bald nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Bahnhof von Slavonski Brod einen seiner ehemaligen Mitschüler wieder sieht. Dieser Mitschüler ist Maks Levenfeldt, ein Arzt und Arztenssohn, sein Vater ist ein von Wien nach Sarajevo übersiedelter getaufter Jude. Als der Erzähler in die fünfte und Maks in die achte Klasse Gymnasium gingen, lernten sie einander im Zuge von Schülerdiskussionen kennen. Der Erzähler besucht Maks anschließend gelegentlich an Nachmittagen, an einem solchen liest ihm letzterer Goethes Gedicht „Prometheus“ vor. Der Erzähler ist vom sprachgewaltigen und rebellischen Text begeistert. Daraus ergibt sich ein angeregtes Gespräch, in dem sich Maks als Atheist „outet“. Dann trennen das Medizinstudium des Älteren und der Erste Weltkrieg die beiden. Der Text lässt die Deutung zu, dass Genialität und Atheismus große Ideale sind, aber er verkündet nicht plakativ eine Botschaft. Nach vielen Jahren wieder vereint, erzählen die beiden Freunde einander auf dem Bahnhof ihre Lebensschicksale. Maks war während des Kriegs an allen Fronten österreichischer Militärarzt, will jetzt seine Mutter in Triest besuchen und Bosnien für immer verlassen. Sein Freund fragt erstaunt, wovor er fliehe. Als der Zug ankommt, verlieren sie sich im Gedränge, doch kann der Erzähler Maks noch seine Belgrader Adresse zurufen. Er erhält circa 20 Tage später einen Brief von seinem Freund. Dieser Brief ist der zentrale Inhalt der Erzählung, wird daher als ganzer abgedruckt und besteht überwiegend aus kürzeren, ziemlich leicht lesbaren Sätzen. Die Standpunkte des auswanderungswilligen Arztes bringen sicher Andric´s humanistische und moderne Weltanschauung zum Ausdruck, wobei die Flucht als eine Metapher einer Ablehnung ohne Hass leicht durchschaubar ist. Auch kompliziertere Gedanken wie der Vergleich zwischen sehr wohl vorhandenen, aber verborgenen Moralvorstellungen und Bodenschätzen werden einfach formuliert, wie ein berühmtes Zitat zeigt: „ I kao sˇto se pod zemljom u Bosni nalaze rudna blaga, tako i bosanski cˇovek krije nesumnjivo u sebi mnogu moralnu vrednost koja se kod njegovih sunarodnika u drugim jugoslovenskim zemljama re∂e nalazi. “ (33 Wörter, aber ein übersichtlicher und daher für Leser in guter Verfassung leicht bewältigbarer Satz).[20]
Die Kernaussage des Briefs ist gar in sechs Worten poetisch formuliert, wodurch ein Höchstausmaß an Lesbarkeit erreicht wird, und zwar so: „ Bosna je zemlja mrzˇnje i straha. “[21]
Dieser Satz dient Andric´ als Vehikel für die prophetische und tiefsinnige Botschaft, dass die bosnischen Volksgruppen und Konfessionen sich gegenseitig unbewusst hassen, auch wenn man die gerechteren Einzelpersonen unter ihnen herausgreift, wogegen nur Toleranz helfen würde. Dagegen, so Maks, habe der Fortschritt ins 20. Jahrhundert nur wenig geholfen und man sei als Toleranter ein Außenseiter, weshalb er emigriere. Die Geschichte endet mit der erzählerisch genialen Umrahmung des Briefs, aus der wir erfahren, dass Maks in Paris ein wohltätiger Arzt wird und danach im spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger umkommt. Maks wird als intelligenter Sonderling geschildert, dessen „Heldentum“ der Menschheit nützt und dennoch scheitert. An in Kroatien weniger gebräuchlichen Vokabeln, die einem in diesem Text begegnen, sind etwa „neminovan“ (‚unumgänglich’) und „sopstven“ statt „vlastit“ zu nennen. Doch seine Kernaussage ist trotz dieser nicht alltäglichen Lexik leicht verständlich.
Obwohl unsere Erzählung öfters einen abstrakten Inhalt, nämlich die besondere Mentalität und Kultur Bosniens, zum Ausdruck bringt, ist sie wegen ihrer übersichtlichen Syntax und der gekonnten Verknüpfung von abstrakten und konkreten Inhaltskomponenten nicht schwerer zu lesen, als es eine Beschreibung alltäglicher Gegenstände durch denselben Autor wäre. Die Rahmenerzählung trägt dazu bei, dass die abstrakte Botschaft des Textes für den Leser nicht zu einem unanschaulichen Ballast wird, kann aber nicht verhindern, dass man sich beim Lesen mehr anstrengen muss als bei Trivialliteratur. Wäre der Brief, den ich das Kernstück der Erzählung genannt habe, in Schachtelsätzen mit seltenen Fachausdrücken formuliert, wäre er kein Lesevergnügen mehr.[22]
„Recˇi“ ist im Vergleich dazu eine Erzählung mit weniger spektakulären Gedanken und Ereignissen. Wie im zuvor besprochenen Text geht es um ein Wiedersehen zweier Mitschüler. Diesmal ist der Treffpunkt ein fahrender Zug, von dem aus der fiktionale Erzähler die Landschaft betrachtet. Er wird von seinem Mitschüler an der Schulter gepackt und angesprochen. Demezˇan, der Mitschüler, spricht ständig etwas Belangloses. Als er das anhört, beginnt der Erzähler darüber nachzudenken, was Worte für den Menschen eigentlich sind, und erinnert sich an ein lang zurückliegendes Ereignis. In diesem Textabschnitt dominieren kurze Sätze, die angenehm zu lesen sind, wie dieser: „ Cµovjek ga posmatra i slusˇa i pita se: kako uspeva da toliko govorec´i nista ne kazˇe “ (16 häufige Wörter).[23]
Das Lesen erschweren andererseits sehr lange Aufzählungen wie: „ Koliko se sec´am, uvek je bio takav, zdrav, ogranicˇen, neopterec´en mislima i nedirnut osec´anjima, prakticˇan, vedro samozˇiv i strahovito govorljiv “ (20 Wörter).[24] Weiters sind abstraktere Vokabeln wie „nasrtljiv“ (‚zudringlich’) dem Lesefluss abträglich, weil sie seltener im Alltagskroatisch verwendet werden und keine bildhafte Assoziation beim Leser hervorrufen.
Das von mir zuvor erwähnte Ereignis besteht darin, dass der Erzähler einmal in einem Pariser Jugendstilhotel gewohnt hat. Gäste dieses Hotels sind Menschen aller Art. Besonders auffällig ist aber ein Ehepaar, zwei alte Leute, welche die schon völlig veralteten Kostüme der Jahre um 1900 tragen. Die alte Frau ist eine vor Hitler aus Österreich geflüchtete Jüdin, die in ihren Spitzenkleidern immer bei ihrem Mann bleibt, aber gar nichts mit diesem spricht. Nachdem ihr Ehemann gestorben ist, berichtet sie dem Erzähler aus ihrem Leben, etwa dass ihr sterbender Mann ein Gespräch von ihr erbeten habe, ihr aber nichts eingefallen sei. So erinnert sie sich nach 30 Jahren Schweigen in der Ehe, bevor sie nach London weiterreist. Als der Zug aus der grünen Landschaft ins graue Belgrad kommt, geht der innere Monolog des Erzählers zu Ende. Vor dem Aussteigen spricht sein Mitschüler, bis er den Kofferträger ruft und sich verabschiedet. Der Lärm des Belgrader Bahnhofs kontrastiert mit dem großen Schweigen, an das der Erzähler gedacht hat.
Die Geschichte ist nicht schwer zu lesen, obgleich ihre Handlungsarmut irritiert und Lexeme wie der Serbismus „osmejak“ (‚Lächeln’- Vom Kroatischen kommend, würde man statt des j ein h erwarten.) und das seltene Adjektiv „otresito“ (‚barsch’) auffällig sind. Diese vordergründig ereignisarme Erzählung beweist, dass es schwer ist, einen allgemeinen Zusammenhang zwischen dem Inhalt eines Textes und seiner Lesbarkeit festzustellen. Man könnte sowohl von turbulenten Szenen als auch von statischen Schilderungen behaupten, sie kämen dem Leser besonders entgegen. Bei diesem Text von Andric´ erschwert der geschickte kompositorische Kunstgriff, dass die Haupthandlung von einer Rahmenerzählung umgeben wird, zusätzlich zu den stilistischen Faktoren das sinnerfassende Lesen. Angenehm wirken bei der Lektüre wie bei den meisten Andric´erzählungen die gelegentlich eingeflochtenen Dialoge bzw. direkte Reden.
Mir scheint, dass Andric´ mit der nun besprochenen Geschichte auch eine sanfte Kritik an der so genannten Nostalgie üben wollte, ohne dies explizit auszusprechen. Doch ist die Mehrdeutigkeit der Bezugnahme auf das frühe 20. Jahrhundert und Jugendfreundschaften nicht für jeden Leser, sondern nur für den Interpreten ein Problem. Mit anderen Worten, die Mehrdeutigkeit der Autorintention, welche bei literarischen Texten häufig ist, ist kein Faktor, der die Lektüre objektiv erschwert, sondern ihr Einfluss auf die Lesbarkeit ist nicht bei allen Lesern gleich. Auch das spricht dafür, dass sprachliche und stilistische Faktoren das Leseverständnis eines beliebigen Lesers am ehesten beeinflussen.[25]
„Deca“ thematisiert die Kindheit in einer bosnischen Gesellschaft, die heute sehr altmodisch wirkt. Im ersten Satz wird kurz angedeutet, dass ein älterer Ingenieur dem fiktionalen Erzähler und anderen ein Abenteuer aus seiner Kindheit berichtet. Man erfährt, dass der Ingenieur, als er noch ein Kind ist, in der Osterwoche in eine Rauferei mit bosnischen Juden verwickelt ist. Zwei Jungen wollen sich als Anführer christlicher Bubenbanden hervortun, und auch der spätere Ingenieur will in deren Bande mitmachen.
Wie öfters bei Andric´ stören allzu lange Beschreibungen bzw. Charakterisierungen und seltene Synonyme wie „svirep“ statt „okrutan“ den Lesefluss. Den Leser könnte der Orientalismus „mahala“ (‚Stadtviertel’) überraschen, der für Bosnien aber typisch ist. Ebenso ist es wegen des Lokalkolorits verständlich, dass anstelle der für Kroatien typischen Vokabeln mit der Bedeutung Zaun, „plot“ bzw. „ograda“, das Pluralwort „tarabe“,[26] ein Turzismus, verwendet wird. Das Lexem „tarabe“ lässt den Leser daneben an den Zauntyp Lattenzaun denken. Diese Wortwahl beweist aber, dass die Synonymik des variantenreichen Serbokroatisch auch für den Muttersprachler schwierig zu lesen und zu schreiben sein kann.
Am Gründonnerstag wird beschlossen, am Karfreitag einen antisemitischen Lausbubenstreich durchzuführen. So geschieht er: Ein Bub ist mit einem Jägerstab bewaffnet, ein zweiter mit einem Gummirohr. Die Jungen erwischen jüdische Kinder, welche von den Andric´figuren mit dem seltenen, schwer übersetzbaren Schmähwort „cˇifucˇad“ (in etwa Judenbrut) bezeichnet werden, und versuchen diese zu verprügeln. Obwohl die Judenkinder die Flucht ergreifen, gelingt es der Bande, einen versteckten jüdischen Knaben aufzuspüren. Dieser wird von den christlichen Kindern gehetzt, die ihn verprügeln. Der spätere Ingenieur hindert sein verzweifeltes Opfer nicht an der Flucht . Es ist nicht ganz klar, warum der kleine Jude entkommt. Die anderen Jungen sind auf den Erzähler böse und spucken ihn sogar an. Er schämt sich und erinnert sich daran als an die besonderen seelischen Nöte eines Kindes. All das ähnelt vom Inhalt her einem trivialen Abenteuerroman für Kinder, ist aber trotzdem schwerer zu lesen. Das liegt natürlich am besonderen Stil des bosnischen Nobelpreisträgers, jedoch auch daran, dass dem Leser nicht alle Einzelheiten von einem allwissenden Erzähler dargeboten werden und dass die Darstellung der Erinnerung an das besondere Seelenleben des Kindes einen komplexeren Gedanken bedeutet als die bloße Schilderung einer Rauferei unter Schulbuben. Wieder einmal zeigt sich, dass der Einfluss der vordergründigen Handlung selbst auf die Lesbarkeit kaum wahrnehmbar ist. Eine sinnerfassende Lektüre dieser Erzählung wird auch dadurch erschwert, dass einige sprachliche Ausdrücke, wie „slabina“ (‚Seite’, ‚Weiche’), keine eindeutige und konkrete Vorstellung hervorrufen, ja eine Umschreibung, eventuell ein Euphemismus, sein könnten.[27]
Ein längerer Text ist die Erzählung „Bife Titanic“. In ihm sind mir einige längere Sätze unangenehm aufgefallen, z. B. der erste Satz der Geschichte: „ Pre nego sˇto c´e ustasˇke vlasti pocˇeti sistematski i u velikim grupama da odvode sarajevske Jevreje tobozˇe u radni logor, a u stvari na prvo gubilisˇte, rasˇtrkale su se pojedine ustasˇe u uniformi i u civilu i razne njihove uhode i pomocˇnici po jevrejskim kuc´ama, i stali da otimaju novac i nakit, tucˇom, pretnjama, iznu∂ivanjem ili lazˇnim obec´anjima, vec´ prema prilikama, prema kuc´i u koju su upadali i ljudima na koje su udarali. “ (73 Wörter, sechs seltene Wörter, sehr schwer zu lesen).[28]
[...]
[1] Siehe: http://www.amazon.de/product-reviews3423127627/ref=dp_top_cm_cr_acr_txt?ie=UTF8&showViewpoints=1
[2] Krsmanovic´, Marija (1967): Neki rezultati merenja cˇitljivosti naucˇno-popularnih i udzˇbenicˇkih tekstova. Beograd: Institut za pedagosˇka istrazˇivanja. S. 113/114.
[3] Andric´, Ivo (1991): Jevrejske pricˇe. Beograd: Narodna knjiga. S. 129.
[4] Ebenda: S. 130.
[5] Ebenda: S. 132.
[6] Vgl.: ebenda. S. 128 – 133.
[7] Ebenda. S. 5.
[8] Ebenda. S. 6.
[9] Ebenda. S. 5 – 13.
[10] Ebenda. S. 14 – 17.
[11] Ebenda. S. 18.
[12] Ebenda. S. 18 – 22.
[13] Vgl.: Hurm, Antun; Jakic´, Blanka (1999): Hrvatsko-njemacˇki rjecˇnik. Zagreb: Sµkolska knjiga. S. 5.
[14] http://riznica.ihjj.hr/philocgi-bin/search3t?dbname=Riznicahr&word=anterija . Hiermit beziehe ich mich auf ein Onlinewörterbuch der in der kroatischen Literatur verwendeten Wörter.
[15] Andric´, Ivo (1991): Jevrejske pricˇe. Beograd: Narodna knjiga. S. 23 – 31.
[16] Ebenda. S. 32 – 44.
[17] Ebenda. S. 44.
[18] Ebenda. S. 46.
[19] Ebenda. S. 46 - 56.
[20] Ebenda. S. 67.
[21] Ebenda. S. 67.
[22] Ebenda. S. 57 – 73.
[23] Ebenda. S. 75.
[24] Ebenda. S. 74.
[25] Ebenda. S. 74 – 81.
[26] „Tarabe“ kommt in der kroatischen Literatursprache gelegentlich vor, ist also wesentlich häufiger als „anterija“ und andere Worte, die bloß die orientalische Welt beschreiben. Dieses Wort für Zaun erschwert zwar das Lesen, muss aber nicht unbedingt in einem Glossar angegeben werden. Siehe: http://riznica.ihjj.hr/philocgi-bin/search3t?dbname=Riznicahr&word=tarabe .
[27] Andric´, Ivo (1991): Jevrejske pricˇe. Beograd: Narodna knjiga. S. 82 – 89.
[28] Ebenda. S. 90.
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- Magister (Mag. phil.) Ivo Marinsek (Author), 2010, Zur Lesbarkeit südslawischer Belletristik im Vergleich mit populärwissenschaftlichen Texten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195479
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