Selbst wenn die Wolfskind-Forschung längst kein Randgebiet mehr darstellt, sondern die historiografische Fachliteratur – mit den Worten des Historikers Hansjörg Bruland – eher „kaum mehr zu überblicken“ ist, fällt dennoch nicht nur auf, dass sich entsprechende Einzelstudien auf bestimmte Fälle wie Jean Itards Victor von Aveyron oder Kaspar Hauser beschränken.
Vielmehr liegt der Fokus insgesamt – selbst in den entsprechenden Kompendien – eindeutig auf den Diskussionen um jene wilden Kinder in der Frühen Neuzeit, die im europäischen Raum aufgefunden worden sind. Sträflich vernachlässigt wird dabei jedoch die Tatsache, dass die Thematik der europäischen Wolfskinder in der Publizistik seit dem 19. Jahrhundert zwar stark an Bedeutung verliert, das europäische Interesse an außereuropäischen wilden Kindern jedoch gleichzeitig eindeutig im Wachstum begriffen ist.
Diesem Forschungsdesiderat möchte diese Bakkalaureats-Arbeit wenigstens stellenweise Abhilfe verschaffen. Angeregt durch das Kapitel Passage nach Indien in dem einschlägigen Überblickswerk von Blumenthal, das eindrücklich die Vielzahl der im 19. und 20. Jahrhundert bekannt gewordenen Fälle von indischen Wolfskindern deutlich macht, wird die Wahrnehmung und Darstellung dieser auf den folgenden Seiten genauer untersucht werden.
Um das Thema einzugrenzen, soll dabei lediglich die Thematisierung und Deutung der indischen Wolfskinder in der britischen Publizistik aus der zweiten Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts im Zentrum stehen. Diese Fokussierung ist aus zwei Gründen besonders sinnvoll und vielversprechend: Zum einen erscheint der geografische Schwerpunkt auf Großbritannien plausibel, da indische feral children von den 1850er Jahren bis in die 1920er tatsächlich überwiegend in britischen Medien – Zeitungen, Magazinen, Reiseberichten und der Belletristik – auftauchen und in der Publizistik anderer Ländern kaum erwähnt werden.
Zum anderen ist die Konzentration auf Sichtweise und Deutungsstrategien der Kolonialherren – ein großer Teil Indiens befindet sich bekanntermaßen seit 1859 nicht mehr in der Hand der Britischen Ostindiengesellschaft, sondern im Besitz der britischen Krone – allein deshalb interessant, weil sich hierbei die Gelegenheit bietet, die Thematisierung der Wolfskinder im Licht der postkolonialen Studien zu untersuchen und diese zwei Forschungszweige zweckmäßig miteinander zu verknüpfen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG: MOWGLI UND ORIENTALISMUS
1.1 EINFÜHRUNG IN DIE AUFGABENSTELLUNG DER BAKKALAUREATS-ARBEIT
1.2 SAID, BHABHA UND CO.: DIE THEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER BAKKALAUREATS-ARBEIT
2. THE INDIANS ARE „IN EVERY WAY DIFFERENT.“ DAS BRITISCHE INDIENBILD VON DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. BIS ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS
3. “INDIA’S WOLF-CHILDREN FOUND IN CAVES.” INDISCHE WOLFSKINDER IN DER BRITISCHEN BERICHTERSTATTUNG VON 1850 BIS 1930
3.1 EINE KURZE EINFÜHRUNG IN DIE BEKANNT GEWORDENEN FÄLLE VON INDISCHEN WOLFSKINDERN
3.2 ART UND WEISE DER THEMATISIERUNG DER FERAL CHILDREN IN DER SACHLICHEN BERICHTERSTATTUNG
4. EIN „MOWGLI, [], DER AUF EINEN KIPLING WARTET[?]“ INDISCHE WOLFSKINDER IN DER BRITISCHEN BELLETRISTIK ENDE DES 19./ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS
4.1 DIE WOLFSJUNGEN DES RUDYARD KIPLING: INDISCHE FERAL CHILDREN IN DEN MOWGLI-GESCHICHTEN DER JUNGLE BOOKS (1894/5) UND IN DER KURZGESCHICHTE IN THE RUKH (1893)
4.2 VASHTI ODER DAS BIEST: DER INDISCHE PANTHERJUNGE IN SEXTON BLAKE’S ADVENTURES IN INDIA (1905) VON WILLIAM MURRAY GRAYDON
4.3 JUNGLE BOOK, RELOADED? JUNGLE-BORN (1925) VON JOHN SEYMOUR EYTON
5. DIE ‚WILDEN‘ UND DIE ‚ZIVILISIERTEN‘. ABSCHLIEßENDE BEWERTUNG DES BRITISCHEN WOLFSKIND- DISKURSES IM 19./20. JAHRHUNDERT
5.1 DIE SPEZIFISCHEN CHARAKTERISTIKA DES DISKURSES: ERGEBNISSE DES VERGLEICHS ZWISCHEN SACHLICHER BERICHTERSTATTUNG UND BELLETRISTIK
5.2 DIE VERGESSENEN FERAL CHILDREN INDIENS - EIN AUSBLICK
6. BIBLIOGRAFIE
6.1 QUELLEN
7.2 SEKUNDÄRLITERATUR
7. ANHANG
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