Die Montessori-Pädagogik als Konzept der Selbstbildung
Die Erziehung zur Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit in einem Konzept der Selbstbildung, Entwicklungsmaterialien, die Polarisation der Aufmerksamkeit und der absorbierende Geist des Kindes. Bei Montessori geht es darum, Wahrheiten immer wieder selbst entdecken zu dürfen. Die kosmische Aufgabe des Menschen.
Maria Montessori - der Zugang zum Selbstbildungsprozess Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung "psychische Reaktionen" sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori bezog aber auch noch einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch - didaktischen Situationen. Langwierige und in der Stille betriebene Versuche, zu denen sie von Itard und Séguin angeregt wurde, bezeichnet Montessori als ihren ersten Beitrag zu Erziehung. Die eigentliche Experimentalphase war die Zeit von 1898 bis 1900. Die Gestaltung des römischen Kinderhauses in San Lorenzo stellte bereits die Anwendung dieses Beitrages dar und brachte eine Entdeckung, die zum Kristallisationspunkt aller weiteren experimentalpsychologischen Forschung wurde - die Polarisation der Aufmerksamkeit. Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist das Schlüsselphänomen, dessen Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen "einen wichtigen Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut." Das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit entdeckte Maria Montessori bei der Beobachtung eines dreijährigen Kindes, das sich mit den Einsatzzylindern beschäftigte, doch dazu kommen wir erst später.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung in das Thema
2. Maria Montessoris Lebenslauf und die Beschreibung Ihrer Persönlichkeit
3. Kritik an der Schule
4. Casa dei bambini
5. Die Bewegung
6. Das Diplom
7. Itard und Séguin und ihr Einfluss auf Montessori ( „Die Lehrmeister“ )
8. Das Montessori Arbeitsmaterial
9. Kurzer Überblick über die Maria Montessori-Methode
10. Die Rechte des Kindes
11. Bedingung der Erziehung: Verständnis der Erwachsenen
12. Relevanz und Verbreitung des Modells Maria Montessoris in Kultur und Praxis
13. Zusammenfassung
14. Quellennachweis
1. Einführung in das Thema
Die Montessori-Pädagogik als Konzept der Selbstbildung
Die Erziehung zur Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit in einem Konzept der Selbstbildung, Entwicklungsmaterialien, die Polarisation der Aufmerksamkeit und der absorbierende Geist des Kindes. Bei Montessori geht es darum, Wahrheiten immer wieder selbst entdecken zu dürfen. Die kosmische Aufgabe des Menschen.
Maria Montessori – der Zugang zum Selbstbildungsprozess
Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung “psychische Reaktionen” sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück. Maria Montessori bezog aber auch noch einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret gestalteten pädagogisch - didaktischen Situationen. Langwierige und in der Stille betriebene Versuche, zu denen sie von Itard und Séguin angeregt wurde, bezeichnet Montessori als ihren ersten Beitrag zu Erziehung. Die eigentliche Experimentalphase war die Zeit von 1898 bis 1900. Die Gestaltung des römischen Kinderhauses in San Lorenzo stellte bereits die Anwendung dieses Beitrages dar und brachte eine Entdeckung, die zum Kristallisationspunkt aller weiteren experimentalpsychologischen Forschung wurde – die Polarisation der Aufmerksamkeit.
Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist das Schlüsselphänomen, dessen Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen “einen wichtigen Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut.” Das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit entdeckte Maria Montessori bei der Beobachtung eines dreijährigen Kindes, das sich mit den Einsatzzylindern beschäftigte, doch dazu kommen wir erst später.
2. Maria Montessoris Lebenslauf und Beschreibung Ihrer Persönlichkeit
Sie wird im Jahr der staatlichen Einigung Italiens, am 31. August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona in Italien geboren.
Ihr Vater, Alessandro Montessori (1832-1915), ist Finanzbeamter, die Mutter, Renilde Montessori, geborene Stoppani (1840-1912), stammt aus einer Gutsbesitzerfamilie und ist die Nichte des hervorragenden Naturwissenschaftlers Antonio Stoppani.
Der Vater, eher einer kleinbürgerlichen Schicht zuzuordnen, entwickelt deutlich konservative Züge. Hingegen ist die Mutter hochgebildet und vertritt liberale Ansichten. Sie reagiert auf Zeitveränderungen gegenüber aufgeschlossen.
Maria Montessoris Vater Alessandro hatte Arithmetik und Rhetorik studiert und wird 1850 Angestellter in der Finanzbürokratie des Vatikans. 1863 wird er Inspektor für die Abgaben der Salz- und Tabakindustrie in der Finanzverwaltung der Romagna. In dieser Funktion kontrolliert er 1865 in Chiaravalle die dortige Tabakindustrie und lernt dort Renilde kennen. Sie heiraten 1866. 1873 wird Alessandro nach Florenz versetzt. 1875 wird er nach Rom versetzt, wo dann das Ehepaar Montessori bis zu seinem Tod leben wird.
Die Biographin Maria Montessoris, Rita Kramer, schildert das Ehepaar Montessori so:
"Sie waren ein anziehendes Paar: Er mit lockigem, dunklem Haar und einem dunklem Schnauzbart, sie rundlich, wie es Mode war, rundäugig und mit sanften Zügen. Wenn sie in der Stadt spazieren gingen, Alessandro in einem Straßenanzug, geschmückt mit einer baumelnden Uhrkette, und Renilde in wohlanständigem Schwarz, den Spitzenkragen mit einem kleinen, goldenen Kreuz verziert und eine Rose, in den auf dem Kopf hoch aufgetürmten Locken, erschienen sie einem Bild der Achtbarkeit und
Prosperität" (Prosperität = Wohlstand, Blüte, Duden)
Renilde erzieht ihr einziges Kind zur Selbstdisziplin. Auch soll Maria für arme Familien stricken und ein behindertes Kind in der Nachbarschaft bei Spaziergängen begleiten. Aussagen zur Kindheit Maria
Montessoris bieten ihre beiden Mitarbeiter: Anna Maccheronis, die sie 1907 kennenlernte und Edward M. Standing, den sie 1921 kennenlernte. Maria besaß schon als Kind ein starkes Gefühl für persönliche Würde und konnte andere Kinder durchaus verbal herabsetzen. Außerdem soll sie auch schon als Kind eine friedensstiftende Wirkung gehabt haben.
"Frieden zu stiften - und allen Benachteiligten zu helfen - sollte ihr ganzes Leben lang ihr Hauptanliegen sein."
Als ihre Eltern sich stritten, soll Maria einen Stuhl zwischen beide geschoben haben, sich darauf gestellt und die Hände der Eltern ineinander gelegt haben. Sie soll, allen Berichten nach, als Kind selbstbewusst, willensstark aber auch selbstgefällig und deutlich Ichbezogen gewesen sein. Sie hatte keine Geschwister und genoss die völlige Zuwendung ihrer Eltern, was sicher auch zu der Entwicklung ihrer Charakterzüge beitrug.
Mit fünf Jahren zieht Maria mit ihren Eltern nach Rom, eine Stadt, die durch anregende Atmosphäre
fasziniert und wesentlich bessere Bildungsmöglichkeiten bietet als die Provinz. Maria wächst dann in Rom auf.
Sie scheint in der Grundschule zunächst keinerlei Ehrgeiz zu haben. Standing berichtet von einer Erinnerung Maria Montessoris aus der Schule:
"Eine unserer Lehrerinnen war von der fixen Idee besessen, das Auswendiglernen von Lebensläufen
berühmter Frauen müsse uns zur Nachahmung anspornen. Jede ihrer Erzählungen schloss mit der
Mahnung: "Auch Ihr solltet nach Ruhm streben! Möchtet ihr denn nicht berühmt werden?" - "Oh nein" gab ich ihr eines Tages trocken zur Antwort, "Ich will nicht berühmt werden. Ich habe viel zu viel Mitleid mit den Kindern der Zukunft, als dass ich die Liste um eine Biographie verlängern möchte.""
Die Klassen waren damals überfüllt und die LehrerInnen schlecht ausgebildet. Die damaligen Schulen
vermochten geistige Kräfte nicht zu entwickeln und vertraten die Stock- und Paukdidaktik. Es überrascht nicht, dass sich Maria trotz ihrer hohen Intelligenz nicht auszeichnet. Allmählich sucht sie dann doch den schulischen Erfolg. Sicher hat ihre Mutter hier eine Rolle gespielt. Sie wollte für ihre Tochter eine hochqualifizierte Ausbildung und spätere Berufstätigkeit. Maria beginnt intensiv zu lesen und beschäftigt sich vor allem mit Mathematik. Gegen Ende der Grundschulzeit nimmt sie das Mathematikbuch sogar zu Theaterbesuchen mit, um es während der Vorstellung zu studieren.
Nach der sechsjährigen Grundschule tritt sie mit dreizehn Jahren, im Herbst 1883, in die "Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarotti" ein. Dies ist eine naturwissenschaftlich - technische Sekundarschule. Der Abschluss berechtigt zum Hochschulstudium. Die Unterrichtspraxis ist lehrbuchorientiert. Selbständiges Erkunden und Erforschen von fachlichen Zusammenhängen gibt es nicht. Möglicherweise haben sich hier erste Aspekte eines Konzepts selbstaktiven Lernens bei Montessori herausgebildet. Denn Selbständigkeit und eigenes Tun ist ja zentrales Element ihrer
Entwicklungspädagogik. Der Fächerplan ist modern: Dem dreijährigem Kurs mit Mathematik,
Französisch, Buchhaltung, Geschichte, Erdkunde und eine Einführung in die Naturwissenschaften, folgt der vierjährige Kurs mit modernen Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch), Mathematik,
Physik und Chemie, dazu kommen noch "kommerzielle Fächer". Aus dem Lehrbuch wird vom Lehrer vorgetragen, der Lehrbuchtext muss auswendig gelernt und im Gedächtnis behalten werden. Schulischer Unterricht ist präzise Reproduktion gespeicherten Wissens. Die Entscheidung für diese Schule war damals höchst ungewöhnlich. Mädchen gingen äußerst selten in die Sekundarschule und wenn dann auf das "Ginnasio", weil es gesellschaftlich brauchbare humanistische Allgemeinbildung vermittelte. Maria spielt mit dem Gedanken Ingenieur zu werden. Die Eltern bevorzugen den Lehrerberuf als Ausbildungsziel. Doch die Mutter stellt sich auf Marias Seite und unterstützt sie. Alessandro Montessori sieht in dem Wunsch der Tochter eine Neuerung, die mit seiner konservativen Weltanschauung nicht zu vereinbaren ist.
Die Tatsache, dass Maria Montessori dieses Drillsystem mit vorzüglichen Leistungen absolviert und trotzdem später in kreativer Weise eine neue und weltweit rezipierte Erziehungskonzeption zu schaffen vermag, ist ein eindeutiger Beleg für die "Genialität" Maria Montessoris. 1886 machte sie den Abschluss des dreijährigen Kurses mit guten Leistungen in allen Fächern und besucht den weiterführenden vierjährigen Kurs. Auch hier ist sie erfolgreich. Insbesondere ihre Leistungen in Mathematik sind hervorragend. Gegen Ende der Institutzeit ändert sich ihr Berufsziel. Sie will Ärztin werden und Medizin studieren. Ihr Vater wird 1890 mit dem drängenden Wunsch seiner zwanzigjährigen Tochter konfrontiert, Ärztin werden zu wollen, obwohl der Arztberuf eine absolute Domäne des Mannes war. Es gab in Italien keine einzige Ärztin. Sich ihm gegenüber durchzusetzen gelingt ihr soweit, dass er das Studium nicht verbietet, sich aber deutlich von ihr distanziert. Sie führt mit dem Professor für klinische Medizin an der Universität in Rom ein Gespräch, um die Zulassung zur Aufnahme zu erreichen. Der Versuch endet negativ. Montessori soll nach dem Gespräch gesagt haben: "Ich weiß, daß ich Ärztin werde".
Das Medizinstudium bestand aus zwei vormedizinischen naturwissenschaftlichen Studienjahren und aus vierjährigen Kursen in Pathologie, Anatomie und klinischer Medizin. 1890 schreibt sich Montessori als Studentin der Mathematik, Physik und Naturwissenschaften an der Universität Rom ein und konzentriert sich auf die vormedizinischen Fächer. 1892 legt sie die Prüfung auch in Latein und Italienisch mit sehr gutem Erfolg ab und bekommt damit das Berechtigungszertifikat um das klinische Studium der Medizin studieren zu können. Sie stellt den Antrag und setzt sich für die Zulassung ein.
Zeitungsmeldungen behaupten, Papst Leo XIII habe sich für die Zulassung von Maria Montessori ausgesprochen.
Sie beginnt im Herbst 1892 das Medizinstudium. Die Studienbedingungen gleichen der Unterrichtspraxis in den Schulen. Prüfungen beziehen sich auf Vorlesungen, deren Inhalt genauestens wiedergegeben werden müssen. Man kann sich Skripte ausleihen und den Lehrstoff am Semesterende aneignen. Montessori lebt weiterhin bei Ihren Eltern, besucht die Vorlesungen und arbeitet zu Hause ihre Notizen durch. Sie ist nicht nur intelligent und fleißig, sondern auch dem Leben außerhalb des Studiums nicht abgeneigt. Sie ist hübsch, kleidet sich adrett, hat gepflegte Umgangsformen und isst gerne. Im Studium fällt sie in zweifacher Weise auf: Einmal als Frau und als fleißige und lernbegierige Studentin. Hierzu ein Beispiel, dass ihren Lerneifer verdeutlicht: Einen Bericht über einen Professor der Medizin, der während der Studienzeit Montessoris Dozent war.
"An einem seiner Vorlesungstage tobte in Rom ein so gewaltiger Schneesturm, dass alle Hörer wegblieben, bis auf einen allerdings, und das war die "Hörerin". Als sie sich nun allein im Hörsaal fand schlug sie dem Dozenten bescheiden vor, die Vorlesung zu verschieben, wovon er aber nichts wissen wollte, denn solcher Eifer musste seiner Meinung nach belohnt werden. Also hielt er seine Vorlesung wie immer - nur diesmal vor einer einköpfigen Hörerschaft."
Ihre Mutter unterstützt Maria im häuslichen Studium. Ihr Vater distanziert sich von ihr. Die Distanz ihres Vaters belastet sie stark, aber glücklicherweise löst sich dieser Konflikt gegen Ende des Studiums auf.
Maria Montessori schreibt während ihrer Studienzeit einen Brief an Clara. Er berichtet von den persönlichen Problemen der jungen Medizinstudentin in der Anatomie und im Umgang mit dem Menschen als Leiche. Die erste Vorlesung fand im "Anatomischen Institut" statt. Montessori war abgestoßen von den Skeletten, Organen und Eingeweiden, die in Spiritus eingelegt waren. Die Leichen und die Knochen, mit herabhängendem rosa Fleisch, machten ihr Angst und ihr wurde schlecht. Der Weg, ihr Ziel zu verwirklichen erschien ihr fürchterlich und sie dachte daran, ihr Studium aufzugeben. Auch ihre Eltern rieten ihr dazu.
Eine Szene aus ihrem Leben wurde berühmt dafür, dass sie das Studium fortgesetzt hat. Die Szene wird auch als Schlüsselerlebnis zur Begründung des Studiums bezeichnet:
"Eines Tages war sie verzweifelt, dass sie sich dem ungleichen Kampf nicht mehr gewachsen fühlte. Als sie an diesem Abend die Anatomie verließ, war sie entschlossen, die Waffen zu strecken und nach einem anderen, weniger steilen Pfad zu suchen. Ihr Heimweg führte damals durch den um diese Stunde fast menschenleeren Pincio-Park. Während sie noch über ihren Entschluss nachgrübelte, kam sie an einer ärmlich gekleideten Frau mit einem kleinen, etwa zehnjährigen Kinde vorüber. Die unordentliche, schmutzige Person, offenbar eine gewerbsmäßige Bettlerin, begann sogleich um Almosen zu flehen. Während die Mutter ihr Klagelied sang, saß das kleine Wesen völlig unbeteiligt am Boden und spielte mit einem bunten Papierfetzen. Der Ausdruck glücklicher Selbstvergessenheit auf dem Gesichtchen des mit ganzer Seele seinem wertlosen Spielzeug hingegebenen Kindes, erregte in der zuschauenden Studentin ein Gefühl, dass kaum besser als mit dem Vers Matthews Arnolds beschrieben werden kann: "Ein Riegel wurde in der Brust zurückgestoßen und ein verlorenes Gefühl ward neu." Ohne sich deuten zu können, was sie empfand, machte sie kehrt und ging geradewegs in die Anatomie zurück. Von Stund an war ihr Widerwille gegen die unsympathische Stätte erloschen und erwachte niemals wieder. Als sie später einmal von diesem Vorfall erzählte, sagte sie: "Erklären kann ich es nicht. So ist es gewesen. Vermutlich kommt ihnen diese Geschichte ziemlich dumm vor, und wenn Sie sie jemand erzählen, würde er sie lächerlich finden.""
Die Szene gewinnt an Authentizität wenn man bedenkt, dass Maria Montessori sich in ihren beiden letzten Jahren vor ihrer Promotion zur Expertin für Kinderkrankheiten ausbildet und mit kranken und geistig behinderten Kindern im Krankenhaus und in der Psychiatrie Umgang hat.
Die spätere Theorie Montessoris lautet:
"Auch das leiblich - organisch gesunde Kind, kann "krank" sein, das heißt nicht "normal" sein und bedarf entsprechender Zuwendung und spezifischer Mittel, um sich durch die eigenen Kräfte mit Hilfe der Mittel zu normalisieren."
1894 gewinnt sie auf Grund ihrer Leistungen in Pathologie einen Preis der Rolli - Stiftung (Abteilung für Chirurgie) und 1895 einen Wettbewerb um eine vorzeitige Assistentenstelle in der Klinik. Sie sammelt früh praktische, klinische Erfahrungen. 1895 / 1896 arbeitet sie am Frauenkrankenhaus "San Salvatore al Laterno" und am Männerkrankenhaus "Ospedale Santo Spirito in Sassia" als Hilfsassistenzärztin, außerdem in der Ambulanz des römischen Kinderkrankenhauses und assistiert bei Operationen auf der Unfallstation im Notdienst.
In den beiden Jahren vor dem Examen spezialisiert sich Maria Montessori auf Kinderheilkunde und wird Expertin für Kleinkinderkrankheiten. In der psychiatrischen Klinik sammelt sie Material für die Doktorarbeit, die sich mit klinischen Problemen des Verfolgungswahns beschäftigt. Jeder Medizinstudent war verpflichtet im letzten Studienjahr vor seinen Mitkommilitonen einen Vortrag zu
halten. Viele Zuhörer kamen nicht aus Interesse am Vortrag Montessoris, sondern in der Hoffnung auf einen Skandal. Sie behandelte ihr Thema ausgezeichnet, trug es brillant vor und faszinierte die Zuhörer durch ihre Persönlichkeit. Am Morgen des Vortrages trifft Allessandro Montessori in der Stadt einen Freund, der ihn fragt, ob er denn nicht zu dem Vortrag seiner Tochter geht. Der Vater, der das berufliche Interesse seiner Tochter vollständig ignoriert, weiß nichts von dem Vortrag, geht aber, nachdem er überredet wird, mit. Nach der Vorlesung wird er von vielen Menschen umringt, die ihn zu seiner Tochter beglückwünschen. Die Entfremdung zwischen Vater und Tochter hat sich in dieser dramatischen Szene gelöst.
1896 legt Maria Montessori ihre Doktorarbeit zum Thema "Contributo clinico allo studio delle Allucinazioni a continuto antagonistico" (Ein klinischer Beitrag zum Studium des Verfolgungswahns) vor, eine Arbeit von 96 handschriftlichen Seiten. Sie erhält als erste Frau Italiens das Promotionsdiplom. Ihre Leistungen sind vorzüglich: Von maximal 110 Punkten erreicht sie 105. Ihre Doktorurkunde muss handschriftlich umgeändert werden, denn der Vordruck sieht nur männliche Absolventen vor. Trotz der damaligen Ärzteschwemme sind die beruflichen Aussichten für Montessori glänzend.
Ihr Abschluss wird groß gefeiert. Es ist eine Familienfeier, an der auch der Vater voller Stolz teilnimmt, sowie auch Professoren sie durch ihre Teilnahme am Fest ehren. Die Presse Roms berichtet von der ersten "dottoressa" Italiens. Sie steht jetzt in der Öffentlichkeit. In einem Brief an Clara schreibt Montessori:
"Ich bin nicht berühmt wegen meines Könnens oder meiner Klugheit,
sondern wegen meines Mutes und meiner Kaltblütigkeit gegen alles."
Sie eröffnet eine Privatpraxis und wird auf Grund ihrer hervorragenden Leistungen am Krankenhaus "San Giovanni", das der Universität untersteht, als Assistenzärztin angestellt. 1896 nimmt sie am Internationalen Frauenkongress in Berlin teil und erregt durch Vorträge zur Frauenemanzipation in Italien Aufsehen. Im November wird sie Assistenzärztin in der Chirurgie am Männerkrankenhaus in Sassia. Ende 1896 erscheinen ihre ersten medizinische Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. 1897 übernimmt sie eine Assistentur an der psychiatrischen Klinik der Universität. Hier lernt sie Dr. Giuseppe Montesano kennen, mit dem sie zur Ausbildung von Lehrern für geistig behinderte Kinder eng zusammenarbeitet.
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- Quote paper
- Andrea Schulze (Author), 2003, Reformpädagogik nach Maria Montessori, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19278
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