Vom Wiegen wird das Schwein nicht fett. Oder doch?

Über die Wirkungen internationaler Schulleistungsstudien


Essay, 2012

11 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Einleitung

Mehr als 20 Jahre hat es gedauert bis Deutschland sich wieder an internationalen Schulleistungsuntersuchungen beteiligt hat (TIMSS-Studie: vgl. Kohler 2005, S. 13; Lange 2002 S. 455; Drechsel/Prenzel 2008 S. 82). Dabei erlebte die deutsche Bildungslandschaft einen wahren Schock: Deutschland wurde in seinen grundlegenden Annahmen über das deutsche Bildungssystem bis ins Mark erschüttert. Die Defizite und Differenzen bei deutschen Schülern im Vergleich zur internationalen Spitzengruppe wurden erbarmungslos offengelegt und diagnostiziert; speziell was die Kompetenzen der Lernenden in der Sekundarstufe I in Mathematik, den Naturwissenschaften Biologie, Physik und Chemie in der TIMSS-Studie sowie der Lesekompetenz bei PISA betraf (Ergebnisse und Befunde von PISA und TIMSS: vgl. dazu Köller 2009 S. 147-149). Auch die Leistungsunterschiede zwischen unterschiedlichen Bundesländern und innerhalb verschiedener, aber vergleichbarer Schulformen erschreckten zusätzlich die nationale Bildungspolitik und bescherten Deutschland eine bisher nie da gewesene Bildungsdebatte über Sinn und Unsinn von vergleichenden Schulleistungsstudien (vgl. Kohler 2005, S. 13; Hosenfeld/Groß Ophoff/Bittins 2006, S. 8). Durch TIMSS und PISA wurde Bildung wieder zum Thema. Es stiegen der Wunsch und das Interesse, der Schule wieder mehr Beachtung zu schenken und den Bildungsbereich systematisch und auf Dauer zu beobachten und zu untersuchen (vgl. Drechsel/Prenzel S. 82). Während die Debatte in vollem Gang war, beschloss die Kultusministerkonferenz (im weiteren Verlauf KMK abgekürzt), dass Deutschland an weiteren Schulleistungsstudien teilnehmen sollte. Diese sollten für mehr Aufschluss und Transparenz hinsichtlich des Bildungssystems sorgen (vgl. Kohler 2005, S. 16; Drechsel/Prenzel, S. 82). Doch seien folgende Fragen erlaubt: Wie wurden Leistungsstudien wahrgenommen? Warum ist die Art der Rückmeldung wichtig für Innovationen im Bildungssystem? Welche Folgerungen und Anstöße lassen sich aus den Schulleistungsuntersuchungen ziehen? Welche Konsequenzen und Entwicklungen ergaben sich aus der Datenerhebung? Diesen Fragen soll im weiteren Verlauf dieses Essays nachgegangen werden. Dabei möchte ich die praktischen Konsequenzen nationaler und internationaler Schulleistungsstudien in den Mittelpunkt stellen.

Festzuhalten bleibt allerdings schon jetzt, dass jene Vergleichsstudien etwas Wichtiges erreicht haben, nämlich öffentliches Interesse am Bildungssystem und der Institution Schule herzustellen (vgl. Tillmann 2001, S.12).

Nationale und internationale Vergleichsstudien

Schülerleistungen als Ausdruck von erfolgreichen individuellen Lehrprozessen sind aus pädagogisch-psychologischer Sicht enorm wichtig. Dabei wird Leistung als „die Manifestation eines menschlichen Grundbedürfnisses, eine Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung durch Erfahrung eigener Selbstwirksamkeit“ (Weinert 2002, S. 18; vgl. auch Kohler 2005, S. 22) definiert. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im weiteren Verlauf OECD abgekürzt; Köller 2009, S. 139), entwickelte einen Kompetenzbegriff, der den nicht klar fassbaren Leistungsbegriff ersetzte und als kognitiv erlernbare oder vorgehaltene Fertig- und Fähigkeiten des Individuums definiert wurde. Jene können bei bestimmten An- und Herausforderungen genutzt und zur Problemerfassung und -lösung verwendet werden (vgl. Drechsel/Prenzel/Seidel, In: Wild/Möller 2009, S.355). Es wurden dabei bestimmte Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität, Validität und Normierung) für die Erfassung von Schulleistungen angesetzt (vgl. Weinert 2002, S.23 f.). Viele Staaten, wie z.B. Schweden, Finnland, USA, Kanada und Südkorea, die an jenen Schulleistungsuntersuchungen teilnehmen bzw. teilgenommen haben, entwickelten eine lange Tradition, regelmäßig Datenerhebungen durchzuführen, um daraus wichtige Daten über Bildungsziele unterschiedlicher Altersgruppen und deren Bedingungen zu erhalten und um mögliche sozioökonomische Entwicklungen abzuleiten. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage, für eine -meist öffentlich-geführte - Diskussion hinsichtlich des Bildungssystems und seiner Entwicklung (vgl. Weinert 2002, S. 22 f.). Dabei erfreuen sich Schulleistungsuntersuchungen, sowohl politisch als auch wissenschaftlich, wachsendem Interesse. Sie erlauben eine nationale Standortbestimmung und fördern den Paradigmenwechsel von der Input- zur Outputsteuerung des Bildungssystems, in der die Lernergebnisse der schulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit einen zentralen Stellenwert genießen (vgl. Terhart 2002, S. 91; vgl. Kohler 2005, S. 49; vgl. Hosenfeld/GroßOphoff/Bittins 2006, S. 9).

Im Zeichen einer verstärkten Entwicklung zu mehr Selbstständigkeit der Einzelschule vollzieht sich ein Wandel zu einer eher ergebnisorientierten Schul- und Unterrichtsentwicklung (Output-Orientierung). Bei den Lernstandserhebungen liegt der Schwerpunkt somit deutlich weniger im Bildungsmonitoring („Maßnahmen der quantitativer Erfassung von Bildungserträgen auf Systemebene“, Stanat 2008, S. 11), sondern in der direkten Rückmeldung der Ergebnisse an die teilnehmenden Schulen. Sie liefern Schulleitungen, Lehrern, Schülern und Eltern unmittelbare Informationen über die Schülerleistungen und bieten damit eine Basis

für Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung schulischer Arbeit vor Ort. (Hosenfeld/Groß Ophoff/Bittins 2006, S. 10). Doch auch andere Einzelschulen können sich die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien nutzbar machen, da aufgrund des Untersuchungsdesigs solcher Studien keine Rückschlüsse auf die Einzelschule gezogen werden können. Sie zielen primär darauf ab, den Entwicklungsprozess der Schule aufzuzeigen (vgl. Kühn/Racherbäumer 2011, S. 22).

Ergebnisse und Folgerungen aus den Rückmeldungen von Schulleistungsstudien

Aus Sicht der Bildungsforschung hofft man darauf, dass die Ergebnisrückmeldungen solcher Schulleistungsstudien als schulinterne Evaluation verstanden werden, welche zur Entwicklung von Schule und Unterricht beitragen (vgl. Kühn/Racherbäumer 2011, S. 22). Allerdings zeigen empirische Befunde etwas anderes: Bisher wurden kaum innerschulische Aktivitäten zur Verbesserung von Schul- und Unterrichtsqualität wahrgenommen, die sich aus den extern gewonnen Daten ablesen lassen könnten (vgl. Kühn/Racherbäumer 2011, S. 22; Rolff 2002, S. 85). Dies liegt wohl zum einen daran, dass das Rückmeldeverfahren sich nicht direkt an die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrer richtet, sondern die grundsätzlichen Informationen über das Schulwesen und die Ergebnisse der Bundesländer an die jeweiligen Kultusministerien der Länder gehen (vgl. PISA-Konsortium 2008, S. 11 ff.). Zum Anderen wird die zeitliche Belastung für die Analyse der Daten und Informationen im Hinblick auf die Brauchbarkeit an den einzelnen Schulen als Hauptgrund angegeben (vgl. von der Gathen 2006, S. 86). Weitere Gründe möchte ich hier nur aufzählen (vgl. ebenfalls u. a. von der Gathen 2006, S. 77 ff.):

- Die persönliche Einstellung der an einer Schule Beteiligten gegenüber Schulleistungsstudien bzw. Schul- und Unterrichtsentwicklung.
- Das Gefühl des falschen Niveaus der abgefragten und getesteten Kompetenzen.
- Die mangelnde Transparenz in Bezug auf das verwendete Test- und Aufgabendesign. Lehrkräfte wünschen sich eine wesentlich größere Klarheit über die konkrete inhaltliche Testgestaltung anhand von Beispielaufgaben.
- Der Zeitraum zwischen Testdurchführung und Rückmeldung wird von den an Schule beteiligten Akteuren als zu lang empfunden.
- Das Rückmeldungsdesign wird als zu komplex und kompliziert angesehen.
- Die in deutschen Schulen unterrepräsentierte fachbezogene Kommunikation. Eine intensive Auseinandersetzung erfolgt nur in den Kollegien, wo bereits eine Kultur der offenen Kommunikation gepflegt wird. Dort sind Ansätze einer dateninduzierten Unterrichtsentwicklung zu erkennen.
- Lehrkräfte erwarten, dass sie eine individuelle Rückmeldung bekommen.
- Die mangelnde Identifikation mit den Schulleistungsstudien.

Um aber aus den vorliegenden Befunden Rückschlüsse über Schul- und Unterrichtsentwicklung ziehen zu können (z.B. Implikationen für das eigene unterrichtliche Handeln, der Zusammenhang von Kompetenzerwerb und sozialer Herkunft usw.), muss sich die jeweilige Schule zur Umsetzung in die Praxis ihre Gedanken machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche Daten und Befunde nicht direkt umsetzbar sind, sondern in einen komplexen Prozess der Qualitätsentwicklung, mit dem Ziel des späteren Handlungswissens für die Unterrichtspraxis, eingebunden und transformiert werden müssen (vgl. Rolff 2010, S. 139; Drechsel/Prenzel 2008, S. 86). Nur so können schulinterne Analyse- und Austauschprozesse stattfinden, die unterstützend durch gewisse Rahmenbedingungen (z.B. Fortbildungen), einen nachhaltigen und effektiven Nutzen für den eigenen Schulstandort gewährleisten. Schulleistungsstudien können also Optimierungsprozesse auf Systemebene und innerhalb von Einzelschulen in Gang setzen, die sich nicht nur positiv auf die Ergebnisse, sondern auch auf das Gesamtkonzept Schule auswirken können. Gerne möchte ich hierbei auf das Nutzungsmodell von Rückmeldungen für eine ergebnisorientierte Schul- und Unterrichtsentwicklung von Helmke (2004) (siehe in Hosenfeld/Groß Ophoff/Bittins 2006, S. 22) verweisen, welches als eine Maßnahme zur Verbesserung von schulinternen Prozessen angesehen werden kann. Die praktische Schwierigkeit der Umsetzung bei Reflexion und Rezeption der Ergebnisse liegt in der mangelnden Erfahrung mit Schulleistungsstudien begründet. Unser föderalistisch geprägtes Bildungssystem tut sich schwer im gemeinsamen Handeln. Kritikern fehlt es an einem bundesweiten Leitbild, welches die Qualitätsentwicklung in unserem Bildungssystem weiter vorantreiben könnte (vgl. Kühn/Racherbäumer 2011, S.23).

Konsequenzen und Innovationen aus den Schulleistungsstudien

Nicht nur die Frage nach Sinn und Unsinn solcher Erhebungen, sondern auch die Verarbeitung und Umsetzung der Befunde aus den Vergleichsstudien hatte in der Bildungsforschung hohe Priorität. Doch um Veränderungen bewirken zu können, ist ein stimmiges Vorgehen auf unterschiedlichen Systemebenen erforderlich (vgl. Lange 2002, S. 467).

Für das Qualitätsmanagement von Bedeutung sind die Ansätze „Bottom-up“ und „Top-down“. Mit dem „Bottom-up-Verfahren“ ist die Entwicklung von Qualität aus der Einzelschule heraus gemeint. Das „Top-down-Verfahren“ ist die entgegengesetzte Arbeitsrichtung, ausgehend von einem zentral administrierten Qualitätsmanagement. Das „Bottom-up-Verfahren“ steht dabei für das Schulentwicklungsmodell nach Helmke (2004), das „Top-down-Verfahren“ im Gegensatz dazu für extern festgelegte Bildungsstandards. Diese beschreiben fachliche und fachübergreifende Kompetenzen, die für eine weitere (schulische oder berufliche) Ausbildung notwendig sind und anschlussfähiges Lernen ermöglichen sollen (vgl. Hosenfeld/Groß Ophoff/Bittins 2006, S. 43 f.). Zu jenem Verfahren gehören auch die Schulleistungsstudien.

Konsequenzen und Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität an Schulen lassen sich nur schwer direkt aus den Schulleistungsvergleichen ableiten. Doch die anhaltende Bildungsdiskussion auf Bundesebene veranlasste die KMK zu handeln:

Im Dezember 2001, parallel zur Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2000, wurden von der KMK zunächst verschiedene Handlungsfelder definiert, in denen möglichst zügig Maßnahmen zur Verbesserung umgesetzt werden sollten (vgl. Lange 2002, S. 461 ff.).

Zentrale Abschlussprüfungen auf der Basis von ergebnisorientierter Evaluation und gemeinsamen Standards implementieren einheitliche Qualitätsmaßstäbe und sichern damit eine Ausbildungsreife und Chancengleichheit für Jugendliche (vgl. Köller 2009, S. 151; Hosenfeld/Groß Ophoff/Bittins 2006, S. 38 f.).

Bildungsstandards sind aus pädagogischer Sicht nützlich, wenn sie die Basis für einen systematischen Wissensaufbau darstellen und dadurch anregen, an den Schulen über die Wege zum Aufbau von Kompetenzen nachzudenken. Sie können aber kontraproduktiv wirken, wenn sie nur Output-orientiert verstanden werden und dazu führen, dass die Unterrichtsverbesserung und die Förderung von Schülerinnen und Schülern entsprechend ihrer heterogenen Lernvoraussetzungen nicht als primäre Ziele dienen (vgl. Weinert 2002, S. 258 f.; Kiper 2007, S. 47). Die KMK hat im Dezember 2003 einen bundesweit geltenden Bildungsstandard für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) beschlossen. Im Schuljahr 2004/2005 wurden erstmals bundesweit an allen Schulen die fachspezifischen Anforderungen für den Mittleren Schulabschluss übernommen. (Köller 2009, S. 151 f.; Peek 2002, S. 328).

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Details

Title
Vom Wiegen wird das Schwein nicht fett. Oder doch?
Subtitle
Über die Wirkungen internationaler Schulleistungsstudien
College
Technical University of Braunschweig  (Schulpädagogik und allgemeine Didaktik)
Course
Schulpädagogik
Grade
1,0
Author
Year
2012
Pages
11
Catalog Number
V192636
ISBN (eBook)
9783656177142
ISBN (Book)
9783656177654
File size
529 KB
Language
German
Keywords
wiegen, schwein, oder, über, wirkungen, schulleistungsstudien
Quote paper
Markus Fründt (Author), 2012, Vom Wiegen wird das Schwein nicht fett. Oder doch?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192636

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