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Diese Arbeit soll sich dem Thema „Zeit“ und speziell deren Auswirkungen auf das
individuelle, gesellschaftliche und interkulturelle Leben widmen und zugleich ein
Versuch einer Systematisierung sein, die die kulturwissenschaftliche und kulturvergleichende
Erforschung des Umgangs mit der Zeit innerhalb ihres, nahezu alle Forschungs-
und Lebensbereiche umfassenden Einflussbereiches verortet und die Zeit
somit für wissenschaftliches Arbeiten und Forschen handhabbarer macht. Nicht zuletzt
wird mit der Arbeit aber auch ein Ziel von persönlichem Interesse, der Beantwortung
einer immer wiederkehrenden Frage, verfolgt: Warum habe ich das Gefühl
dass mir die Zeit schneller ‚verrinnt’ als ich sie ‚nutzen’ kann? Die subjektive Einschätzung,
keine Zeit zu haben, findet sich im Kollektiv wieder. Das mag zwar persönlich
beruhigend wirken. Denn schließlich bedeutet die Erkenntnis eines kollektiven
Problems, dass es sich dabei – soviel sei vorweggenommen – nicht einzig um
eine persönliche Inkompetenz im Umgang mit der Zeit handelt, wie es Zeitmanagementratgeber
reihenweise suggerieren. Andererseits beunruhigt es zu wissen, dass
sich eine ganze Gesellschaft (die schwer regional abgrenzbar ist) in ihrer derzeitigen
Verfassung, und scheinbar stetig zunehmend, unwohl fühlt und dieses Unbehagen,
wie Goethe bezeugt, keines der jüngsten Zeit ist:
[...]
Inhaltsverzeichnis
I Abkürzungsverzeichnis
II Vorwort
1. Einleitung - Die beschleunigte Gesellschaft
1.1. Vorstellung und Relevanz des Forschungsvorhabens
1.2. Aktueller Forschungsstand
1.3. Zielstellung und Forschungsfragestellung
Teil I: Das Problem ‚soziale Beschleunigung’
2. Grundannahmen zur Betrachtung der Zeit
2.1. Zeit als Zeitbestimmung (Norbert Elias)
2.2. Zeit als Faktor ‚sozialer Beschleunigung’ (Hartmut Rosa)
2.2.1. Kritik der Sozialwissenschaften
2.2.2. Drei Ebenen des temporalen Vermittlungsprozesses
2.2.3. Die Paradoxien der Zeit
2.2.4. Soziale Beschleunigung
2.3. Zwischenfazit und Spezifizierung
Teil II: Perspektiven der Untersuchung der Zeit
3. Mechanischer Zeitbegriff
3.1. Objektive Natur-Ursprünglichkeit der Zeit
3.2. Der absolute und relative Zeitbegriff in den Naturwissenschaften
3.3. Die mechanische Zeit - Uhrzeit und Kalender
3.4. Zusammenfassung
4. Hermeneutischer Zeitbegriff
4.1. Mystische Zeitbestimmung und Chronotheologie
4.2. Philosophische Bestimmung der Zeit
4.2.1. Die Zeitvorstellung der Vorsokratiker bis zur Neuzeit
4.2.2. Die Zeit in der Philosophie der Neuzeit
4.2.3. Die Philosophie der Zeit im 20. Jahrhundert
4.3. Zusammenfassung
5. Psychologie der Zeit
5.1. Pionierzeit der Zeitpsychologie
5.2. Psychologie der Zeit heute
5.2.1. Zeitbewusstsein und Zeitwahrnehmung
5.2.2. Zeitperspektiven und Identität
5.3. Zusammenfassung und Ausblick
Teil III: Die Vielfältigkeit ‚sozialer Beschleunigung’
6. Kulturwissenschaftlicher Zeitbegriff
6.1. Kulturelle Zeitwahrnehmung
6.1.1. Biologische Zeit
6.1.2. Objektive Zeit
6.1.3. Subjektive Zeit
6.2. Soziale Zeit - Kultureller Umgang mit der Zeit
6.2.1. Zeitkultur und Zeitstruktur
6.2.2. Zeitnutzung im Kulturvergleich
6.2.3. Soziales Lebenstempo im Kulturvergleich
6.2.4. Wirkungen des sozialen Lebenstempo
7. Sozialer Wandel durch Beschleunigung
7.1. Symptome der ‚sozialen Beschleunigung’
7.1.1. Zeitnot und Innovation
7.1.2. Flexibilisierung und Synchronisationsbedarf
7.1.3. Mobilisierung und Medialisierung
7.1.4. Raum-zeitliche Entgrenzung und Selbstverlust
7.2. Auswirkungen der ‚sozialen Beschleunigung’
7.2.1. Privatheit und Beziehungen
7.2.2. Erziehung und Bildung
7.2.3. Nanokultur und Gleichzeitigkeit
7.2.4. Ökologie der Zeit statt Zeitökonomie
7.2.5. Zeitpolitik und Macht
7.3. Beschleunigungsbedingte Verhaltensregulierung
7.3.1. Zeitliche Handlungsregulierung
7.3.2. Zeitgestaltungskompetenz: Bewältigung statt Management
7.3.3. Entschleunigung
7.4. Prognosen zum sozialen Wandel der Zeitkultur
8. Fazit und ein Ausblick
9. Literatur
10. Anhang: Exkurse und Endnoten
10.1. Exkurse
10.1.1. Zeit in der klassischen Physik
10.1.2. Zeit in der modernen Physik
10.1.3. Psychologische Chronobiologie
10.1.4. Psychophysik der Zeit
10.2. Endnoten
I Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
II Vorwort
„Als vor einigen Jahren zwei italienische Psychologen die Lebensge- wohnheiten von Südtiroler Bergbauern untersuchten, stellten sie erstaunt fest, daß diese nicht zwischen Arbeits- und Freizeit unterscheiden. Die Bauern molken ihre Kühe, mähten Wiesen, erzählten zwischendurch den Kindern Geschichten und spielten abends Akkordeon - ohne zwischen Pflicht und Vergnügen klar zu trennen. Gefragt, was sie denn tun würden, wenn sie über mehr Zeit verfügten, antworteten sie verwundert: Dasselbe. Milch, Mahd, Märchen und Musik.“ (Schnabel, Mai 1998)
Diese Arbeit soll sich dem Thema „Zeit“ und speziell deren Auswirkungen auf das individuelle, gesellschaftliche und interkulturelle Leben widmen und zugleich ein Versuch einer Systematisierung sein, die die kulturwissenschaftliche und kulturver- gleichende Erforschung des Umgangs mit der Zeit innerhalb ihres, nahezu alle For- schungs- und Lebensbereiche umfassenden Einflussbereiches verortet und die Zeit somit für wissenschaftliches Arbeiten und Forschen handhabbarer macht. Nicht zu- letzt wird mit der Arbeit aber auch ein Ziel von persönlichem Interesse, der Beant- wortung einer immer wiederkehrenden Frage, verfolgt: Warum habe ich das Gefühl dass mir die Zeit schneller ‚verrinnt’ als ich sie ‚nutzen’ kann? Die subjektive Ein- schätzung, keine Zeit zu haben, findet sich im Kollektiv wieder. Das mag zwar per- sönlich beruhigend wirken. Denn schließlich bedeutet die Erkenntnis eines kollekti- ven Problems, dass es sich dabei - soviel sei vorweggenommen - nicht einzig um eine persönliche Inkompetenz im Umgang mit der Zeit handelt, wie es Zeitmanage- mentratgeber reihenweise suggerieren. Andererseits beunruhigt es zu wissen, dass sich eine ganze Gesellschaft (die schwer regional abgrenzbar ist) in ihrer derzeitigen Verfassung, und scheinbar stetig zunehmend, unwohl fühlt und dieses Unbehagen, wie Goethe bezeugt, keines der jüngsten Zeit ist:
„Dass unsere Zivilisation aus Mangel an Ruhe in eine neue Barbarei aus- läuft, hatte Goethe bereits 1778 in Berlin bemerkt […]: ‚Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tages- zeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles ve- loziferisch.’“ (Osten, August 1999)
Bei der umfangreichen, teilweise ausufernden Literaturrecherche und Lektüre zu dieser Arbeit ist mir ein Zitat inflationär oft untergekommen. Es stammt von einem der Gründungsväter moderner Philosophie: „Was ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.“ (Augusti- nus; zit. nach Rosa 2005: 23) So populär diese Worte sind, so exakt bringen sie die ganze Problematik der Zeitforschung auf den Punkt. Augustinus sollte nicht der letz- te sein, der an der Frage, was Zeit sei, scheiterte. Im Verlauf dieser Arbeit wird sich die Geschichte der Zeitforschung als eine Geschichte wissenschaftlicher Begrenzt- heit, sowohl innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, als auch in ver- schiedenen - und nicht zuletzt dem vorliegenden - interdisziplinären Versuchen ei- ner systematisierenden Betrachtung der Zeit abzeichnen. Dabei soll stets im Hinter- kopf behalten werden, dass wir, die Menschen, es sind, die mit der Zeit leben und zugleich die Zeit ins Leben bringen:
„Wir sind Treibende. Wir treiben im Strom, er reißt uns mit. Und wir treiben ihn an und treiben ihn weiter. Unter den Lebewesen zeichnet sich der Mensch wohl besonders durch besonders weit entwickelte Vorstellungen von Zeit aus.“ (Weis 1996, 8)
Die ‚beschleunigte Gesellschaft’ hat einen festen Platz im öffentlichen Diskurs ein- genommen, in dem sich die Gesellschaft selbst nicht sicher zu sein scheint, ob sie sich passiv beschleunigen lässt oder sich aktiv selbst beschleunigt. Das einzelne In- dividuum fühlt sich in eine abhängige Position gedrängt und sich seiner Autonomie der Lebenszeitgestaltung beraubt. Es taucht aber auch die „Beschleunigungsgesell- schaft“ (u.a. Heuwinkel 2004) im Diskurs auf, in der wir unser Leben selbst aktiv mit beschleunigen. Aus einer solchen autonomen, aktiven Position ‚nehmen wir uns Zeit’ für andere, ‚verschenken’ und ‚vergeuden’ Zeit; wir können sogar ‚Zeit verlie- ren’ und ‚gewinnen’. Wir ordnen uns der Zeit unter und richten unser Leben mög- lichst „zeiteffizient“ aus, was soweit geht, dass ‚Zeitmanagement’ (s. 0) zu einer zentralen menschlichen Alltags- und Arbeitskompetenz erhoben wird. Daher meinen wir sogar um die Zeit bzw. ein langsames Leben ‚kämpfen’ zu müssen. Da es sich um einen immer neuen ‚Kampf’ handelt, der - an Sisyphus erinnernd - nicht gewon- nen werden kann, liegt es nahe, dessen Ursachen auf den Grund zu gehen, um ein tieferes Verständnis zu erlangen, das es ermöglicht, verantwortungsbewusst aber angstfrei mit dem Verstreichen der Zeit umzugehen.
1. Einleitung - Die beschleunigte Gesellschaft
1.1. Vorstellung und Relevanz des Forschungsvorhabens
„Die Zeit ist noch nicht reif; die Zeit naht auf leisen Sohlen; die Zeit wirft ihre Schatten voraus; die Zeit geht darüber hinweg; die Zeit heilt Wunden; die Zeit bringt die Wahrheit ans Licht; die Zeit rast; die Zeit ist abgelaufen; die Zeit hat sich erfüllt und - die Zeit prägt den Menschen. Aber der Mensch prägt auch die Zeit, und er geht mit ihr um: er hat Zeit; er nimmt sich Zeit; er läßt sich Zeit; er nützt die Zeit; er genießt die Zeit; er verliert die Zeit; er vertrödelt die Zeit. Manchmal schöpft er aus ihrer Fülle; gelegentlich schlägt er sie tot; oft leidet er unter ihrem Druck.“ (Weis 1996, 8-9)
Der Zeit kann niemand entkommen. Sie bildet eine universale Grundlage des Lebens. Ohne den zeitlichen Verlauf wäre das Leben als biologisch-physikalischer Prozess (s. 3.1) und die Entstehung bzw. der Fortbestand des Sozialen vielleicht möglich, aber nicht denkbar. Nicht zuletzt deshalb wird die wissenschaftliche Analyse der Bedeutung der Zeit immer relevant und nie abgeschlossen sein: „Der Annahme, es gäbe keine menschliche Existenz außerhalb von Zeit und Raum, ist wenig entgegenzusetzen, solan- ge Zeit und Raum nicht essentiell verstanden werden, sondern als etwas, was konstitu- iert werden muss“ (Herrmann 2009: 9; Honnefelder 1993: 333-362). Zeit und Raum sind so grundlegend für unser Leben, dass wir im Normalfall nicht weiter darüber nach- denken. Wir können unseren zeit-basierten Alltag auch ohne Reflexion bewältigen. „Da Zeit so eng mit jeglicher Erfahrung und Sinneswahrnehmung verbunden ist, tun wir uns schwer damit, uns bewußt zu machen, daß unsere Zeiterfahrung nichts Natürliches, son- dern sozialen Ursprungs ist“ (Henning 1998: 13). Für den Alltag ist es ausreichend die Uhr und den Kalender zu verstehen (s. 3.3) und diesen Hilfsmitteln der Abstraktion im Abgleich mit lebensweltlichen Ereignissen Bedeutung zu verleihen. Diese Bedeutung wiederum ist so groß, dass ‚Zeit’ das in Gesprächen meistbenutzte Substantiv ist (Heu- winkel 2004: 33).
Elias (1984) betont, dass Zeit nicht gleich einem einzelnen gespannten Faden durch die Geschichte des Universums und gleichsam naturwissenschaftlich-physikalisch gedacht werden darf. Denn Zeit ist immer eine Bestimmung des „kontinuierlichen Er- eignisflusses inmitten dessen Menschen leben und von dem sie selbst ein Teil sind“ (Elias 1984: 40). Für ihn gäbe es in einem menschenfreien Universum keine Zeit. Erst durch sein „‚Wann’ - Fragen“ kommt die Zeit in die Welt: „Zeitbestimmen beruht demnach auf der Fähigkeit von Menschen, zwei oder mehr verschiedene Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen miteinander zu verknüpfen, von denen eine als Zeit- maßstab für die andere[n] dient. Es ist eine Leistung der intellektuellen Synthese, die alles andere als einfach ist.“ (ebd.: 41; s. 2.1) Die Konstruktion einer solchen Vorstel- lung von Zeit ist also als „ein soziales Phänomen und damit nur aus den gesellschaftli- chen Entwicklungen heraus, das heißt als prozesshaftes Phänomen, zu begrei- fen“ (Herrmann 2009: 10). Zeitstrukturen werden „konstituiert durch Wahrnehmung und Erinnerungen“ und im Alltag unbemerkt, routiniert angewandt (ebd.; s. 5.2.1). Die Zeit ist somit „ein wichtiges gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das in verschiedenen Epochen unterschiedlich strukturiert ist und in unterschiedlichen Ausprägungen er- scheint. Die Zeitordnung einer Gesellschaft gibt Auskunft über die sozialen Strukturen dieser Gesellschaft, und es kann umgekehrt von den gesellschaftlichen Strukturen auf die herrschende Zeitordnung geschlossen werden“ (Henning 1998: 13).
In dieser Arbeit wird deswegen das Gefüge verschiedener Ansätze der Zeitbe- trachtung insoweit nachgezeichnet werden, wie damit zur Klärung der Frage: ‚Was be- deutet die Zeit für das soziale Leben?’ beigetragen werden kann. Hierzu werden ver- schiedene Perspektiven der Betrachtung der Zeit herangezogen und auf ihren Wert zur Beantwortung der Frage hin untersucht. Da es sich hier aber weder um eine geschichts- wissenschaftliche Untersuchung zum Zeitverständnis vergangener Zeiten, noch um eine exotistische Beschreibung möglichst fremdartiger Zeitverständnisse, sondern um eine aktuelle Bestandsaufnahme des - für unsere Zeit und den westlichen Kulturkreis rele- vanten - Forschungsstandes handelt, der möglichst systematisch erfasst werden soll, wird das zentral fokussierte Phänomen - die soziale Konstruktion der Zeit mit ihrer Fol- ge der ‚beschleunigten Gesellschaft’ - als Leitphänomen dienen.
1.2. Aktueller Forschungsstand
Den Forschungsstand zur Zeit erschöpfend darzustellen, ist aufgrund der Vielfalt und Unerschöpflichkeit des Themas nicht möglich. Regelmäßig kommen Forscher am Ende ihrer Forschung zur Zeit zu dem Schluss, dass sie letztlich vor einem ‚Paradox’, einem ‚Teufelskreis’ oder einem ‚Dilemma’ stehen (s. 2.1). So kann es auch in dieser Arbeit eine systematische Zusammenfassung nur bedingt und in Ausschnitten, sowie anhand ausgewählter Ansätze und Theorien formuliert werden. Aber auch diese Ausschnitte - soviel sei vorweggenommen - sind eher Aufarbeitungen von Problemen die auftreten, wenn sich dem Thema genähert wird. Die relevante Literatur zu dieser Arbeit umfasst allem Anschein nach ganze Bibliotheken, weshalb hier nur Auszüge, die entweder grundlegend und zentral, oder speziell und zweckdienlich sind.
Auf Konferenzen und Tagungen wird das diffuse Problem der Zeit besprochen. In Lüneburg („International Conference on Time Use“) und Heidelberg („Im Rausch der Geschwindigkeit - Wo steht der Mensch?“) fanden 1998 bspw. gleich zwei Treffen statt „die - zeitgleich - den rechten Umgang mit der Zeit thematisierten“ (Schnabel, Mai 1998). Diese Konferenzen liegen aber nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich hun- derte Kilometer auseinander. Insofern sich zentrale Schnittpunkte herauskristallisieren lassen, so sind es die Bedeutung der Zeit für die Arbeit und für das Lebensglück (s. 6.2.4) im weitesten Sinne.
Erst in der nahen Vergangenheit wird, bedingt durch z.B. medizinische Auswir- kungen der noch diffusen ‚Beschleunigung’ vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt (bspw. kursiert der Begriff der „Eilkrankheit“; Schnabel, Dezember 2009) und es wird u.a. er- kannt, dass Zeitdruck der Muße entgegensteht. Forscher wie Hartmut Rosa (der damit Pate des Arbeitstitels ist; Rosa 2005) postulieren nunmehr eine ‚soziale Beschleuni- gung’ und weisen auf deren Ursachen und Folgen hin (s. 2.2). Vielfältige andere Zeit- forschungen in der Physik (s. 10.1), der Philosophie (s. 4.2) und der klassischen Psycho- logie (s. 5) entwickeln sich derzeit z.B. in Form der Chronobiologie (s. 10.1.3) und für diese Arbeit zentral in den Kulturwissenschaften (s. 4.3) weiter. Hier sind u.a. auch Ro- bert Levine (1999) mit seiner Forschung zum Lebenstempo im Kulturvergleich (s. 6.2.3) und Jeremy Rifkin (1988) mit seinem gesellschaftskritischen Appell an die Menschheit das Lebenstempo zu ändern, als populäre Vertreter zu nennen.
1.3. Zielstellung und Forschungsfragestellung
Das Ziel dieser Arbeit ist ein doppeltes: Zum Einen soll der faktische Gehalt hinter den oben genannten, alltagssprachlichen Phrasen zur Zeit ergründet werden. Dazu wird es notwendig sein, das ihnen zu Grunde liegende, vielfach variierende, kollektive und wis- senschaftliche Verständnis von Zeit zu rekonstruieren. In dieser Arbeit wird, insofern nicht eine andere genannt wird, die westlich-industrialisierte Gesellschaft fokussiert. Diese Gesellschaft, die hier als ‚beschleunigt’ dargestellt werden wird, bietet einen An- satzpunkt und einen Rahmen zum systematischen Erschließen des aktuellen For- schungsstandes und damit eine Leitlinie durch die dichte Literatur zur Zeit.
Dieser Ansatzpunkt muss zudem auch auf seine Relevanz für die Beantwortung der Fragestellung hin untersucht werden. Woher rührt die Beschleunigung? Woran kann sie gemessen werden bzw. ist sie überhaupt objektivierbar und muss sie das sein? Ist die empfundene ‚soziale Beschleunigung’ ein Phänomen, das nur in der westlichen Gesell- schaft festgestellt wird? Ist es also kulturell bedingt oder handelt es sich um ein univer- sell menschliches, anthropologisches Phänomen? Dazu wird in dieser Arbeit ebenso versucht werden, das Eigene zu erkennen indem das Fremde als Referenz herangezogen wird. Im Vergleich zu Gesellschaftsformen mit andersartigem Zeitbewusstsein und so- mit auch zeitkulturellen Hintergrund wird ersichtlich werden, dass unser Zeitverständnis nicht das einzigmögliche und auch nicht unabänderlich ist (s. 6.2.2).
„Jede Kultur hat ihre eigenen, einmaligen zeitlichen Finger abdrücke. Ein Volk kennen heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt. Um uns selbst zu erkennen, warum wir so und nicht anders aufeinander und die Welt einwirken, müssen wir zuerst die zeitliche Dynamik verstehen, die die Reise des Menschen durch die Geschichte bestimmt.“ (Rifkin 1988, 7)
Die Zeit ist ein vielfältiges Phänomen. Jeder hat ein eigenes Konzept von „Zeit“ und gerade dieser Vielfalt wegen lässt sich schwer bestimmen: Was ist Zeit? Es scheint sich um ein anthropologisch universelles, aber nicht universalisierbares Phänomen zu han- deln. Innerhalb einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung kann veschiedenen Perspek- tiven auf die Zeit eine Position zugewiesen werden. Eine Systematisierung wird mög- lich. Zeit ist äquivalent zur Kultur universell, aber nicht universalisierbar. Wie sich in der Arbeit zeigen wird, ist die Zeit mehr noch selbst ein kulturell konstruiertes Phäno- men. Die Blickführung der Arbeit wird von fünf zentralen Fragen in drei Teilen geleitet sein. Teil I soll den Tiefgang und die Breite der ‚sozialen Beschleunigung’ umreißen und damit die Einflüsse vielfältiger Perspektiven der Erforschung der Zeit aufzeigen. Diese werden in Teil II anhand der Fragen: ‚Wie erschafft der Mensch die Zeit?’ (s. 3), ‚Wie denkt der Mensch die Zeit?’ (s. 4), ‚Wie nimmt der Mensch die Zeit wahr?’ (s. 5) und ‚Wie geht der Mensch mit der Zeit um?’ (s. 6) systematisiert dargestellt, um auf dieser Grundlage die Frage in Teil III zu klären: Wie wirken sich diese vielfältigen Ein- flussfaktoren sozial aus (s. 7)?
Anhand ausgewählter Theorien von Elias und Rosa (s. 2), die zu jeder dieser Fragen eine grundlegende Bestimmung des Wesens von Zeit bieten sollen, wird erstens der ‚physikalische Zeitbegriffe’ zur rationalen Welt-Erklärung (s. 3), u.a. der Bedeu- tungswandel von der klassischen zur modernen Physik (s. 10.1.1/10.1.2) und die Genese der Messung der Zeit (s. 3.3), betrachtet. Im Anschluss daran wird zweitens der Wandel des deutenden, ‚hermeneutischen Zeitbegriffes’ (s. 4) untersucht. Mittels der Psycholo- gie der Zeit (s. 5) wird der Frage nach der Zeitwahrnehmung nachgegangen. Über eine Bestimmung der Zeit als soziales und kulturelles Phänomen (s. 4.3), wird der Blick zu einem Verständnis von Zeit, das den Kulturvergleich ermöglicht, geführt werden.
Das nächste anvisierte Ziel sind die Dimensionen der Zeit aus kulturpsychologi- scher Perspektive (s. 6). Die kulturpsychologische Bestimmung der Sozialen Zeit (s. 6.1) eröffnet letzten Endes das kultursoziologische Feld der Lebenstempobestimmung (s. 6.2). Innerhalb der Dimension der Sozialen Zeit und mit einer kultursoziologischen Betrachtung, wird es schließlich möglich, kulturspezifische Lebenstempi zu bestimmen, deren Auswirkungen zu untersuchen und somit auch das Ausgangsphänomen ‚soziale Beschleunigung’ einzuordnen und zu reflektieren.
Es soll hier nach Möglichkeit eine thematisch strukturierte Systematisierung des Forschungsstandes zur Zeit entwickelt werden. Um einerseits einen flüssigen Gedankengang zu gewährleisten, andererseits aber die Verzweigtheit und Verbundenheit der Teilthemen zu skizzieren, werden an entsprechenden Stellen Querverweise zu relevanten Kapitelnummern in Klammern angeführt.
2. Grundannahmen zur Betrachtung der Zeit
Das Phänomen der Zeit lässt verschiedenste, unterschiedliche Annäherungen und Deutungen zu. Was Zeit ist, ist immer auch von Grundannahmen der Betrachtung und deren Erkenntnishintergrund abhängig. Diese verschiedenen Annahmen spielen oft ineinander, daher ist es umso wichtiger sie deutlich voneinander zu trennen. Zwei, für das Thema wegweisende, Theorien zur Zeit werden in diesem Kapitel vorgestellt.
2.1. Zeit als Zeitbestimmung (Norbert Elias)
Die Abhandlung „Über die Zeit“ von Norbert Elias aus dem Jahre 1984 verdient zu Be- ginn besondere Aufmerksamkeit. Denn Elias bringt auf den Punkt, was im weiteren Verlauf detaillierter nachgezeichnet werden soll: Die Zeit ist eine rein menschliche Be- stimmung und als eine solche muss sie verstanden und behandelt werden. Der Mensch erschafft in einem Universum, in dem eins nach dem anderen geschieht, zeitliche Ska- lierungen: „Was man mit Hilfe von Zeitskalen tut, ist eben dies: Man baut Meilensteine, und damit relative Anfänge und Enden, in eine solche Sequenz mit Hilfe einer anderen Sequenz“ (Elias 1984: 41). Verschiedene Zeitskalen ermöglichen u.a. den Vergleich der Dauer von zeitlichen Sequenzen und die Wertungen eines Zeitpunktes als ‚früher’ oder ‚später’. Das ist „nur möglich geworden, […] weil Menschen […] Strähnen kontinuier- licher Veränderungen gefunden und später selbst ausgearbeitet haben, die als Standards der Zeitbestimmung ihrer selbst und der von ihnen gebildeten Gesellschaften dienen können“ (ebd.: 42). Die Zeit ist somit nicht nur ein Kulturgut. Die verschiedenen Arten des menschlichen Umgangs mit ihr sind - wie Elias es mit „Standards der Zeitbestim- mung“ benennt - auch gewissermaßen äquivalent den Kulturstandardsi , also gesell- schaftlich strukturiert, tradiert, reguliert und beurteilt.
Im Laufe der kulturellen und intellektuellen Evolution der Menschheit entwi- ckelten sich die Vorstellungen von der Zeitlichkeit und deren Nutzung und Bedeutung weiter: „Zuerst gebrauchten sie kontinuierliche Sequenzen dessen, was wir Natur- Ereignisse [s. 3.1] nennen, und dann in zunehmendem Maße menschengeschaffene me- chanische Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen als Mittel zur Bestimmung von Positionen in der Abfolge des Nacheinander ihrer selbst in ihrer dreifachen Eigen- schaft — als biologische, soziale und persönliche Prozesse“ (ebd.). Die Fähigkeit zur Synthese, zur Verknüpfung verschiedener Sequenzen, „von denen eine als Zeitmaßstab für die andere[n] dient“ (ebd.: 43), ist demnach ein Entwicklungsprozess der, von den Menschen immer weiter ausdifferenziert und perfektioniert wird. Beispielhaft für die Zeitbestimmung ist fraglos die Uhr und mit ihr die Uhrzeit (s. 3.3): „In der Substanz ist eine Uhr eine sich ständig bewegende kleine Maschine, die eine kontinuierliche Abfol- ge von Veränderungen in den Symbolkonfigurationen auf ihrem Ziffernblatt er- zeugt“ (ebd.). Der Zeitbegriff stellt nach Elias die Beziehung zwischen den Eigenschaf- ten „die Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen gemeinsam haben, ungeachtet ihrer substantiellen Unterschiede“ (ebd.) her. Denn alle Prozesse „auf der physikalischen, der biologischen, der sozialen und der persönlichen Ebene“ lassen sich synchronisieren, was aber immer eine gesellschaftliche Standardisierung notwendig macht (s. 7.1.2). Der zunehmend „instrumentelle […] Charakter des Zeitbestimmens“ (ebd.), der aber „epo- chenspezifisch und überwindbar ist […] sorgt dafür, dass die Trennschärfe zwischen der Zeit der Natur und der Kultur der Zeit nur sehr verschwommen erscheint“ (ebd.). Trotz dieser ‚Unschärfe’ ist Zeit eine menschliche Bestimmung.
2.2. Zeit als Faktor ‚sozialer Beschleunigung’ (Hartmut Rosa)
2.2.1. Kritik der Sozialwissenschaften
Diesem und ähnlichen Defiziten versucht Rosa detailliert auf den Grund zu gehen, be- vor er in seinem Werk „Beschleunigung“ (2005) seine eigene Theorie darstellt. Seiner Kritik der soziologischen Zeitanalyse lohnt ausführlicher nachzugehen. So ist nach Rosa (2005: 19) die „Überzeugung, dass alle Ereignisse, Objekte und Zustände in der sozia- len Welt dynamischer oder prozessualer Natur sind und Zeit daher eine Schlüsselkate- gorie für jede angemessene Analyse darstellt, […] inzwischen nahezu zu einem Ge- meinplatz in den Sozialwissenschaften geworden“ (ebd.). Aber eben diese Sozialwis- senschaft hat, wenn auch die temporale Rekonstruierbarkeit sozialer Phänomene „von Herrschaftstechniken über Klassenunterschiede, interkulturelle Probleme, sozioökono- mische Entwicklungsrückstände, Geschlechterverhältnisse, Wohlfahrtregime bis hin zu Krankenhaus-, Gefängnis- und Drogenerfahrungen“ erkannt wurde, ebendiese Einsicht noch nicht konsequent gewinnbringend und systematisch nutzbar machen können (ebd.). Das Hauptproblem der soziologischen Zeitanalyse ist das Fehlen „ einer fundierten und systematischen Anbindung an die soziologische Theoriebildung “ (ebd.: 20; Herv.i.O.).
Kritisch beschreibt Rosa drei Kategorien sozialwissenschaftlicher Untersuchungen: „Aufmerksamkeit suchende“, „methodeneklektizistische“ und „abstrakte“ (ebd.: 21). Erstere macht ihm nach die Mehrzahl der Arbeiten aus. Als Überblicksarbeiten versu- chen sie „zeitsoziologische Überlegungen zu erfassen und (nach den unterschiedlichsten Gesichtspunkten) zu systematisieren“ (ebd.). Doch erreichen diese Arbeiten oft nicht mehr als die Diversität der „Zeitstrukturen in der sozialen Welt“ aufzuzeigen und für mehr Aufmerksam zu werben (ebd.). In die zweite Kategorie fallen Schriften, die „auf eher theoriearmem Niveau methodeneklektizistisch unmittelbar den untersuchten Phä- nomenen zugewandt bleiben und die Zeit meist als selbstevidente Größe behan- deln“ (ebd.). Der dritten Kategorie ordnet er theorieorientierte Zeitanalysen zu, die we- gen ihres Abstraktionsgrades die praktisch relevanten Probleme aus dem Blick verlieren (ebd.). Als „ebenso aussichtslos“ erweisen sich nach Rosa zeitphilosophische Ansätze: „Die philosophischen Zeitbegriffe, wie sie etwa von Augustinus [s. 4.2.1], Kant [s. 4.2.2], Bergson, McTaggart [s. 4.2.3], Heidegger oder Mead postuliert und in ihrer Nachfolge diskutiert wurden, sind nicht weniger heterogen, inkommensurabel und inkompatibel: die Genannten sind uneins selbst in den elementarsten Fragen nach dem Realitätsgehalt von Zeit oder danach, ob Zeit eine Kategorie der Natur, der Anschauung bzw. des Verstehens oder ein soziales Konstrukt sei“ (ebd.: 23).
Weiterhin stellt er zwei übereinstimmende Befunde von Zeitsoziologie und - Ethnologie heraus: „nicht nur Zeitmessungen, sondern auch Zeitwahrnehmungen und Zeithorizonte sind in höchstem Maße kulturabhängig und ändern sich mit der Sozial- struktur von Gesellschaften“ (ebd.: 26). So herrschten zwar in „frühen ständisch diffe- renzierten Gesellschaften“ ein zyklisches Zeitbewusstsein, welches sich erst in der Hochmoderne hin zu einem linearen mit offener Zukunft entwickelte, doch existieren zyklische und lineare Zeitvorstellungen, in verschiedenen Ausprägungen, in fast allen Kulturen nebeneinander (ebd.: 26f.).
2.2.2. Drei Ebenen des temporalen Vermittlungsprozesses
Ein weiterer hilfreicher Hinweis Rosas ist der auf die drei Ebenen des temporalen Ver- mittlungsprozesses „aus der Akteursperspektive“ nach Peter Ahlheit (1988) und Antho- ny Giddens (1987): „Danach bilden Akteure stets drei unterschiedliche Zeitperspektiven und -horizonte zugleich aus, deren Verhältnis zueinander sie immer wieder neu reflek- tieren und in ihren Zeitpraktiken verarbeiten müssen“ (Rosa 2005: 30). Die erste Ebene bilden dabei die „Zeitstrukturen [des] Alltagslebens […] mit den wiederkehrenden Rou- tinen und Rhythmen von Arbeit und Freizeit [s. 6.2.1], Wachen und Schlafen etc. und mit den damit verbunden Problemen der Synchronisation, der Geschwindigkeit der Dauer und der Sequenzierung von Handlungen“ (ebd.; s. 7). Diese „Alltagszeit“ ist „für die Reproduktion sozialer Strukturen konstitutiv“ (ebd.: 30). Der Grad der Problemati- sierung auf dieser Ebene hängt von „der Routiniesierung und Habitualisierung ab, der in der Spätmoderne wieder abzunehmen scheint“ (ebd.: 30f.; s. 7.1). Die zweite Ebene bildet die „Lebenszeit“ bzw. die „biografische Zeit“ (ebd.: 31). Das Leben wird auf die- ser Ebene als Ganzes reflektiert. „Auch hier stellen sich Fragen der Synchronisation, der Geschwindigkeit, der Dauer und der Sequenzierung von Ereignissen“ (ebd.). Die eigene Alltags- und Lebenszeit wiederum wird auf der dritten Ebene als „historische Zeit“ (ebd.: 35) oder „Weltzeit“ (ebd.: 37) von den jeweiligen Akteuren als „eingebettet in die übergreifende Zeit ihrer Epoche, ihrer Generation und ihres Zeitalters“ erlebt (ebd.: 31). Die Auswirkungen auf die Zeitallokation, also die Verteilung der zur Verfü- gung stehenden Zeit, (s. 6.2) sind damit immer durch alle drei Ebenen bedingt: „Wie viel Zeit jemand mit Berufsarbeit, Familie, Freizeitaktivitäten und Körperpflege ver- bringt, hängt von seinen Alltagsroutinen, von seiner Lebensperspektive und von seiner Einschätzung des ‚Zeitgemäßen’ (bzw. der Erfordernisse der Zeit und der Zukunft) ab“ (ebd.: 32). Schließlich sind es diese drei „Zeitebenen und die damit verbundenen Zeithorizonte [die] in ihrem Zusammenspiel erst das ‚In-der-Welt-sein’ eines Ak- teurs“ bestimmen und von ihm in Einklang gehalten werden müssen (ebd.: 31).
Wie ‚Zeitpraktiken’ gesellschaftsstrukturell konstituiert werden „lässt sich dabei in besonderem Maße an den Zeitmustern der modernen Gesellschaft illustrieren“ (ebd.: 33). Je nach Impetus der Verfasser „wird in kulturkritischen Abhandlungen beklagt und in Handbüchern zum Zeitmanagement gefeiert, dass Individuen in westlichen Gesell- schaften ihre Zeit rigide planen und sequenzieren“ (ebd.), was nichts anders bedeutet, als dass „die Dauer von Ereignissen und die Folge von Aktivitäten einem abstrakt fest- gelegten, den Handlungen selbst externen Zeitplan folg[t]“ (ebd.). Es ist also weniger - wie die Zeitmanagementliteratur, die derzeit en vogue scheint suggerieren will - der Fall, dass die „Zeitpraxis“ die „Folge individueller Entscheidungen oder Lebensplanun- gen“ ist (ebd.). Vielmehr folgt sie „nahezu zwangsläufig aus dem Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung, nach dem die einzelnen Sozialsphären ihrer je eigenen, auch zeitlichen Logik folgen und die Individuen in die jeweiligen Bereiche Arbeit, Fa- milie, Vereine, Kirchen, Parteien, Behörden etc. nur partiell eingebunden sind“ (ebd.).
Die Mitglieder der modernen Gesellschaften sind dazu genötigt, ihre Beteiligung „in den jeweiligen Sozialsphären exakt sequenziert mithilfe von Stunden-, Tages-, Wochen-, Monats und Jahresplänen zu bestimmen und entsprechend der jeweiligen bereichsspezi- fischen Muster zu synchronisieren“ (ebd.; vgl. Zerubavel 2003; s. 7.1.2). Rosa erklärt damit das unvermeidliche Phänomen des kollektiv empfundenen ‚Zeitdrucks’ als Folge von Wartezeiten, die in „funktional ausdifferenzierten Gesellschaften unvermeid- lich“ entstehen, wenn die Akteure ihre Handlungen und „Zeitmuster“ zum Zwecke der Synchronisation an denen ihrer Kooperationspartner orientieren (Rosa 2005: 34). „Die kollektive Natur der je konkreten Zeitmuster ergibt sich dabei insbesondere aus [eben- diesem] Synchronisationsbedarf“ (ebd.; Herv.i.O.). Diese Synchronisation muss mit den drei oben genannten Zeitdimensionen, aus je eigener Perspektive und der Perspektive der Sozialpartner, in Übereinstimmung gebracht werden. Stärker noch als auf der ersten Ebene des Alltags ist die Lebensplanung auf der zweiten Ebene sozial konstruiert: „ Ob, wie und wie weit in die Zukunft geplant wird, hängt in hohem Maße von der Stabilität und Vorhersagbarkeit der sozialen und kulturellen Umwelt ab“ (ebd.; Herv.i.O.). Auf der dritten Ebene ist der individuelle Einfluss auf die Gestaltung kaum mehr nennens- wert: „hier bleibt dem individuellen Akteur nur die Möglichkeit, sich affirmativ oder oppositionell zu den jeweiligen ‚Ansprüchen ihrer Zeit’ zu verhalten“ (ebd.). Das ‚In- der-Zeit-Sein’ der Individuen ist, so lässt sich nun sicher sagen, „stets das komplexe Produkt struktureller und kultureller Verhältnisse und deren nur sekundärer Brechung in Perspektive des jeweils handelnden Subjekts“ (ebd.). Die Beziehung der drei Ebenen folgt dabei kulturellen und individuellen „narrativen Mustern“ (ebd.: 35). Sie sind As- pekte der Identität (s. 5.2.1).
Die „erzählte[…]‚Weltgeschichte’“, vor deren Hintergrund sich die individuelle Narration bewegt, lässt dem Einzelnen die „Endlichkeit des je individuellen Da- seins“ deutlich werden und die „Diskrepanz zwischen der begrenzten Lebenszeit und der perspektivisch unbegrenzten Weltzeit zu einem narrativen und lebenspraktischen Problem werden“ (ebd.). Um dieser Diskrepanz entgegen zu wirken, behelfen sich die meisten Kulturen mit der „Einführung einer vierten Zeitebene, [der] Konzeption einer Sakralzeit “. (ebd.: 35; Herv.i.O.; s. 4.1) Erst durch sie, so scheint es, werden die drei zuvor besprochenen Zeitebenen zu einem „kultur- und handlungsorientierenden Sinn- ganzen, in dem kulturelle Muster und strukturelle Notwendigkeiten, systematische Er- fordernisse und Akteursperspektiven zur Deckung gebracht“ (ebd.: 37) werden. Die zeitlich-kulturelle Einheit ist also „durchaus nicht immer schon gewährleistet, sondern muss in politischen und sozialen Auseinandersetzungen erst hergestellt werden.“ (ebd.; Herv.i.O.; s. 7.2)
Die Frage der sozialen Zeit ist folglich immer auch eine Frage von sozialer und politischer Macht (s. 6.2.4). Interessenkonflikte und Machtkämpfe bei der Bestimmung von kollektiven Ereignissen und Aktivitäten, im Rahmen der ‚Chronopolitik’ (s. 7.2.5) sind somit schwerwiegender als sie aus individuell-lebensweltlicher Sicht anmuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass „wie vor allem Paul Virilio nicht müde wird zu postulieren und zu illustrieren, im historischen Prozess Herrschaft in aller Regel die Herrschaft des schnelleren ist“ (ebd.: 36).
2.2.3. Die Paradoxien der Zeit
Nachdem nun die Ebenen der zeitlichen Orientierung - scheinbar leicht verständlich und problemlos beschreibbar - dargestellt wurden, stellt sich die Frage, warum es den- noch problematisch ist, zu ergründen, wie das Phänomen Zeit im Allgemeinen und das zeitliche Phänomen der sozialen Beschleunigung im Speziellen wirken. Auch hierzu hat Rosa wertvolle Ansatzpunkte geliefert, die für diese Arbeit von zentraler Relevanz sind und daher im weiteren genauer ausgeführt werden. Ganz nach Augustinus (s. I) trügt der Schein der Simplizität der Zeit, denn bei ihrer Betrachtung treten Paradoxien auf allen drei Ebenen auf.
Auf der ersten, der historischen Ebene der Zeit, zeichnet sich die aktuelle Zeit- krise der Moderne zum einen durch die neue Empfindung bzw. die Überzeugung aus, „dass es die Zeit selbst sei, die aus den Fugen geraten ist, dass die anhaltende Krisenzeit das Resultat einer Zeitkrise ist“ (ebd.: 39; Herv.i.O.). Des Weiteren ist auf dieser Ebene das Paradoxon von Beschleunigung und gleichzeitigem Stillstand zu verorten: Einer- seits sind sich die modernen Menschen im Kollektiv einig „‚alles werde immer schnel- ler’“ und andererseits, wird das eigene Zeitalter als ein unbewegliches wahrgenommen, in dem sich nichts Neues mehr ereigne: „Es erschöpfen sich die utopischen Energien, weil alle Möglichkeiten des Geistes und der Ideen als durchgespielt erscheinen, weshalb die Ausbreitung ereignisloser Langeweile droht“ (ebd.: 41). Als klassisches Beispiel des Diskurses der Post-Geschichte ist natürlich Fukuyamas ‚Ende der Geschichte’ (Fukuy- ama 1992) zu nennen, doch gibt es auch andere Autoren, die unser Zeitalter ex negativo als: „‚Nach’- und ‚End’-Epoche, als ‚post’-Zeitalter am Ende der Vernunft, des Subjekts, der Werte, der Erziehung, der Erzählungen, der Politik, der Geschichte etc.“ (ebd.) bestimmen. Neu an dieser Art der epochalen, gesellschaftlichen Zeitanalyse ist, dass es sich „um Beobachtungen eines Epochenumbruchs ohne korrespondierende Vision eines ‚kulturellen Neustarts’, mithin ohne eine neue sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ handelt (ebd.).
Analog zur ersten Ebene mit ihrer „simultanen Beschleunigung des sozialen Wandels und der Erstarrung der sozialen Entwicklung“, wartet nach Rosa (ebd.: 42) die zweite Ebene, die der Lebenszeit mit der paradoxen „Doppeldiagnose“ von der gleichzeitigen Erhöhung des Lebenstempos bei einem immer hektischer werdenden Leben mit all ihren Folgen wie Überreizung, Überforderung und der ereignislosen Langeweile modernen Lebens bzw. dem „verfliegendem“ und zugleich „stillstehenden“ Leben auf. Dabei widerspricht das verfliegende Leben der sich immer weiter ausdehnenden durchschnittlichen Lebenszeit in westlichen Gesellschaften.
Der populärste Ansatz zur Erforschung des Lebenstempos innerhalb von Kultur- kreisen und im Vergleich unter ihnen ist sicher der Robert Levines (Levine 1997; s. 6.2.3). Er reiste um die Welt und maß in 31 Ländern die Gehgeschwindigkeit in Innen- städten, wie viel Zeit Postangestellte benötigen eine Standardbriefmarke zu verkaufen und erhob die Genauigkeit öffentlicher Uhren und ordnete die Länder nach ihrem jewei- ligen Gesamttempo. Auch wenn die Ergebnisse an geringer Validität leiden, kann doch ein Trend herausgelesen werden: In industrialisierten Ländern ist das Lebenstempo ten- denziell höher als in nicht- oder weniger industrialisierten. Das entscheidende Paradox wird deutlich, wenn Levine die Wahrscheinlichkeit einen Herzinfarkt zu erleiden mit dem Lebenstempo abgleicht, denn diese ist an ‚schnelleren’ hochindustrialisierten Orten signifikant höher. Der österreichische Philosoph und Gründer des „Verein zur Verzöge- rung der Zeit“ Peter Heintel erklärt dieses Paradox der Moderne folgendermaßen: „Es entspricht der Philosophie der Neuzeit [s. 4.2.2], daß man menschliche Bedürfnisse durch Produkte beantwortet. Das geht natürlich nicht restlos - und dieser Rest treibt weiter“ (Schnabel, Dezember 2009). Die Wurzel dieses Problems sieht Rosa in einem gesamtgesellschaftlichen „Kontingenzbewältigungsproblem“; der Notwendigkeit zur langfristigen Planung bei deren gleichzeitiger Unmöglichkeit: „Die beschleunigte Um- wandlung von Verhältnissen, Institutionen und Beziehungen, d. h. die Beschleunigung des sozialen Wandels, stellt die Individuen dabei vor das Problem, ihr Leben langfristig planen zu müssen, um ihm eine gewisse zeitresistente Stabilität zu verleihen, ohne dies angesichts der wachsenden Kontingenz der sozialen Verhältnisse jedoch rational tun zu können“ (Rosa 2005: 43).
Die Ebene der Alltagszeit schließlich offenbart nach Rosa (ebd.; Herv.i.O.; s. 6.2.1) ein Paradoxon, dass aus den beiden zuvor genannten resultiert: In der Alltagspraxis verliert Zeit, trotz moderner Technik und Planung, die auf die Einsparung der Zeit abzielt, „kei- neswegs ihren Charakter der Knappheit“. Das Gegenteil ist der Fall: „ Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir, lautet die verbreitete, in Michael Endes Momo ein- drucksvoll illustrierte Volksweisheit“ (ebd.). Zeiteinsparung scheint zu weiterer Zeit- knappheit zu führen. Auch wenn die nicht notwendigerweise produktive ‚Freizeit’ quan- titativ messbar in hohem Maße vorhanden ist, „diagnostizieren Sozialwissenschaftler seit Staffan B. Linders einflussreicher Studie The Harried Leisure Class1970 für die Gegenwartsgesellschaft daher eine akute ‚Zeit-Hungersnot’, die sich auf allen drei Zeit- ebenen manifestiert“ (ebd.: 43f.). Mit Rosa wird diese als ‚soziale Beschleunigung’ wei- ter untersucht.
2.2.4. Soziale Beschleunigung
„Das große Missverständnis der Beschleunigungsgesellschaft ist es, zu mei- nen, wir könnten souverän über unsere Zeit bestimmen. Doch wenn die gan- ze Gesellschaft beschleunigt, kann ich nicht einfach individuell langsamer laufen, sonst stolpere ich und falle auf die Nase.“ (Schnabel, Dezember 2009: 2)
Die gesellschaftliche Beschleunigung im Zuge des technischen Fortschrittes mit einher- gehender Steigerung der Mobilität und Mobilitätserwartung ist nicht von der Hand zu weisen (s. 7.1). Die alleinige Feststellung, dass es diese Beschleunigung gibt, darf aber nicht zu einer vorschnellen Verurteilung dieses Prozesses führen. Während der zielge- richtete technische Fortschritt mitsamt seinen Annehmlichkeiten weiterhin begrüßens- wert bleibt, denn: „Beschleunigung und Flexibilisierung vermitteln uns ein Freiheits- und Glücksgefühl“ (Schnabel, Dezember 2009: 2), ist es eher die mangelnde Balance von technischen und sozialen Aspekt die Anlass zur Sorge bereitet. Rosa meint dazu: „Eine offensichtliche Gefahr besteht dabei jedoch in der potenziellen Desynchronisation von Prozessen, Systemen und Perspektiven infolge einseitiger Beschleunigung“ (Rosa 2005: 44). Ebendiese „Desynchronisation“ kann vielmals nicht in eine angemessene „Resynchronisation“ übersetzt werden (ebd.).
Daraufhin führt Rosa aus, wie sich die Desynchronisationsdiagnosen auf drei analytischen Ebenen systematisieren lassen: Es kann zum einen zu einer Auseinander- entwicklung der Zeitmuster auf der institutitionellen und der Akteursebene kommen.
Derartige sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen „argumentieren, die systemischen Pro- zesse der modernen Gesellschaft seien zu schnell geworden für die in ihnen lebenden Individuen“ (ebd.: 45; vgl. Reheis 2003; s. 7.3.3) oder umgekehrt, meist vorgetragen durch Ökonomen und Arbeitgeber: „die Akteure seien zu träge, bequem, unflexi- bel“ und „Fehlallokationen“ wie Arbeitslosigkeit seinen „systemische Mangelerschei- nungen“ (ebd.: 46; s. 7.3.2). Zum anderen ist eine „wachsende Inkongruenz der drei ak- teursleitenden Zeithorizonte“ (ebd.: 46; s. 2.2.2) feststellbar. Nach Rosa fallen die drei Horizonte bzw. Ebenen auseinander und da sie nicht wieder versöhnbar bzw. ‚resynch- ronisierbar’ sind, nehmen die Individuen die Zeit als ‚entfremdet’ wahr (ebd.; Ahleit 1988; s. 7.1.4). Auf der dritten Ebene der Desynchronisierung sind schließlich soziale Subsysteme bzw. Funktionssysteme untereinander unvereinbar geworden. „So lautet eine in den Sozialwissenschaften und bis in die Feuilletons und die Alltagspolitik hinein verbreitete Zeitdiagnose etwa, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Technik und die durch sie ausgelösten Entwicklungen seien zu schnell geworden für eine politische Steuerung und rechtliche Regulierung der gesellschaftlichen Veränderungen“ (ebd.: 46, Herv.i.O.).
Es zeigt sich schon hier, dass das zentrale Thema dieser Arbeit, die soziale Be- schleunigung, weder mit einer einfachen Theorie erklärbar, noch aus dem Geflecht der sich gegenseitig bedingenden Faktoren extrahierbar ist. Was ist also soziale Beschleuni- gung? Hartmut Rosa schreibt dazu: „Eine gesellschaftstheoretische Bestimmung der Moderne, welche die Kategorie der Beschleunigung zu ihrem Ausgangspunkt nimmt, steht […] zunächst vor der ebenso nahe liegenden wie sich jeder einfachen Antwort widersetzenden Frage, was soziale Beschleunigung heißt und was genau sich im Mo- dernisierungsprozess eigentlich beschleunigt“ (ebd.: 52). Was feststeht ist, durch die technische Beschleunigung - „das Auto ist schneller als das Fahrrad, die E-Mail schnel- ler als der Brief, wir produzieren immer mehr Güter und Dienstleistungen in immer kürzerer Zeit“ - wird der soziale Erwartungshorizont verändert und die Erwartungen an die eigene „Reaktionsfrequenz“ und die der anderen steigen (Schnabel, Dezember 2009: 1). Der soziale Wandel hin zur individuellen Flexibilität lässt „immer weniger Veranke- rung in stabilen sozialen Beziehungen“ zu (ebd.). Wie bereits erwähnt (s. 2.2.3), ist eine Beschleunigung des Lebenstempos unabstreitbar: „Wir versuchen, mehr Dinge in kür- zerer Zeit zu erledigen. Wir essen Fast Food, statt in Ruhe zu kochen, machen Multitas- king auf der Arbeit, power nap statt Mittagsschlaf oder lassen die Pausen gleich ganz weg“ (ebd.; Herv.i.O.).
2.3. Zwischenfazit und Spezifizierung
Bis hierhin kann mit Sicherheit festgehalten werden, dass der Mensch selbst die Zeit in kulturellen Variationen schafft und versucht sich biologisch, sozial und persönlich mit ihrer Hilfe zu synchronisieren (s. 2.1). Zudem versucht er diese Synchronisation immer weiter zu verdichten und auf die Herstellung von Simultanität hin zu optimieren. (s. 7.2) Das führt zur Steigerung zu einer feststellbaren Erhöhung des Lebenstempos bzw. zur ‚sozialen Beschleunigung’. (s. 2.2) Diesen Prozess wiederum konnten die Sozial- und Geisteswissenschaften, trotz zahlreicher Ansätze bisher nicht hinreichend theoretisieren. (s. 2.2.1) Zwar herrscht weitgehend Einigkeit über das Vorhandensein verschiedener Ebenen der Zeitwahrnehmung, -bedeutung und -nutzung bzw. der temporalen Vermitt- lung von Zeit (s. 2.2.2), doch bleiben die grundlegenden Paradoxien der Zeit weiter ungeklärt oder vage gedeutet. (s. 2.2.3) Rosa lässt sich davon nicht beunruhigen: „An dieser Stelle genügt es, festzuhalten, dass die (fortwährende) Beschleunigung auch nur eines sozialen Teilsystems aufgrund der ‚(zeit)strukturellen Kopplung’ sozialer Syste- me und dem daraus sich ergebenden Synchronisationsbedarf temporale Folgeprobleme für alle übrigen Systeme — und die in ihnen agierenden Akteure - aufwerfen kann“ (Rosa 2005: 47).
Innerhalb ausdifferenzierter sozialer Systeme und in der Globalisierung über- haupt „besteht das genuin Neue […] nicht im Auftreten der unter diesem Stichwort diskutierten Prozesse selbst, sondern in der Geschwindigkeit, mit der sie sich vollziehen“ (ebd.: 48; Herv.i.O.). Zwar lässt sich eine „globale Synchronisierung“ mit allen ihren unüberschaubaren strukturellen und kulturellen Folgewirkungen feststellen, doch ist diese Erkenntnis für eine Skizze der globalen Gesellschaft zu oberflächlich: „Die sinn- bildliche Verdichtung des ‚Globalisierungszeitalters’ ist das ortlose, ‚utopische’ Inter- net, in dem alle Ereignisse weltweit gleichzeitig stattfinden“ (ebd.; Herv.i.O.). Doch im gleichen Zuge sind innerhalb von Gesellschaften und gesellschaftsübergreifend „De- synchronisationserscheinungen“ (ebd.) erkennbar. Deren Folge sind die immer be- schwerlicher werdende „Resynchronisation zwischen Akteurs- und Systemperspekti- ve“ (s. 2.2.4) und die wachsende Machtlosigkeit (s. 7.2.5) der Politik und des Rechtes gegenüber den Entwicklungen der Zeit (ebd.). Rosas „leitende Hypothese ist [im weite- ren Verlauf seiner Arbeit; P.W.] die Vermutung, dass die in der Moderne konstitutiv ange- legte soziale Beschleunigung in der » Spätmoderne « einen kritischen Punkt übersteigt, jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lässt. “ (ebd.: 49f.; Herv.i.O.; s. 7.2.5)
Was können die bisherigen Feststellungen für den Inhalt, die Ausrichtung oder das Ziel dieser Arbeit beitragen? In jedem Fall warnen sie vor Kategorienfehlern und es werden potentielle Fehlerquellen bei der Bestimmung eines sozial- bzw. kulturwissen- schaftlichen Zeitbegriffs deutlich. Denn „oft werden dabei unter sträflicher Missachtung der Kategorien der Physik und der Logik die Begriffe der Geschwindigkeit und der Be- schleunigung einfach synonym verwendet, d. h., Beobachtungen der Beschleunigung und der hohen Geschwindigkeit von Prozessen werden in eins gesetzt“ (ebd.: 52).
Zu der wichtigen Erkenntnis „Zeitbewusstsein ist kulturbedingt“ kommt u.a. Götze (2004: 267-271). Auch er grenzt die objektive, vom Menschen nicht beeinfluss- bare - die „physikalisch messbare (metrische) Zeit“, wie sie seit Newtons Verabsolutie- rung in den Naturwissenschaften lange Bestand hatte und noch immer hat (3.2) - als ‚Sklave der Physik’ von der subjektiven, der sozialen und, zentral für diese Arbeit, der kulturellen Zeit ab.
„Heute stehen sich in den Naturwissenschaften unverändert und im Grunde unverändert zwei Zeitauffassungen gegenüber: die subjektiv empfundene Zeit und die objektive Zeit der kosmischen Uhr der Himmelskörper, gemessen nach der Atomuhr oder anderen Messgeräten. Sie ist scheinbar objektiv und unveränderlich.“ (ebd.: 267)
Seit Kant - und seine Bedeutung wird erst im Gesamtbild der philosophischen Zeitge- schichte wirklich deutlich (s. 4.2.2) - ist die „Zeit eine Vorstellung unseres Selbst“ und bisher keineswegs als objektive Größe verifiziert (ebd.: 268). Mit Ernst Pöppel (2003) schlägt Götze vor, evolutionistisch zu denken und zu fragen: „‚Wie komme ich zur Zeit?’“ (ebd.: s. 5.2.1). Die Bedeutung dieses Vorschlages, so lapidar sie scheinen mag, kann für diese Arbeit nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn sie bestimmt die wei- tere Gliederung in ihrer Gesamtheit. Das Schema, nach dem Pöppel das Zur-Zeit- kommen kategorial darstellt, unterteilt sich in eine primäre Ebene - des Zeiterlebens - die von den Neurowissenschaften und der Psychologie untersucht wird (s. 5) und in eine sekundäre Ebene (s. 2.1), die sich wiederum in einen physikalischen, die Zeit in der Natur beschreibenden (s. 3) und einen semantischen, das Leben und die Geschichte deu- tenden Zeitbegriff (s. 4), differenzieren lässt (ebd.: 268). Weil auf den primären Zeit- begriff hingearbeitet werden soll, interessieren vorerst die sekundären Ebenen.
3. Mechanischer Zeitbegriff
Es soll im Weiteren - unter der Bezeichnung ‚Mechanischer Zeitbegriff’ zusammenge- fasst - aufgezeigt werden, dass es keine objektive Zeit sich, ohne Bezug auf etwas, ohne Messung und Bedeutung gibt (s. 2.1), Zeit in der Natur substanziell nicht vorhanden ist. Auch das Wiederkehrende braucht die Position des Subjekts, das die Wiederkehr er- kennt und ihr Bedeutung geben kann. Zeit ist demnach immer eine Abstraktion eines Verlaufes durch ein Subjekt. Es wird ersichtlich werden, dass selbst der physikalische, auf der scheinbar objektiven Betrachtung basierende, Zeitbegriff nicht außerhalb einer kulturellen Konstruktionsleistung zu finden ist. Eine Frage Ruhnaus kann uns helfen die Unterscheidung zwischen einer objektiven, der Natur impliziten und einer subjektiven, menschlich gesetzten Zeit zu finden: „Was tun wir, wenn wir Wissenschaft ma- chen?“ (Ruhnau 1996: 65). Als Subjekt sind wir Beobachter der Natur. Die beobachtete Natur machen wir zum Objekt der Betrachtung. Dabei orientieren wir uns immer, be- wusst oder nicht, an einer Theorie, an Vorannahmen. So folgen auch die klassischen Wissenschaften immer einer Theoriesprache, die einem zu Grunde liegenden Weltbild immanent ist. (ebd.: 66) Auf Basis dieser Einsicht kann nun mit Blick auf die erste Aus- gangsfrage ‚Wie erschafft der Mensch die Zeit?’ die Abgrenzung einer objektiven Zeit der Naturwissenschaft von einer subjektiven des Menschen versucht werden.
3.1. Objektive Natur-Ursprünglichkeit der Zeit
Die Gezeiten (die Begriffsgeber für den deutschen Zeitbegriff sind), das Wetter (die Begriffsgeber im romanischen Sprachraum sind) und andere Zyklen sind nur scheinbare Konstanten in der Natur und nur weil sie „konstant zu sein scheinen, sind wir geneigt, an eine statische Natur zu glauben“ (Wuketits 1993: 122). Sie sind ‚naive’ tradierte Ab- leitungen von Naturbeobachtungen der Menschen, die durch ihre Regelmäßigkeit im Verlauf der Geschichte zu Naturkonstanten werden konnten. Zu solchen Konstanten wurden sie aber nicht durch sich selbst oder die außermenschliche Natur, sondern aus- schließlich auf Grund menschlicher Setzung innerhalb des jeweils vorherrschenden ‚Weltbildes’. Das vorherrschende in der westlichen, auf der antiken Philosophie (s. 4.2.1) basierende, Weltbild „ist die Vorherrschaft über die Einheit der Gegensätze und den permanenten dialektischen Prozeß des Wandels“, die „Unterordnung des Begriffs der Zeit unter objektive Seinskategorien “ (Ruhnau 1996: 66f.; Herv.i.O.) Wie wir durch die modernen Naturwissenschaften heute wissen, sind diese Konstanten keinesfalls so unabänderlich, wie sie den Menschen noch vor wenigen Jahrhunderten erschienen. (s. 3.2) Die unabänderliche Zeit in der Natur als eigenständiges Phänomen ist ein mythisches Weltbild, dem wir selbst anhängen, meinen wir uns von der Zeit bestimmen zu lassen. In Ruhnaus Worten: „Wenn wir über die Zeit nachdenken, so denken wir über die Zeit in der Zeit“ (ebd.: 67; Herv.i.O.).
Ein Versuch die Zeit in der Natur selbst zu verorten stellt Roennebergs Untersu- chung zur „Zeit als Lebensraum“ (1993) dar: „Da die Anpassung an Zeiträume auch ein ökologisches Problem ist, gibt es neben der Ökologie des Raumes auch eine Ökologie der Zeit (Chrono-Ökologie)“ (Roenneberg 1993: 41), die aber nicht der Zeit-Ökologie (s. 7.2.4) entspricht. Er arbeitet hier die Bedeutung der Zeit für die Biologie heraus, in- dem er belegt, wie sehr die gesamte Evolution bis zur Entwicklung einzelner Arten an zeitliche Verläufe gebunden ist, erörtert aber bei genauer Betrachtung doch nur „Endo- gene Rhythmen“ sowie „Tages“- und „Jahresrhythmen“ der Natur, die erst durch menschliche Abstraktion in einen zeitlichen Verlauf gebracht werden. Solche „circadia- ne Rhythmen“ (Deppert 1993, 128) werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch einmal an Bedeutung gewinnen. (10.1.3) Zwar hat alles in der außermenschlichen Natur einen eigenen Takt (Laufmann, Oktober 2008: 3), ob sich aber Tiere und Pflanzen diesen, sie antreibenden Takt als ein zuvor, gerade und danach bewusst werden, ob Zeit also au- ßerhalb der menschlichen Lebenswelt existent ist, ist bisher zumindest fraglich. So ha- ben Tiere „offenbar keinen Begriff von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (ebd.: 6). Was interessiert, ist nicht eine Rechtfertigung der objektiven Zeit, sondern vielmehr, wie der Mensch die Zeit in die Natur bringt, indem er sich ein ‚Bild’ von ihr macht. Dabei darf freilich auch die kulturelle Perspektive menschlicher Weltsicht nicht verab- solutiert werden: „Alle unsere kulturellen Aktivitäten hängen letzten Endes von unse- rem Gehirn, also einem biologischen Organ ab, das sich im Laufe mehrerer Jahrmillio- nen entwickelt hat“ (Wuketits 1993: 126). Kulturgeschichte ist nur Teil der Naturge- schichte, aber sie ist für das hier fokussierte Phänomen die relevante. Auch wenn die Menschheit kurzfristig in der Lage ist die ‚organische Evolution’ mitzugestalten, sind die Folgen langfristig nicht abzuschätzen (ebd.: 126f.). Es gibt zwar Ansätze zur exak- ten Berechnungen von Wachstum in Relation zur organischen Zeit, zur „Entsprechung zwischen Wachstum und Evolution“ und zu „Evolutionszyklen“, doch meint auch Köt- ter, dass eine universelle organische Zeit ebenso wenig ‚real’ ist wie eine universelle physikalische (Kötter 1993: 57-102). Dieser Behauptung gilt der nächste Abschnitt.
3.2. Der absolute und relative Zeitbegriff in den Naturwissenschaften
„War die Vergeschichtlichung und Verzeitlichung der Natur eine der er- kenntnistheoretischen Voraussetzungen des Evolutionsgedankens, so war es umgekehrt die Evolutionstheorie, die unsere Vorstellungen von Geschichte und Zeit in der Natur maßgeblich beeinflußt hat.“ (Wuketits 1993: 123)
Wuketits trifft eine hilfreiche Unterscheidung, indem er die organische von der kulturel- len Evolution trennt. Erstere zeichnet sich durch Fehlen einer Zielintention aus, wäh- rend die zweite auf einem „‚zwecksetzenden Bewußtsein’“ beruht (ebd.: 125). Weiter- hin grenzt er die „technische“ als Sonderfall der „kulturellen“ von der „organi- schen“ Evolution ab: „In der Technik kann man heute zumindest im Prinzip die Funkti- on einer neuen Maschine oder Apparatur voraussagen, noch bevor diese gebaut ist und zum Einsatz kommt. […] Demgegenüber macht sich die Wirkung evolutiver Änderun- gen im Bereich des Organischen erst sehr spät bemerkbar“ (ebd.: 126), wobei sich in der Postmoderne mehr denn je herausstellt, dass sich auch unvorhergesehene techni- schen Folgen menschlichen Handelns erst spät, manchmal zu spät, zeigen. Ein gutes Beispiel für die anhaltende Überschätzung der subjektiven Möglichkeiten zu Gunsten der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs der Naturwissenschaften soll hier kurz angeführt werden. In: „Ursprüngliche und physikalische Zeit“ stellt Richter mit Weizsä- ckers Arbeiten zum „Aufbau der Physik“, die „Zeit in der mathematischen Naturwis- senschaft“ hinsichtlich ihrem Zeitverständnis als ‚dichotom’ dar (Richter 1996). So führt er Weizsäckers ‚Prinzip der semantischen Konsistenz’ (Weizsäcker 2002: 221) an, welches besagt, dass ein „Vorverständnis über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft […] immer schon benutzt“ (Richter 1996: 71) wird. Richter (ebd.: 71ff.; Herv.i.O.) stellt diese Zeitmodi in 5 Thesen dar: 1) „Die Zukunft ist m ö glich “ und „ nicht vorbe- stimmt “, denn bereits bevor sie physikalisch betrachtet wird, wissen wir „um sie“. 2) „Die Vergangenheit ist faktisch “, denn der „Wahrscheinlichkeitsbegriff [ist auf sie] von vornherein nicht sinnvoll anwendbar.“ 3) Dies gilt im „Sinne der semantischen Konsis- tenz “ (ebd.: 72; Herv.i.O.). Mit der These 4) will er die subjektive Erfahrungen als ob- jektiv deklarieren, indem er meint: „daß das, was die Physik aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen will, ein notwendig Allgemeingültiges ist, so daß ich jederzeit und auch jedermann dieselben gesetzlichen Verbindungen herstellen kann.“ Weizsäcker scheint nicht zu merken, dass er einen Alltagsfehlschluss begeht, indem er folgert: was nicht nur ich, sondern auch andere erkennen können, sei schon objektiv. Nur so kann er die fünfte These formulieren: „Die Zeit ist nicht ‚bloß subjektiv’“ (Weizsäcker zit. nach ebd.: 73). Diese These verwundert besonders, da Weizsäcker einige Jahre zuvor fest- stellte: „Das tiefe, noch nie genug verstandene philosophische Problem der Quantenthe- orie [s. 10.1.2] liegt […] darin, daß […] jede klassische, faktische Beschreibung des Geschehens nur eine Näherung ist […], so ist die Wirklichkeit [und mit ihr die Zeit; P.W.] in Strenge niemals faktisch“ (Weizsäcker 1984: 24). Er folgert: „Wir müssen also nunmehr die kulturellen Prämissen unserer Naturwissenschaft anschauen“ (ebd.: 29), was nicht weniger bedeutet als „daß in Wahrheit unsere Vorstellungen von der Natur des Menschen selbst Produkte unserer geschichtlich gewordenen Kultur sind“ (ebd.: 30). Schließlich hat die Wertung der Zeit neben der kulturellen auch eine spezifisch subjek- tive Komponente, denn „die auf die Zeit bezogenen Begriffe ‚lang’ und ‚kurz’“ haben „eine durch unsere Wahrnehmung festgelegte“ semantische Bedeutung (Eigen 1984: 220; s. 5). Zur psychologischen Zeitwahrnehmung folgt später mehr. Zuvor kann eine kurze historische Ausführung des Wandels des Zeitverständnisses von der klassischen hin zur modernen Physik, die das moderne Verständnis von Zeit, im Sinne ihrer Mess- barkeit und Berechenbarkeit maßgeblich prägen, hier aber zuviel Platz einnehmen, in den Exkursen 10.1.1 zur klassischen und 10.1.2 zur modernen Physik nachgelesen wer- den. Zusammengefasst lässt sich daraus entnehmen: Die Annahme Newtons (um 1700) Zeit sei ‚absolut’, also eine verlässliche, objektive Variable, wurde mit Einsteins ‚Spe- zieller Relativitätstheorie’ (1905) widerlegt. Eine Zeit gilt nie für alle Betrachter glei- chermaßen. Die Uhr nimmt aber im Verhältnis von Raum und Zeit „einen merkwürdi- gen physikalischen ‚Zwischenstatus’ ein“ (Eisenhardt 2007:151). Denn es wurde sich international auf einheitliche Standards zur Zeitmessung geeinigt. Bei den Bestrebungen einer immer exakteren Messung der Zeit besteht die Gefahr einer „ Entleerung ihres Sinns “ (Husserl 1996: 47). Im Hauptteil dieser Arbeit wird die physikalische Perspekti- ve nicht weiter betrachtet werden. Was ihr aber vorantreibt, ist die kulturelle Aneignung der Zeit durch deren Messung. Dieser Prozess wird im nächsten Abschnitt dargestellt.
3.3. Die mechanische Zeit - Uhrzeit und Kalender
„Die absolute Zeit oder Dauer ist nichts anderes als das existierend angenommene Ideal einer real nicht existierenden vollkommenen regelmäßigen Bewegung.“ (Eisenhardt/Linhard 2007: 3)
Die Physik beschäftigt sich mit der Frage wie sich die Zeit in Wechselwirkung zum Raum möglichst genau bestimmenii lässt (s. 10.1.2). Das mag zwar bspw. bereits für die Schifffahrt des 18. Jahrhunderts revolutionär gewesen sein (Lang 2004: 360), soll aber einer Beschreibung und Deutung der sozialen Beschleunigung nachgegangen werden, müssen der menschlichen Lebenswelt viel nähere Phänomene - die Uhrzeit und der Kalender - genauer betrachtet werden. Die Perspektive soll auf die Zeitmessung in der menschlichen Alltagswelt und damit auf die gesellschaftliche Bedeutung der Zeit und die Zeitverteilung für den Menschen gerichtet werden.
Schon vor der Uhrzeit machte sich die Menschheit den Kalender nutzbar. Die Ägypter führten beispielsweise vor tausenden Jahren bereits „ein abstraktes Sinnenjahr mit zwölf Monaten zu je 30 Tagen ein“ (Heuwinkel 2004: 36), um die zuvor vorherr- schende Zeiteinteilung in „,Überschwemmung’, ‚Aussaat’, ‚Ernte’“ zu optimieren (Geißler 1992: 48). Interessieren soll hier aber nicht die reine Geschichte des Kalenders, sondern vielmehr dessen Bedeutung. In erster Linie haben durch seinen Gebrauch „fort- schrittliche Kulturen Bezugspunkte für gemeinsame Gruppenaktivitäten geschaf- fen“ (Rifkin 1988: 103). Denn er hilft „gruppeninterne Gefühle zu festigen“ und Solida- rität herzustellen und trägt gleichzeitig zur kulturellen Inklusion und Exklusion bei (ebd.: 109). Des Weiteren ist er auf die Vergangenheit bezogen: „In Kalenderkulturen nimmt die Zukunft ihre Bedeutung von der Vergangenheit“ (ebd.: 115). Die gesellschaftliche Bedeutung des Kalenders, der „die Makrozeit reguliert“ ist zwar heute noch vorhanden, doch muss er sie sich heute mit dem „Zeitplan“ teilen, der im Gegensatz zur „.Verteilung der Ereignisse über das Jahr“ die „Mikrozeit“ und damit die „Verteilung der Ereignisse über die Sekunden, Minuten und Stunden des Tages“ reguliert (ebd.: 115). Im diametralen Unterschied zum Kalender regelt der Zeitplan die Zukunft: Wäh- rend in „traditionellen Kalenderkulturen […] die wichtigen Zeiten heilige Zeiten“ sind, ist der Zeitplan „mit Produktivität assoziiert“ (ebd.: 116).
Viel mehr noch als die des Kalenders hat die Bedeutung der Uhr zugenommen. Auch dazu eine kurze Darstellung. Nach der frühesten bekannten Erwähnung der Zeit als „ Richterstuhl der Zeit “ (640 v. Chr.) durch den Athener Solon (Genz 1996: 42; Herv.i.O.), wurde der Anfang der Zeitmessung markiert durch „die Wasseruhr, unge- eicht, ohne Skalen […] vermutlich zuerst verwendet zur Bewältigung der Aufgabe, die Zeit gerecht zu verteilen - etwa die Redezeit in einem Rechtsstreit“ (ebd.). Mit Eudoxos von Knidos, der 350 v. Chr. „Sonnenuhren in Form einer halben oder viertel Holzkugel ein Liniennetz konstruierte“ (Janich 1997: 132) wurde die wissenschaftlich- astronomi- sche Grundlage der Zeitmessung gelegt. Die ersten mechanischen Uhren wurden dar- aufhin in Klöstern entworfen, die ein „besonderes Interesse an einer möglichst genauen Tageszeitmessung hatten“ (Heuwinkel 2004: 36). Es galt bei den Benediktinern schon früh: „Der Müßiggang galt als Feinde der Seele“ (ebd). Durch die so hergestellte „Ein- heit für Zeitdauer“ war es den Mönchen nun möglich „die Abfolge der Tätigkeiten mit größerer Akkuratesse [zu] planen und die Gruppenaktivitäten verläßlicher [zu] synchro- nisieren“ (Rifkin 1988: 121). Die ersten mechanischen Räderuhren sind aus der Zeit 1270 und 1300 bekannt. Sie waren „von Beginn an Zeichen und Instrument eines neuen, linear-dynamischen, quantifizierenden, planenden, auf Nützlichkeit ausgerichteten Zeit- bewusstseins, das die europäische Geschichte, und nicht nur diese, bis heute prägt“ (Heuwinkel 2004: 36).
Wurde die Zeit zuvor, wenn überhaupt an Erscheinungen wie die „aufgehende und untergehende Sonne und die wechselnden Jahreszeiten“ gemessen, war sie nunmehr „eine rein mechanische Funktion“ (Rifkin 1988: 125). In Rifkins Worten: „Die neue Zeit ersetzte Qualität durch Quantität und den rhythmischen Puls der natürlichen Welt durch Automatismus“ (ebd.: 125f.). Sie ist „kalkulierbar und objektivierbar geworden“, denn der Mensch ist seit dem in der außerordentlichen Lage „den Ereignissen und Tä- tigkeiten eine vorherbestimmte Dauer, die Zeit der Uhr, vorschreiben, statt sie ihre ei- gene Zeit haben zu lassen“ (ebd.: 127). Nun wurde die Uhr, auch auf Grund ihre Wir- kung als Statussymbol von der Bourgeoisie begeistert aufgenommen und verbreitet: „Keine Ecke der Kultur war aus der Reichweite dieses bemerkenswerten, neuen Soziali- sationsmittels ausgespart“ (ebd.). Dadurch wurde die Möglichkeit exakter ökonomi- scher Synchronisierung und Koordination eröffnet (Henning 1998: 17). „Die Uhr kondi- tionierte das menschliche Denken, die Zeit als äußerlich, autonom, kontinuierlich, for- dernd, quantitativ und teilbar wahrzunehmen“ (Rifkin 1988: 127f.). Die „zunehmende betriebliche Arbeitsteilung“ war auf Synchronisation angewiesen (Heuwinkel 2004: 36). So konnte sich die Vorstellung etablieren „Zeit darf nicht ungenutzt verstreichen, son- dern sie wird zielgerichtet für besondere Zwecke eingesetzt“ (ebd.). Oder wie es Ben- jamin Franklin (1706-1790) formulierte: ‚Zeit ist Geld!’“ (ebd.). Als die Ausbreitung der Eisenbahn die Standardisierung der „gebräuchlichen Ortszeiten“ notwendig machte und daraufhin auf der „Weltkonferenz über Zeitzonen“ (1884) der Meridian von Greenwich als „Bezugspunkt der Zeitzonen“ festgelegt wurde (Hatzelmann/Held 2005: 28), war es erstmals möglich Einigung über weltweit einheitliche Zeitpunkte zu erzielen.
Die „sich rapide ausbreitende Präsenz der Zeit“ (Heuwinkel 2004: 37) war nicht mehr aufzuhalten und beschleunigte sich weiter bis heute. Sie „wurde nochmals gestei- gert durch die Armbanduhr, die Ende des 19. Jahrhunderts zunächst für militärische Zwecke hergestellt wurde“ und durch die „Erfindung der Quarzuhr 1929“ die einen „Technologiesprung in der Zeitmessung“ bedeutete (ebd.). An Genauigkeit übertroffen sind sie bisher nur durch die Atomuhren (ebd.): Wir wissen nun, dass „9192631700 Schwingungen der Frequenz beim Übergang von einem Energieniveau des Zäsium- Isotops 133 zum anderen“ (Geißler 1992: 47) eine Sekunde ausmachen. Doch ist diese Genauigkeit für den sozialen Alltag der Menschen bereits völlig absurd. Die Uhr als Messinstrument zeigt nicht eine an sich verstreichende Zeit, sie erzeugt die Zeit mecha- nisch, indem sie eine quantifizierte Messung ermöglicht und voraussetzt. Menschen erzeugen die alltägliche Bedeutung der Zeit, indem sie der Uhr eine absolute, unver- fälschte Wahrheit unterstellen. Doch kann die Uhr und ihre Zeit einen Geltungsan- spruch nur durch die Menschen vorweisen.
3.4. Zusammenfassung
Es war das Anliegen dieses Kapitels der Frage nach einer objektiven, der Natur ent- springenden Zeit dahingehend zu diskutieren, wie unwahrscheinlich die Existenz einer absoluten, objektiven physikalisch aus der Natur ableitbaren Zeit ist und damit einer- seits die Bedeutung der kulturellen Leistung der Zeitbestimmung aufzuzeigen und zum zweiten dem Einwand zu begegnen, die soziale Zeit sei lediglich ein Seitenschauplatz. Es hat sich vielmehr herausgestellt, dass die ‚objektive’ Naturwissenschaft lediglich ein kulturelles ‚Weltbild’ ist: „Periodische Naturvorgänge unter die Herrschaft der Mathe- matik zu bringen [war] die entscheidende Maßnahme aktiven Zeiterfahrens und Zeit- bestimmens, wie sie für die Entwicklung unserer modernen Zeitauffassung insgesamt konstitutiv geworden ist“ (Ströker 1993: 195). Es muss zwischen einer Zeit der Physik und einer „ alltäglichen Zeit, unserem Zeitempfinden“ strikt unterschieden werden (Stöckler 1993: 175; Herv.i.O.).
Obwohl sich die Zeit als absolut und in der Natur nicht feststellen lässt, haben sich die Menschen im Laufe der Geschichte und mit der Mechanisierung stetig „weiter von den biologischphysischen Rhythmen der Erde entfernt“ (Rifkin 1988: 102) und „bei zunehmender Genauigkeit und Standardisierung der Zeiten unabhängig von den tatsäch- liche Ortszeiten eine Tendenz zur ‚Überblendung’ der Naturrhythmen“ (Hatzel- mann/Held 2005: 37) angeeignet: „Die Zeit wurde von ihrer biologischökologischen [sic] Vertäuung losgebunden und im Inneren der Zahnräder einer automatischen Ma- schine eingesperrt, die sie nun in regelmäßigen, unterschiedslosen Schlägen ausportio- nierte“ (Rifkin 1988: 128). Die gleichförmige Uhrzeit ist also „kein natürliches Gesetz, sondern ein kultürlicher Zweck“ (Janich 1997: 138) des Menschen, der getrieben ist vom immerwährenden Versuch die Welt besser zu begreifen. Er hat mittels der Uhr „aufgehört, sich als taumelndes Opfer des Vergänglichkeit zu verstehen“ (Geißler 2004a: 54). Im Zuge dieses anhaltenden Prozesses wurde die Zeit „zunehmend unabhängiger und distanzierter von den Inhalten des Lebens und der Erfahrung“ (ebd.: 51). Die Rhythmen der Natur „als Bezugspunkt werden vom Zeittakt abgelöst“ (ebd.; Herv.i.O.).
Mit der Uhr entstand bzw. wuchs die „Zeitrationalität und Zeitrationalisierung“. Erst sie „erlaubt es, vom ‚Zeitsparen’ und ‚Zeitgewinnen’ zu reden und dem Handeln eine darauf ausgerichtete Zielrichtung zu geben“ (ebd.: 55) und als „Ergebnis moderner Vernunft“, das rationale, lineare Denken etabliert (ebd.: 56). So wurde sie „zum Pla- nungs-, Koordinierungs- und Kontrollinstrument schlechthin in der noch immer auf Beschleunigung angelegten Lebens- und Arbeitswelt in der Gegenwart“ (Heuwinkel 2004: 36). Das große Defizit der physikalisch-mechanischen Uhrzeit (‚chronometrische Zeitordnung’) ist ihre Unfähigkeit „dem individuellen und auch nicht dem sozialen Le- ben einen qualitativ befriedigenden Sinn zu geben“ (Geißler 2004a: 61) und trotzdem prägte sie als „real gewordene menschliche Vorstellung“ das Selbstverständnis der westlichen Lebensform, das „auch ganz anders hätte aussehen können“ (ebd.: 52). Wie sie bzgl. ihrer Zeitvorstellung hätte aussehen können, zeigt ein Blick in die vielfältige Philosophiegeschichte zur Zeit. Dort ansetzend wird im nächsten Kapitel an der Frage gearbeitet werden, wie der Mensch die Zeit denkt.
4. Hermeneutischer Zeitbegriff
„Läßt sich neben oder außer der Naturzeit eine Geschichtszeit ausmachen? Könnte ihr eine eigene temporale Struktur zukommen, die nicht von der Na- turzeit erborgt ist? In welchem Verhältnis wäre dann eine dergestalt genuin geschichtliche Zeit zur universellen Naturzeit zu denken?“ (Ströker 1993: 197)
Es soll in diesem Kapitel nicht noch einmal die Geschichte der Uhrzeit als die der mess- baren Zeit, sondern die historisch-philosophische Bedeutung der Zeit nachgezeichnet werden. Von einer Bestimmung des Zeitsinns und der Zeitwahrnehmung in der Vergan- genheit ausgehend, wird der Zeitsinn und die Zeitwahrnehmung hin zur Moderne, der Technisierung, Ökonomisierung und Politisierung der Zeit beschrieben und bestimmt. Es soll hier auch keine Topografie der Zeit-Geschichte erstellt werden, wie es etwa Ze- rubavel in seinem viel zitierten Werk „Time Maps“ (2003) unternommen hat. Gleich- wohl scheint es wichtig das Verhältnis von Zeit und Geschichte zu bestimmen. Denn einerseits haben Zeit und Geschichte gemeinsam, dass sie „den Menschen sowohl der Faktizität des Werdens wie der Irreversibilität des Vergehens unterwerfen“ und anderer- seits unterscheiden sie sich, da zum Einen in der Geschichte die Zeit transzendiert bzw. gedeutet wird und zum Anderen das objektiv weltliche Geschehen auf das subjektive Zeitempfinden einwirkt (Angehrn 2002: 67-84): ‚Wie denkt der Mensch die Zeit?’
4.1. Mystische Zeitbestimmung und Chronotheologie
Am Anfang der menschheitsgeschichtlichen Überlegungen zur Zeit, noch vor der Ablei- tung der Zeit aus der Natur und ihrer Messung in den Naturwissenschaften, standen mythische Betrachtungen der Griechen. So ist auch die Zeitvorstellung des Abendlandes auf die griechischen Philosophen, die sie ab Thales von göttlichen Ursprüngen lösen und von der Mythologie in die Philosophie überführen, einerseits und der christliche Religion andererseits zurückzuführen (Genz 1996: 43-53). „Dabei wird die Zeit nicht nur wegen ihrer Einheit, sondern ebenso wegen ihrer Notwendigkeit und ihres Allbefas- sendseins immer in die Nähe des göttlichen Wesens gerückt werden“ (Henrich 2002: 24). Im Christentum wurde die Zeit aus „Chaos und Raum“ geboren (Görg 1996: 89- 116) und die Verbindung der göttlichen Ewigkeit und der weltlichen Zeit durch die Ge- burt Christi dargestellt (Frieling 1993: 227-232). Innerhalb der christlich-religiösen Tra- dition hat die Zeit schon seit dem Alten Testament einen konkreten Anfang und ein be- vorstehendes Ende (Westermann 1984: 113-118). Zeitliche Rhythmen ordnen das Erle- ben sowohl zyklisch als auch linear. So „legte [bspw.] die mit dem Sabbat verbundene Zeiteinteilung ein alles durchziehendes und alles ordnendes Zeitmaß über die Erlebnisse des Volkes“ (Schmitz 1993: 143). Wolfgang Huber, der damalige Präsident des Deut- schen Evangelischen Kirchentages, stellt 1984 die sich aus der christlichen Tradition ableitende Bedeutung heraus. Sie „bringt in der Wahrnehmung der Modi der Zeit die Differenz zwischen Gott [in dessen Ewigkeit die Modi aufgehoben sind; P.W.] und Mensch [die nur die Modi zu erkennen vermögen; P.W.] zur Erfahrung“ (Huber 1984: 325). In diesem Sinne wird die Zeit im Laufe der Geschichte auch immer als ein trans- zendentales Phänomen zu betrachten sein, denn: „[d]ie Zeit, die eine andere wird, ist die Zeit, in der wir sind“ (Grøn 2002: 49).
4.2. Philosophische Bestimmung der Zeit
In diesem Abschnitt soll die Zeit als Gegenstand philosophischen Forschens von den Vorsokratikern bis hin zur modernen Philosophie kurz dargestellt werden. Damit kann der historische Wandel noch einmal auf philosophisch-anthropologischer Basis nachge- zeichnet werden. Zentrale Aufgaben der philosophischen Betrachtung der Zeit sind nach Hörtz (1989: 19): „die Einordnung von Zeitphänomenen in ein Weltbild“ und die Deu- tung entsprechender „Handlungsorientierungen“. So können „Zeitkonzepte als Orientie- rungswissen“ (Poser 1993: 17-50) dienen. Über die Philosophie der Zeit liegen Werke in unüberschaubarem Umfang vor, die jeweils mit variierenden Hypothesen neu auf das breite Feld schauen. Viele dieser Werke tragen große Titel, kommen aber nicht umhin zu resümieren, der Aufgabe der Zeitbestimmung nicht Herr zu werden.
4.2.1. Die Zeitvorstellung der Vorsokratiker bis zur Neuzeit
Bei den Vorsokratikern, bspw. Anaximander (610-547 v. Chr.), war die Vorstellung der Welt von der Existenz eines ‚Urstoffes’ geprägt. Da dieser ‚unwandelbar’ und ‚unend- lich’ sein sollte, konnte aus ihm auch keine Zeit abgelesen werden (Genz 1996: 55ff.). Sie war zyklisch organisiert und zeichnete sich durch stetige Wiederkehr aus (Gloy 2008: 15-36). Erst mit Heraklits (530-460 v. Chr.) Erkenntnis: „Es ist unmöglich, zwei- mal in den gleichen Fluß hineinzusteigen“ (zit. nach Genz 1996: 58) wurde der Blick von ‚Sein und Dauer’ Richtung ‚Werden und Änderung gelenkt (Iber 2003: 201-221).
In der Antike wird mit Platon (428-348 v. Chr.) die Vorstellung der quantifizierbaren ‚Zeit als Zahl’ geboren (Held 1992: 13-33). Er stellte im ‚Timaios’ als erster die Frage, wie die Zeit in die Welt kam und kommt zu dem Schluss, dass einzig das ‚Jetzt’ wahr- haft existent und Zeit damit „immerwährende Gegenwart“ (Genz 1996: 63) und damit Abbild der ‚Ewigkeit’ der ‚Weltseele’ ist (Figal 1992: 34-56). Platon versucht mit seiner Theorie von der Zeit einen ersten Übergang zwischen dem mystisch-zyklischen und einer linearen Zeitform, der Grundlage für jegliche physikalische und soziale Beschleu- nigung. Der Augenblick ist das Abbild der Idee und die Zeit schließlich de- ren ,bewegliches Abbild’ (Gloy 2008: 37-58). Die Zeit als rätselhaftes Phänomen liegt für ihn zwischen dem Grund „des Seins und dessen Erscheinungsformen im Bereich der Ideen“ (Link 1984: 75f.). Aus dem Reich der Ideen holt die Zeit daraufhin dessen Schü- ler Aristoteles (384-322 v. Chr.), indem er sie sekundär aus der primären physikalischen Bewegung ableitet (Janich 1997: 236-240): „Wir messen nicht nur Bewegung mittels Zeit, sondern auch umgekehrt Zeit mittels Bewegung, weil sie nämlich durch einander bestimmt werden“ (Genz 1996: 67). Die Zeit wird von ihm in Gestalt des ‚Jetzt’ teilend verstanden (Gloy 2008: 59-72) und klar von kosmologischer und ideeller Ewigkeit ge- trennt (Brentano 1976: 138-152). Mit Plotin (205-270) schließlich beginnt die Betrach- tungsweise der Zeit, wie sie für diese Arbeit grundlegend ist: „Er bringt die Zeit in den engsten Zusammenhang mit der Seele und der Struktur ihres bewußten Lebens“ (Half- wasser 2004: 222) und begründet damit die Psychologisierung der Zeit (Gloy 2008: 73- 96). Dem erkannten Verhältnis „zwischen subjektiver Zeitbildung und objektivem In- der-Zeit-sein“ versucht sich daraufhin Augustinus (354-430) zu stellen (Pocai 2005: 236). Es existiert für ihn zwar eine physikalisch-reale Zeit, der „Ort der Zeit“ ist aber der Geist des Subjekts: „Wiewohl das Subjekt als Bestandteil der Welt selber zeitlich und vergänglich ist, besitzt es in der Vorstellungsfähigkeit ein Vermögen, das die ge- samte Zeit als gegenwärtig vorstellt und damit zugleich eine der Bedingungen ihrer Quantifikation erfüllt“ (Gloy 2008: 117). Trotz aller Bemühungen kommt Augustinus zum populären Schluss: „Solange mich niemand fragt, weiß ich es; wenn ich es einem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht“ (zit. nach Genz 1996: 68; u.a.).
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- Arbeit zitieren
- Peter Wöckel (Autor:in), 2011, Die ‚beschleunigte Gesellschaft’ - Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191492
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