Zunächst erfolgt eine musikalisch-dramaturgische Analyse des Sextetts aus dem dritten Akt von "Le Nozze di Figaro". Anschließend wir das Sextett mit der entsprechenden Szene aus der Dramenvorlage von Beaumarchais verglichen und in die Tradition der Anagnorisis-Szenen im Drama der Empfindsamkeit gestellt.
Hinführung
O bizarre suite d’événemens! - O seltsamer Lauf der Dinge! Mit diesen Worten resümiert Figaro in Pierre Augustin Caron de Beaumarchais’ Komödie La Folle Journée, ou Le Mariage de Figaro die Ereignisse des vergangenen „tollen Tages“. Er ist erstaunt über die Entwicklung seines bisherigen Lebens im Allgemeinen:
„Ein vornehmer Edelmann kommt nach Sevilla; er erkennt mich, ich verheirate ihn, und als Dank dafür, dass ich ihm seine Frau verschafft habe, will er mir die meine wegschnappen.“[1]
Aber auch im Besonderen über ein konkretes Ereignis der letzten 24 Stunden:
„Kurz bevor ich in einen Abgrund stürze, tauchen meine Eltern auf. Es wird hin und her gestritten: Sie sind es, er ist es, nein ich, nein du, wir sind es nicht; ja aber wer denn sonst?“[2]
Dieses Ereignis, das für Figaro den Gipfel der unglaublichen Entwicklungen in seinem Leben darstellt, ist eine plötzliche und unerwartete Anagnorisis, also Wiedererkennung, zwischen ihm, der als Kind von Räubern entführt worden war, und seinen Eltern, die, wie sich herausstellt, eben jene beiden Menschen sind, die während eines Großteils des Stückes seine Erzfeinde gewesen waren.
Mozart macht aus dieser Wiedervereinigung zwischen Eltern und Kind ein Sextett, das zu den Glanzpunkten von Le Nozze di Figaro gehört. Dieses Sextett soll den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden, die aus zwei Teilen besteht. In einem ersten Teil soll der Aufbau des Sextetts und des ihm vorausgehenden Rezitativs nach musikalischen und dramaturgischen Gesichtspunkten analysiert werden. Anschließend soll in einem zweiten Teil die Szene bei Beaumarchais, sowie die Tradition der Anagnorisis im Drama des 18. Jahrhunderts als Hintergrund untersucht und daraus Schlüsse im Hinblick auf das Sextett gezogen werden.
1. Musikalisch-dramaturgische Analyse des Sextetts
Nach Rezitativ und Arie des Grafen, in der er sich geschworen hat, Figaro werde den Gerichtsprozess verlieren und gezwungen sein, Marcellina zu heiraten, folgt ein Rezitativ, in dem der Richter Don Curzio den Ausgang des bereits beendeten Prozesses verkündet: Figaro muss seine Schulden bei Marcellina begleichen, oder sie heiraten. Figaro wendet sich hilfesuchend an den Grafen, doch dieser ist mit dem Urteil natürlich sehr zufrieden und weist Figaro ab. Dieser behauptet schließlich, er sei aus adligem Hause und könne nicht heiraten, ohne die Zustimmung seiner Eltern. Die Anwesenden nehmen diese Aussage zunächst nicht ernst, doch als Figaro erklärt, er sei seinen Eltern als Kind geraubt worden, wendet sich die Harmonik nach f-moll und der Graf und Marcellina geben ihrer Überraschung Ausdruck (Come? Cosa?), Bartolo und Don Curzio verlangen einen Beweis (Takte 22-24). Figaro erzählt von Wertgegenständen, die die Räuber ihm genommen hätten und von einer Erkennungsmal (geroglifico, also eigentlich Hieroglyphe), das ihm in den Arm geritzt worden sei. Bei der Erwähnung der Hieroglyphe erklingt ein Spannung erzeugender Dominantseptakkord und Marzellina beendet Figaros Satz, indem sie das Erkennungsmal als Spachtel am rechten Arm identifiziert (Takt 30f.). Als Figaro nachfragt woher sie dies wisse, löst sich der Dominantseptakkord nach D-Dur auf und Marcellina ruft aus „er ist es!“ Auf die verständnislose Nachfrage aller Beteiligten nennt Marcellina schließlich mit einer Wendung nach g-moll den eigentlichen Namen Figaros: Rafaello. Bartolo lässt sich noch den Ort der damaligen Entführung bestätigen und präsentiert Figaro sodann ohne Umschweife und mit einer Wendung nach F-Dur, der Tonart der folgenden Nummer, Marcellina als seine Mutter. Figaro geht zunächst davon aus, es handele sich nur um seine Amme, doch Bartolo bestätigt, sie sei seine leibliche Mutter. Figaro ist bestürzt, doch Marcellina präsentiert ihm daraufhin sogleich noch Bartolo als seinen Vater dazu. Es folgt der Dominantakkord C-Dur und sowohl das Rezitativ, als auch der Vorgang der Wiedererkennung der Familie wird mit dem Tonikaakkord F-Dur abgeschlossen, der in das folgende Sextett überleitet.
Nachdem die Anagnorisis also im Rezitativ bereits stattgefunden hat, setzt das Sextett ein, in dem nun die üblicherweise auf eine Wiedererkennung folgende Wiedervereinigung thematisiert wird. Das Sextett ist von verschiedenen Interpreten auf unterschiedliche Arten in mehrere Abschnitte eingeteilt und analysiert worden. So hat Charles Rosen versucht, das Schema der Sonatensetzform darauf anzuwenden.[3] Siegmund Levarie hat darauf hingewiesen, dass das Sextett auf einem übergreifenden Formkonzept beruhe, das an drei Stellen durch dramatische Aktion unterbrochen werde.[4] Im Rahmen dieser Arbeit soll nun eine individuelle Einteilung und Analyse in sechs Abschnitte erfolgen, die nach dramaturgischen, sowie musikalischen Gesichtspunkten vorgenommen wurde.[5] Dabei soll freilich immer wieder auf andere Interpreten hingewiesen deren Erkenntnisse einbezogen werden, wo dies sinnvoll scheint. Der kategorische Nachweis etwa des Sonatensatzformschemas soll jedoch nicht das Ziel sein.
Marcellina beginnt das Sextett mit einer wiegenliedartigen, viertaktigen, zum Ende hin offenen Phrase über synkopiert einsetzender sanfter Streicherbegleitung und einem „lachenden“[6] Motiv in den ersten Violinen. Sie gibt ihrer Freude über den wiedergefundenen Sohn Ausdruck und umarmt ihn. Im ersten Teil von Marcellinas Melodie (Takte 1-3) sieht Rosen im Sinne seiner Anwendung der Sonatensatzform das erste Thema der Exposition.[7] Figaro reagiert mit einer ebenfalls viertaktigen Phrase, die zusätzlich von den Holzbläsern und Hörnern begleitet wird, wendet sich an seinen Vater und bittet ihn, ihn ebenfalls zu umarmen. Bartolo antwortet mit einer wiederum viertaktigen, diesmal aber geschlossenen, auf der Tonika endenden Melodie, deren Begleitung Marcellinas Achtelfigur in den Streichern wieder aufnimmt und zugleich auf Liegetönen der Bläser ruht, also gewissermaßen eine Kombination, der Begleitmuster der beiden anderen Familienmitglieder darstellt. Bartolos Phrase kann man als Nachsatz eines volkstümlichen achttaktigen Wiegenlieds verstehen, dessen Vordersatz Marcellinas Riconosci... bildet, unterbrochen, von dem vermittelnden Einschub Figaros.[8] Bartolo umarmt nun ebenfalls Figaro: die frisch entstandene bürgerliche Kleinfamilie präsentiert sich also szenisch wie musikalisch in perfekter, geschlossener Harmonie und Eintracht.
Die beiden anderen an der Szene beteiligten Figuren, der Graf und Don Curzio, sind bei diesem Familienglück außen vor und können nur in halbtaktigen Sequenzen darauf reagieren (Takte 13-16). Diese Sequenzen bezeichnen zugleich Kon- sequenzen[9], da Don Curzio aus der neuen Sachlage schließt, dass eine Hochzeit nun ausgeschlossen ist, und sich der Graf in seiner jeweils den Takt vollmachenden Reaktion der daraus resultierenden Durchkreuzung seiner Pläne bewusst wird. Nach Rosens Analyseschema handelt es sich hierbei um das zweite Thema der Exposition.[10]
Während die beiden Außenseiter ihre Schlussfolgerungen noch einmal wiederholen, beginnen die Familienmitglieder nun, ihre neuen Identitäten zu bestätigen, indem sie sie explizit wiederholt benennen (Takte 17-24).[11] Sie tun dies mit sich ergänzenden Phrasen, gedoppelt von Fagotten (Marcellina), Oboen (Bartolo) und Flöten (Figaro), die auf dem Dominantseptakkord der Grundtonart F-Dur aufgebaut sind. In Rosens Analyseschema stellen sie das dritte Thema dar.[12] Gegen dieses harmonische Grundgerüst kommen Graf und Richter kaum an, ihre Einwürfe werden von der glücklichen Familie harmonisch zugedeckt.[13] Darunter liegt ein Orgelpunkt in der Dominante C, der zugleich die dominantische Wirkung der Familienphrasen unterstützt und außerdem schon auf die folgenden Ereignisse voraus weist: denn nach zweimaliger Wiederholung, kommt das Ensemble schließlich mit einem Halbschluss vollends in der Dominante C-Dur an und ein zweiter Abschnitt beginnt. Wie Levarie anmerkt, hätte man hier bereits einen Abschluss des Ensembles erwarten können[14], doch die dramatischen Ereignisse fordern einen Aufschub.
Zugleich mit dem Halbschluss in der Dominante markiert eine neue Figur in Flöten, Oboen und Violinen das Eindringen Susannas in die bisherige „Tonika-Idylle“ der bürgerlichen Kleinfamilie (Takt 24). Susanna weiß nichts von den Ereignissen der letzten Minuten. Sie kommt, um Figaro freizukaufen, will den Grafen, der sich zum Gehen gewendet hat, aufhalten. Die Familie jedoch setzt ihre „Identitätsbekundungen“ unbeirrt fort. Das Ensemble, das in Takt 24 von Susannas Auftritt unterbrochen worden war, wird – nun in der Dominante – wieder aufgenommen. Will man mit Rosen die Sonatensatzform in dem Sextett erkennen, befinden wir uns hier in der „Überleitung“, in der ein Teil der ersten Themengruppe wiederkehrt, in diesem Fall Thema c.[15] Hier wird jedoch deutlich, dass die Anwendung des Schemas der Sonatensatzform auf das Ensemble nicht zwingend ist, da die Wiederholung der figlio amato/parenti amati -Phrase in erster Linie dramaturgische und keine formalen Gründe hat.[16] Bei der abschließenden Wiederholung der Identitätsbekundung herrscht schließlich demonstrative Einigkeit der Familienmitglieder, die nun die gleichen Notenwerte im Terz- beziehungsweise Quintabstand singen. Der Orgelpunkt, der sich vorher in der Dominante befand, ist nun noch weiter vorangerückt in die Doppeldominante g. Dies bereitet erneut die folgenden Ereignisse und – um mit Levarie zu sprechen – eine weitere Unterbrechung des großen Ganzen vor, nämlich den plötzlichen Einbruch von g-moll, wenn Susanna Figaro in Marcellinas Armen liegen sieht und dies – in Unkenntnis der Ereignisse – fälschlich als Zeichen für Heiratsabsichten der beiden und einen Treuebruch ihr gegenüber deutet (Takt 40).
[...]
[1] Zitiert nach der im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgabe, S. 226. Übersetzung von Gerda Scheffel.
[2] ebd.
[3] Rosen (1995), S. 330ff.
[4] Levarie (1952), S. 145.
[5] Diese Abschnitte sind: T. 1-24/T. 24-40/T. 40-72/T. 72-80/T.80-101/T.101-140.
[6] Fässler (2003), S. 115.
[7] Rosen (1995), S. 330.
[8] Fässler (2003), S. 115.
[9] vgl. Fässler (2003), S. 115.
[10] Rosen (1995), S. 331.
[11] Dieser Abschnitt ist im Erstdruck des Librettos (gedruckt 1786 zur Uraufführung) von Da Ponte nicht vorgesehen, ist also eine bewusste Erweiterung Mozarts (vgl. Warburton (1992), S. 64). Die dramaturgische Funktion der Stelle wird weiter unten im Kontext der Anagnorisis-Tradition zu untersuchen sein.
[12] Rosen (1995), S. 331.
[13] vgl. Willaschek (1996), S. 169.
[14] Levarie (1952), S. 146.
[15] vgl. Rosen (1995), S. 332.
[16] Auch diese werden weiter unten im Hinblick auf die Anagnorisis-Tradition näher zu untersuchen sein.
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