“The times they are a changing” dichtete Bob Dylan in seinem berühmten Lied von 1964. Und die grammatischen Zeiten ändern sich auch, möchte man dem als Sprachwissenschaftler hinzufügen. Dylan benutzt in seiner Liedzeile eine grammatische Form, die man als Verlaufsform oder ‚progressive form‘ bezeichnet. Eine ähnliche Form existiert auch im Deutschen, gemeint ist die Konstruktion sein + am + Infinitiv, z.B. Ich bin gerade am Arbeiten.
Das vorliegende Buch befasst sich mit dieser deutschen Verlaufsform und untersucht anhand eines Vergleichs mit der historischen Entwicklung der englischen Form, in welchem Stadium der Grammatikalisierung sich die deutsche Form heute befindet. Ein Fragebogen zur Akzeptabilität einzelner Sätze, die die Verlaufsform realisieren, wurde entwickelt und an Studenten und Dozenten deutscher Universitäten verschickt. 588 Personen äußerten sich zu den grammatischen, semantischen und pragmatischen Restriktionen der Verlaufsform.
Es wird u.a. erläutert, welcher Unterschied zwischen Aspekt, Aspektualität, Aktionsarten und Aktionaliät besteht. Auch die Konkurrenzkonstruktionen wie im … begriffen sein, beim … sein, dabei sein, etwas zu tun kommen zu Wort. Eine detaillierte Analyse des deutschen Verbsystems zeigt dessen Lücken auf und ermöglicht eine Einordnung der Verlaufsform in das vorhandene System.
Das vorliegende Buch zur Verlaufsform von Ariane Slater ist eine leicht gekürzte und in der neuen Rechtschreibung verfasste Ausgabe der Dissertation aus dem Jahre 1997, die unter dem Geburtsnamen der Verfasserin, Ariane Reimann, erschienen war. Heute arbeitet die promovierte Sprachwissenschaftlerin beim Bundessprachenamt in Hürth. Ihre sprachwissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen ‚kontrastive Grammatik‘ und Militärsprache.
Inhaltverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Kategoriale und methodische Grundlagen
1.1 Vorbemerkungen
1.2 Kategorien und Kategorisierungen
1.3 Die Verlaufsform als Einheitskategorie der inhärenten Kategorisierung ‚Aspekt’
1.4 Die Klasse der Vollverben und andere Klassen
1.5 Unterscheidung der Vollverben nach ihrer Valenz oder: Auf der Suche nach allgemeineren Kriterien
1.6 Aspektualität
1.7 Aktionalität
1.8 Aktionsarten
1.9 Die Verlaufsform und ihre Abhängigkeit von morphologischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Faktoren
Kapitel 2 : Die historische Entwicklung der neuenglischen Verlaufsform im Vergleich zu Partizipialkonstruktionen des Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Die Verlaufsform im Altenglischen
2.2.1 Das Präfix ga- (gi-, ge-): Kannte das Altenglische die grammatische Kategorisierung ‚Aspekt’?
2.2.2 Partizipialkonstruktionen im Altenglischen
2.3 Vom Mittelenglischen zum Neuenglischen
2.4 Die Konstruktion vom Typ I am on/a- fishing
2.5 Die Partizipialkonstruktionen des Althochdeutschen
2.6 Vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen
2.7 Zusammenfassung: Die Entwicklung der englischen und deutschen Verlaufsform im Vergleich
Kapitel 3: Die Verlaufsform im Deutschen: Der aktuelle Forschungsstand
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Die Verlaufsform in der linguistischen Literatur
3.2.1 Einteilung der Literatur nach quantativen Kriterien
3.2.2 Einteilung der zitierten Aussagen nach sprachlichen Kriterien
3.2.3 Die Verlaufsform bei Brons-Albert (1984)
3.2.4 Andersson (1989)
3.2.5 Glück/Sauer (1990/1996)
3.2.6 Ebert (1996)
3.2.7 Krause (1996)
3.2.8 Bhatt (1991/1992)
3.2.9 Bhatt/Schmidt (1993), Bayer (1993), Schmidt (1995)
3.3 Die einzelnen Komponenten der Verlaufsform
3.3.1 Der Infinitiv
3.3.2 Die Präposition am
3.4 Die Konkurrenzformen zur Verlaufsform
3.5 Zusammenfassung
Kapitel 4: Der Fragebogen zur Verlaufsform im Deutschen
4.1 Vorbemerkungen
4.2 Erläuterungen zum Fragebogen
4.2.1 Soziolinguistische Aspekte
4.2.2 Verbklassen
4.2.2.1 Morphologische Verbklassen
4.2.2.2 Syntaktische Verbklassen
4.2.2.3 Aktionsarten
4.2.2.4 Wortfeld
4.3 Fragebogen zur Verlaufsform im Deutschen
Kapitel 5: Ergebnisse der empirischen Untersuchung zur Verlaufsform im Deutschen
5.1 Allgemeines
5.2 Auswertungen der Fragebögen nach soziolinguistischen Gesichtspunkten
5.2.1 Die Bereiche UA, DA, UA&DA und NA und ihre Verteilung auf die zwölf Städte
5.2.2 Dialektsprecher und die Bereiche DA und UA&DA
5.2.3 Die Bedeutung der Kriterien UA und DA für die Bewertung der einzelnen Sätze
5.3 Sprachliche Analyse
5.3.1 Auswertung der 43 Sätze
5.3.2 Die Verbindungsmöglichkeiten der Verlaufsform mit den Verbalkategorien des Deutschen
5.3.2.1 Tempus
5.3.2.1.1 Präsens und Futur I
5.3.2.1.2 Präteritum und Perfekt
5.3.2.2 Infinitiv
5.3.2.3 Modus
5.3.2.3.1 Konjunktiv
5.3.2.3.2 Imperativ
5.3.2.4 Genus verbi: Passiv
5.3.2.5 Zusammenfassung
5.3.4 Trennbare und untrennbare Verben
5.3.5 Kopula- und Modalverben
5.3.6 Das Verhalten der Verlaufsform in Verbindung mit direkten Objekten
5.3.7 Die Verbindungsmöglichkeiten mit anderen Objekten
5.3.8 Unpersönliche Verben
5.3.9 Reflexive und reziproke Verben
5.3.10 Adverbialbestimmungen und Modalpartikeln
5.3.11 Aktionsarten
5.3.12 Stilistische Restriktionen
5.4 Zusammenfassung: Kapitel 5
6 Ergebnisse
Anhang
Korpus
Literaturverzeichnis
Belegverzeichnis
Vorwort
In den neueren Grammatiken zur deutschen Sprache[1] werden die Formen des finiten Verbs anhand der folgenden fünf grammatischen Kategorisierungen beschrieben:
1. Person
2. Numerus
3. Modus
4. Tempus
5. Genus verbi
So ist z.B. die Verbform in (1) zu bestimmen als 1. Person Plural Indikativ Präsens Aktiv.
(1) Wir räumen die Wohnung auf.
Vergleicht man die deutschen Verbalkategorisierungen z.B. mit denen des Englischen, so zeigt sich, dass hier neben den bereits erwähnten Kategorisierungen noch eine weitere hinzutritt, und zwar die Kategorisierung, die das Deutsche, den Grammatiken zufolge, nicht kennt.
In der Literatur zum Englischen wird hinsichtlich ‚Aspekt’ vor allem der Zusammenhang zwischen den sog. „progressive“ bzw. „expanded forms“ (vgl. (2)) und den „simple“ bzw. „non-expanded forms“ (vgl. (3)) diskutiert.[2]
(2) We are cleaning the flat.
(3) We clean the flat (every week).
Obwohl in den meisten Grammatiken die Ansicht vertreten wird, dass es seine solche Differenzierung im Deutschen nicht gibt und dass „there are no progressive tenses in German“,[3] so ist doch nicht zu leugnen, dass das Deutsche eine wenn auch optionale Konstruktion besitzt, die zu einem Vergleich mit der englischen Verlaufsform einlädt:
(4) Wir sind am Aufräumen.
Die Konstruktion in (4) setzt sich zusammen aus einer Form von sein + am + einer durch einen Infinitiv besetzten Nominalposition.
Ziel dieser Untersuchung ist es,
1. zu untersuchen, inwiefern sich im Deutschen eine Verlaufsform entwickelt, die mit der Verlaufsform im Englischen strukturell und funktional vergleichbar ist, und
2. festzustellen, ob es sich bei (4) um eine Konstruktion handelt, die an der Herausbildung eines deutschen Aspeksystems beteiligt ist.
Ein Blick in die englische Sprachgeschichte zeigt, dass es im Frühneuenglischen eine optionale „locative construction“ gab,[4] die sich aus on + DAT + substantiviertem Partizip Präsens zusammensetzte, z.B.:
(5) He is on working.
Die deutsche Verlaufsform weist mit dieser sog. ‚locative construction’ viele formale Parallelen auf, die jedoch in der Literatur bisher kaum berücksichtigt wurden, die aber insofern von großer Bedeutung sind, als sie darauf hinweisen könnten, dass es sich bei der deutschen Verlaufsform um eine Erscheinung handelt, die eine Entwicklung des Deutschen zu einer Aspektsprache zumindest möglich macht und die es daher wert ist, näher untersucht zu werden. Was Lass über das Schwedische, Afrikaans und das Französische sagt, dass nämlich „if these languages wanted to develop obligatory progressive marking, the material would be there“,[5] gilt meiner Ansicht nach auch für das Deutsche.
Obwohl Aspekt ein Thema ist, über das viel geschrieben und diskutiert wurde, und das gerade in den letzten Jahren vor allem die generativen Grammatiker zu vielen neuen Untersuchungen veranlasste, ist doch die meiner Arbeit unterliegende Fragestellung bis auf wenige Ausnahmen fast völlig unbeachtet geblieben, was primär darauf zurückzuführen ist, dass den meisten neueren Arbeiten[6] ein semantischer Aspektbegriff zugrunde liegt.
Das hat u.a. zur Folge, dass der morphologisch-grammatische Begriff des Aspekts mit der lexikalisch-semantischen Kategorie der Aktionsart gleichgesetzt wird, d.h. dass zwar von ‚Aspekt’ gesprochen wird, Verbalaspekt aber nicht gemeint ist.[7] Es ist charakteristisch für Ansätze dieser Art, dass der Terminus ‚Aspekt’ zur Beschreibung unterschiedlichster sprachlicher Phänomene herangezogen wird. Für die Verlaufsform bedeutet das, dass sie, falls sie überhaupt Erwähnung findet, nur als eines von vielen sprachlichen Mitteln angesehen wird, das in den Bereich ‚Aspekt’ fällt.
Diese Arbeit basiert auf dem Gedanken, dass es sich bei der deutschen Verlaufsform mit am um eine syntaktische Konstruktion handelt, die als „imperfekter“ Aspektpartner zu beschreiben ist, wobei unter ‚Aspekt’ eine grammatische Kategorisierung des Verbs und keine semantische Kategorie zu verstehen ist.
Um der Natur dieses Aspektkandidaten auf die Spur zu kommen, werden im Rahmen dieser Arbeit folgende fünf Themenbereiche behandelt:
1. In Kapitel 1 werden die für die anderen vier Kapitel erforderlichen theoretischen Grundlagen geschaffen. Im Zentrum steht die Festlegung des Begriffs ‚Aspekt’ in Abgrenzung zu den Termini ‚Aspektualität’, ‚Aktionsart’ und ‚Aktionalität’. Basierend auf einer Klassifikation der Verben nach morphologischen, syntaktischen und semantischen Merkmalen, wird diskutiert, innerhalb welcher Bereiche die Verlaufsform im Deutschen zu beschreiben ist. Ein Vergleich mit der englischen Verlaufsform führt schließlich zur funktionalen Eingrenzung der deutschen.
2. Kapitel 2 verfolgt die Entwicklung der englischen Verlaufsform von ihren Anfängen als altenglische Partizipialkonstruktion bis hin zu ihrer Grammatikalisierung in frühneuenglischer Zeit. Es wird deutlich werden, dass das Anfangsstadium der englischen Verlaufsform große Parallelen aufweist mit dem der Verlaufsform des Gegenwartsdeutschen.
Zur Sprache kommen außerdem die mit den alt- und mittelenglischen vergleichbaren Partizipialkonstruktionen des Alt- und Mittelhochdeutschen. Es wird aufgezeigt, warum das Deutsche die Möglichkeiten zur Entwicklung eines Aspektsystems ungenutzt ließ und warum die Partizipialkonstruktionen in frühneuhochdeutscher Zeit aus den Systemen verschwanden.
3. Kapitel 3 setzt sich mit der Frage auseinander, welche Informationen zur Verlaufsform in der linguistischen Literatur bis zum Entstehungsjahr dieser Dissertation, also bis 1997 zur Verfügung standen, und welcher Stellenwert der Verlaufsform darin beigemessen wurde. Artikel und Bücher, die nach dieser Zeit entstanden sind, bleiben auch in der Neuauflage unberücksichtigt. Für aktuellere Informationen zum Forschungsstand verweise ich z.B. auf Krause, Olaf, Progressiv im Deutschen: Eine empirische Untersuchung im Kontrast mit Niederländisch und Englisch. Tübingen 2002.
In Kapitel 3 kommen v.a. Autoren zu Wort, die sich mit der sog. „rheinischen Verlaufsform“ beschäftigt haben und diese syntaktisch und semantisch beschrieben haben. Im zweiten Teil des Kapitels werden die einzelnen Komponenten wie der Infinitiv und die Präposition am auf ihre Kompabiliät mit der Verlaufsform geprüft. Weiter wird der Frage nachgegangen, ob es sich bei den in den Grammatiken und Wörterbüchern aufgeführten „Synonymen“ der Verlaufsform um tatsächliche Konkurrenzformen handelt.
4. Mit Hilfe einer empirischen Untersuchung sollen die deskriptiven Lücken bei der Verlaufsform, die in Kapitel 3 zutage traten, geschlossen werden. In Kapitel 4 werden die soziolinguistischen und sprachlichen Aspekte, auf denen der Fragebogen zur Verlaufsform basiert, dargestellt und erläutert.
5. Das 5. Kapitel ist der Auswertung der Fragebögen gewidmet. Es werden Aussagen gemacht zur Verbreitung der Verlaufsform im Deutschen, zu ihren sprachlichen Restriktionen und ihren Verbindungsmöglichkeiten mit anderen Verbalkategorien, mit verschiedenen Verbklassen, mit Objekten und Aktionsarten.
Den Schlussbemerkungen folgt ein Anhang, der sich aus drei Teilen zusammensetzt. Im ersten Teil werden die Ergebnisse zu den einzelnen Sätzen des Fragebogens graphisch dargestellt. Den zweiten Teil bildet ein Korpus, in dem Druckbelege für die Verlaufsform und ihre Konkurrenzformen angeführt werden, und im dritten Teil ist das Literaturverzeichnis zu finden.
Kapitel 1: Kategoriale und methodische Grundlagen
1.1 Vorbemerkungen
In der Literatur wird die Verlaufsform vom Typ
(1) Ich bin am Arbeiten.
einmal als Aktionsart,[8] ein anderes Mal als progressive Aspektform,[9] dann wieder als „Ansatz zur morphologischen Bildung eines … Aspektunterschiedes“,[10] als „sprachliche Ausdrucksform von Aktionalität“,[11] als Funktionsverbgefüge[12] und schließlich auch als eine Konstruktion angesehen, die zum Ausdruck der Dauer einer Handlung dient.[13]
Dass der Status dieser Fügung so unterschiedlich bewertet wird, liegt zum einen daran, dass die Verlaufsform von der Forschung bislang nicht ausführlich berücksichtigt wurde, und zum anderen daran, dass die Begriffe ‚Aktionsart’, ‚Aktionalität’, ‚Aspekt’ und ‚Aspektualität’ oft nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden. So gilt z.B. Aspekt bei manchen Autoren als eine universale Kategorie, „[which is] based in human cognitive abilities“,[14] bei anderen als eine grammatische „Kategorie“, die mit den „Kategorien“ ‚Tempus’ und ‚Modus’ vergleichbar ist.[15]
Um festzustellen, welchen Status die Verlaufsform im Deutschen einnimmt, stehen im ersten Kapitel dieser Arbeit folgende Fragestellungen im Zentrum:
1. Welche Kategorien und Kategorisierungen existieren innerhalb des deutschen Verbsystems?
2. Ist die Verlaufsform Teil dieses Systems?
3. Welche syntaktischen, semantischen und pragmatischen Subklassifikationen von Verben im Deutschen gibt es, und welchen Einfluss haben diese auf die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform?
4. Wie unterscheiden sich Aspekt, Aspektualität, Aktionsarten und Aktionalität voneinander?
1.2 Kategorien und Kategorisierungen
Bevor eine Aussage darüber getroffen werden kann, ob die Verlaufsform als eine ‚grammatische Kategorie’ angesehen werden kann, die in den Bereich Aspekt fällt, ist es zunächst notwendig, den Begriff ‚Kategorie’ selbst näher zu definieren. Nach Eisenberg 1989 und Thieroff 1992, 1994 sind innerhalb dessen, was gewöhnlich als ‚grammatische Kategorien des Verbs’ bezeichnet wird, weitere Unterscheidungen zu treffen.[16] So gilt es als erstes, eine Trennung zu vollziehen zwischen ‚Kategorien’ wie 1. Person, Indikativ, Präterium und Aktiv auf der einen Seite und Person, Modus, Tempus und Genus verbi auf der anderen Seite. Erstere bezeichnet Eisenberg als „Kategorien“, letztere als „Kategorisierungen“.[17]
>Tempus> [ist] keine Verbkategorie, sondern eine Kategorisierung, während >Präsens< und >Perfekt< Kategorien sind. Kategorisierungen sind Mengen von Kategorien. Man vermeidet manche terminologische und konzeptuelle Verwirrung, wenn man Kategorie und Kategorisierung konsequent unterscheidet und beispielsweise nicht, wie es so oft geschieht, von „der grammatischen Kategorie des Kasus“ spricht (ebd.).
Kategorien unterscheiden sich von Kategorisierungen primär dadurch, dass sie einander ausschließen, d.h. „Kategorisierungen treten (auf derselben Ebene der Hierarchie) gleichzeitig auf, Kategorien schließen (auf derselben Ebene der Hierarchie) einander aus“.[18] Jede finite Verbform wie z.B.
(2) Du kommst
ist somit grundsätzlich durch die fünf Kategorisierungen Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus verbi intern gegliedert. Gleichzeitig findet mit der Realisierung jeder Verbform eine Festlegung auf jeweils eine Kategorie pro Kategorisierung statt. In (2) sind es die Kategorien 2. Person, Singular, Präsens, Indikativ und Aktiv.
Für die verbalen Kategorisierungen und Kategorien finiter Verbformen im Deutschen setzt Eisenberg folgendes Schema an:[19]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Neben der Unterscheidung nach Kategorien und Kategorisierungen, die Thieroff als „vertical distinction“ bezeichnet,[20] ist zusätzlich auch eine horizontale Unterscheidung zu treffen. Thieroff folgend werden die einzelnen Verbalkategorisierungen im Rahmen dieser Arbeit drei verschiedenen Gruppen zugeteilt:
Die Kategorisierungen ‚Person’ und ‚Numerus’ werden als „Kongruenz-kategorisierungen“,[21] Tempus, Modus (und Aspekt) als „inhärente Kategorisierungen“ und Genus verbi als „relationale Kategorisierung“ bezeichnet. Diese Einteilung basiert auf dem Gedanken, dass sich die einzelnen Kategorisierungen aufgrund bestimmter Eigenschaften voneinander abgrenzen lassen. So sind Person und Numerus eines Verbs immer von einem weiteren Element im Satz abhängig (oder umgekehrt) und kongruieren mit diesem. Die inhärenten Kategorisierungen hingegen sind nicht syntaktisch begründbar, sondern rein morphologisch konstituiert. Genus verbi wiederum hat einen mit den anderen Kategorisierungen nicht vergleichbaren Status. Es ist insofern eine relationale Kategorisierung, als es die „relationale Struktur eines Satzes“ betrifft (S. 13).
Zusätzlich zu den beiden oben dargestellten Arten der Subklassifikation von Verben führt Eisenberg noch eine weitere ein. Sie betrifft die „relative Bedeutung eines Verbs in der Syntax“.[22] Die Flexionskategorien des Verbs bezeichnet er als sog. „Einheitenkategorien“, die er den sog. „Paradigmenkategorien“ gegenüberstellt. Zu den Paradigmenkategorien gehören verschiedene Wortarten wie Substantiv, Adjektiv, Pronomen etc. und die Genera des Substantivs. Die Paradigmenkategorien des Verbs sind Vollverben (VV), Hilfsverben (HV), Kopulaverben (KV) und Modalverben (MV).
Jede dieser Paradigmenklassen enthält wieder Subklassen, die Vollverben etwa die transitiven und intransitiven Verben, die danach unterschieden sind, ob sie ein Akkusativobjekt nehmen und ein Passiv bilden oder nicht.[23]
Die Einteilung der Verben in inhärente, relationale und Kongruenzkategorisierungen und Einheiten- und Paradigmenkategorien und –kategorisierungen dient als Basis für die terminologische Festlegung dieser Arbeit. Im vierten und fünften Kapitel wird mittels eines Fragebogens u.a. untersucht, mit welchen Einheiten- und Paradigmenkategorien und –kategorisierungen die Verlaufsform kompatibel ist. Um einen Überblick über die Verbindungsmöglichkeiten zu erlangen, ist es zunächst notwenig festzustellen, welcher Status der Verlaufsform innerhalb des Verbsystems zukommt, und im Anschluss daran, welche Rolle in diesem Zusammenhang semantische und pragmatische Faktoren spielen.
1.3 Die Verlaufsform als Einheitskategorie der inhärenten Kategorisierung ‚Aspekt’
Der Begriff ‚Aspekt’ ist ein Terminus, der in der linguistischen Literatur für viel Verwirrung und Unklarheiten gesorgt hat, was zum einen auf völlig unterschiedliche Definitionen und zum anderen auf sich stark unterscheidende theoretische Ausgangspunkte der jeweiligen Arbeiten zu diesem Thema zurückzuführen ist. Schon die einfache Aussage, beim ‚Aspekt’ handele es sich um eine grammatische Verbalkategorisierung, würde vielfach auf Ablehnung stoßen, da viele Autoren ‚Aspekt’ als semantische bzw. universale Kategorie ansehen.[24] Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es den Rahmen dieser Arbeit übersteigt, einen erschöpfenden begriffsgeschichtlichen Überblick bzw. Forschungsbericht zum Aspektproblem zu liefern. Hier soll nur versucht werden, anhand verschiedener relevanter Begriffsbestimmungen eine Definition von Aspekt zu erarbeiten, die es ermöglicht, die Verlaufsform einer bestimmten Kategorie zuzuordnen.
Nach Leiss existieren prinzipiell zwei Möglichkeiten, ‚Aspekt’ zu definieren:
A. als universale Kategorie, die einzelsprachlich unterschiedlich realisiert wird: semantisch, syntaktisch oder morphologisch. Wird diese universale Kategorie morphologisch realisiert, d.h. entspricht ihr ein morphologisches Korrelat, so ist es auch nach der universalistischen Position erst gerechtfertigt, von der gramma- tischen Kategorie des Aspekts zu sprechen. (…)
B. als einzelsprachliche Kategorie, die nicht in allen Sprachen realisiert ist. An- hänger dieser Position gehen bevorzugt vom Slavischen aus (meist vom Russischen), wo sie diese Kategorie des Aspekts am ausgeprägtesten, d.h. proto- typisch realisiert sehen.[25]
Ansatz A hat somit mit dem, was wir als ‚inhärente Kategorisierung’ bezeichnet haben, nur wenig gemein. Wenn man Aspekt als „the domain of the temporal organization of situations“,[26] als “the speaker’s or writer’s view of the action or situation described”[27] oder “als begriffliche Kategorie [auffasst, die dazu dient], dass ein Sprecher denselben Prozess entweder als gerade im Verlauf befindlich oder aber als Ganzes zusammengefasst charakterisieren kann“,[28] so führt das zu einer Vermischung von Aspekt mit dem lexikalisch-grammatischen Begriff ‚Aktionsart’, dem semantischen Begriff der Aspektualität und dem pragmatischen Begriff der Aktionalität (vgl. Kapitel 1.6-1.8).
Comrie z.B. geht davon aus, dass „aspects are different ways of viewing the internal temporal constituency of a situation“.[29] Dieser Annahme zufolge gibt es mehrere Arten von “Aspekten”. Comries Klassifikation enthält drei aspektuelle Oppositionen, wobei die primäre Unterscheidung die zwischen ‘perfektiv’ und ‘imperfektiv’ ist. ‚Imperfektiv’ wiederum gliedere sich in ‚habituell’ und ‚andauernd’, wobei ‚andauernd’ die Zweige ‚nicht-progressive’ und ‚progressiv’ aufweise.[30] Diese ‚Aspekte’ werden nicht an der Verbform allein festgemacht, sondern unter Hinzunahme der jeweiligen Lexembedeutung oder anderer Kategorien oder Satzelemente. Neben den Verbformen seien danach auch Lexeme und Situationen ‚Aspekte'.[31] Eine solche Vielfalt an ‚Aspekten’ führt, wenn man an den Gegebenheiten im Deutschen interessiert ist, zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen. Die Verlaufsform wird, falls sie überhaupt Erwähnung findet, zu einem ‚Aspekt’ unter vielen, der sich von den anderen in keiner Weise zu unterscheiden scheint.
Im Folgenden wird anhand von zwei Beispielen dargestellt, welche sprachlichen Mittel in der linguistischen Literatur zum Deutschen u.a. mit der Bezeichnung ‚Aspekt’ versehen werden. Ich werde mich in diesem Zusammenhang auf präfigierte Verben und Funktionsverbgefüge beschränken. Eine detaillierte Darstellung anderer ‚Aspektfälle’ findet sich z.B. in Gross 1974, Krause 2002.
1. Präfigierung
So sehr sich die einzelnen Aspektdefinitionen auch voneinander unterscheiden, so herrscht doch Einigkeit über die Etymologie des Wortes ‚Aspekt’ selbst. ‚Aspekt’ ist eine deutsche, französische und englische Übersetzung des russischen Terminus ‚vid’, welcher zum ersten Mal in der Grammaire raisonnée, St. Petersburg (1828-29) von Ch. Ph. Reiff in Erscheinung trat.[32] ‚Vid’ ist seinerseits etymologisch verwandt mit dem lateinischen videre (sehen) und dem griechischen eidos, mit dem „Formkategorien innerhalb des verbalen und nominalen Derivationssystems in ihrem formalen Gegensatz zu den nichtabgeleiteten Grundwörtern“ bezeichnet werden.[33] In den slawischen Sprachen ist Aspekt eine grammatische Kategorisierung,
die jedem russischen Verb und jeder konkreten Verbalform eine ganz bestimmte und im Vergleich zum Deutschen zusätzliche Allgemeinbedeutung verleiht. Die Aspektkorrelation des russischen Verbs ist zweigliedrig oder binär: Dem perfektiven Aspekt steht der imperfektive Aspekt gegenüber. (…) Der perfektive Aspekt drückt einen Vorgang als ganzheitliches Geschehen aus, der imperfektive lässt dieses Merkmal unausgedrückt.[34]
Mit wenigen Ausnahmen sind alle Verben im Russischen hinsichtlich Perfektivität bzw. Imperfektiviät gekennzeichnet. Der perfektive Aspektpartner wird gewöhnlich mittels
Präfixen von der imperfektiven Form abgeleitet.[35] So ist im Russischen z.B. die imperfektive Basisform von schreiben pisat und die abgeleitete, präfigierte Perfektform napisat.[36] Wichtig ist, dass bei beiden Formen ein und dieselbe lexikalische Verbbedeutung vorliegt, dass die aspektuellen Differenzierungen immer auf ein und derselben Zeitstufe stattfinden und dass sie sich nur darin unterscheiden, dass der Sprecher das vorliegende Verbalgeschehen entweder als imperfektiv oder perfektiv ansieht. (Der Terminus ‚Verbalgeschehen’ wird im Rahmen dieser Arbeit als Oberbegriff für Handlungen, Geschehen und Zustände verwendet). Es gibt im Russischen neben der Präfigierung noch andere Mittel zur Herstellung von Perfektivität, auf deren Darstellung im Rahmen dieser aber Arbeit verzichtet werden kann, da hier, immer wenn konstrativ gearbeitet wird, primär das Englische als Vergleichssprache herangezogen wird. Eine ausführliche Darstellung des russischen Verbsystems findet sich u.a. bei Bache 1985, Binnick 1991, Isaçenko 1982, Thieroff 1992.
Dass im Russischen mittels Präfigierung der imperfektive Aspektpartner deriviert wird, hat manche Linguisten dazu bewogen, eine Analogie zwischen den russischen und deutschen einfachen und präfigierten Verben herzustellen. Nach Gross gehen die Autoren, die die Opposition von jagen und erjagen oder blühen und verblühen als Aspektkorrelation betrachten, davon aus, dass den präfigierten Partnern, ähnlich wie ihren slawistischen Gegenstücken, eine „Vollendungsbedeutung“ zukomme, die den einfachen Verben fehle.[37] Was primär gegen eine solche Vorstellung spricht, ist die Tatsache, dass im Russischen und auch im Englischen, das hier ebenfalls als Aspektsprache angesehen wird (s.u.), sowohl für das einfache als auch für das präfigierte Verb jeweils eine perfektive und eine imperfektive Form zur Verfügung stehen, was sich folgendermaßen veranschaulichen lässt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Lediglich die vertikale Opposition im Englischen (und die entsprechende im Russischen) ist als Aspektunterschied festzulegen. Gross begründet die Annahme, dass es sich bei der horizontalen Opposition nicht um Aspekt handeln kann, damit, dass zwar vielen der präfigierten Verben eine perfektive Bedeutung zukomme, diese aber nicht in den Bereich ‚Aspekt’ falle, sondern als Aktionsart beschrieben werden müsse.[38] Ich stimme mit Gross darin überein, dass bei der Opposition ‚Simplex’ versus ‚präfigiertes Verb’ kein Aspekt vorliegt, da die sogenannten ‚Korrelationspartner’ meines Erachtens als zwei selbständige Lexeme aufzufassen sind, die zwar zueinander in einem derivativen Verhältnis stehen, aber nicht verschiedene Aspektformen ein und desselben Verbs sind. Darüber hinaus existieren im Deutschen eine ganze Reihe von präfigierten Verben, die eine im Vergleich zu ihrem Derivat vollkommen unterschiedliche Bedeutung haben, z.B. sitzen, besitzen und horchen, gehorchen.
Ich möchte die präfigierten Verben also nicht als Träger von Aspekt o.ä. verstanden wissen. Was die präfigierten von den einfachen Verben unterscheidet, ist ausschließlich ihre jeweilige „Aspektualität“ (vgl. hierzu 1.6), die allen Verben im Deutschen inhärent ist.
Als nächstes wird der Vorschlag, Funktionsverbgefüge als mögliche Aspektformen zu betrachten, kritisch betrachtet. Im Mittelpunkt steht hierbei der Ansatz von Leiss, die zu den Autoren gehört, die Aspekt formal definieren.
2. Funktionsverbgefüge
Mit ‚Funktionsverbgefüge’ werden hier
mehr oder weniger feste Redewendungen [bezeichnet], deren Bedeutung zwar regulär aus den Bedeutungen der Einzelteile rekonstruierbar ist, bei denen jedoch das Verb, im Vergleich zum „normalen“ Gebrauch als Vollverb, ähnlich einem Hilfsverb oder einer Kopula primär dazu dient, die Tempus-, Modus- und Genus-
merkmale zu tragen, die die Prädikation erfordert.[39]
Leiss stellt die These auf, dass Funktionsverbgefüge als perfektive Aspektpartner fungieren, da sie ein „doppeltes Verbset“ zur Verfügung stellen.[40] Ihrer Ansicht nach gibt es im Deutschen ausschließlich perfektive Funktionsverbgefüge. Die Existenz „durativer“ Funktionsverbgefüge schließt sie mit der Begründung aus, dass die Mehrzahl der in den Grammatiken aufgeführten durativen Funktionsverbgefüge mit den Verben haben und sein auftreten, die ihrerseits aber keine echten Funktionsverben seien,[41] z.B.
(3) in Gefahr sein
(4) Einblick / Angst haben
Für diese Annahme spricht zum einen, dass die Verben haben und sein in der Literatur nicht zu den Funktionsverben zählen, und zum anderen, dass die sog. „durativen Funktionsverbgefüge“ ungleich den perfektiven Funktionsverbgefügen keine entsprechenden Basisverben besitzen.
Dass die Funktionsverbgefüge mehr und mehr Eingang in das deutsche Verbsystem finden, führt Leiss darauf zurück, dass primär nominalisierte bzw. nominalisierbare Präfixverben mit ursprünglich „nonadditiver“ Bedeutung (vgl. hierzu 1.6) im Funktionsverbgefüge realisiert werden. Die Funktionsverbgefüge stellten somit „’terminative’ Äquivalente’ zu den nicht-(mehr)-terminativen Präfixverben bereit“. Als Beispiele für aspektuelle Oppositionen führt Leiss u.a. folgende an:[42]
(5) verändern – Veränderung bewirken
(6) aufführen – zur Aufführung bringen
(7) anerkennen – Anerkennung gewähren
In diesen Beispielen bezögen sich die „neutralisierten Präfixverben“ auf nichtbegrenzte Ereignisse und die Funktionsverbgefüge auf begrenzte.
Wenn man die Funktionsverbgefüge als „analytisch konstruierte Aspektverben“ betrachtet,[43] so bleibt dennoch eine entscheidende Frage unbeantwortet. Wie kann es sich bei Funktionsverbgefügen um Aspektpartner handeln, wenn, wie Leiss selbst zugibt, „die Durchsicht von Texten, sogar Zeitungstexten, ergibt, dass die Funktionsverbgefüge so häufig gar nicht sind“?[44] Wenn man eine ‚Aspektsprache’ so definiert, dass der Sprecher sich mit der Wahl eines Verbs bzw. einer Verbform auf eine bestimmte Perspektive festlegt bzw. festlegen muss, also ein Geschehen entweder von Innen oder Außen betrachtet und damit eine imperfektive bzw. perfektive Form wählt (s.u.), so muss man die von Leiss gestellte Frage, ob das Deutsche dann doch eine Aspektsprache sei, mit ‚nein’ beantworten, da nicht zu jedem Verb im Deutschen ein entsprechendes perfektives Funktionsverbgefüge parallel zur Verfügung steht.
Dass präfigierte Verben als mögliche Aspektpartner abgelehnt werden, liegt daran, dass diese Arbeit auf einer engen Aspektdefinition basiert, bei der strikt getrennt wird zwischen Aspekt, Aspektualität, Aktionsart und Aktionalität. Leiss vollzieht zwar diese Trennung, doch bildet bei ihr nur die Gruppe der präfigierten „aktionsartenneutralen“ bzw. „nicht- (mehr) terminativen“ Verben eine Aspektopposition zu den Funktionsverbgefügen.
Die folgenden Ausführungen werden zeigen, wie ‚Aspekt’ im Rahmen dieser Arbeit definiert wird. Anhand einer kurzen Darstellung der englischen Verlaufsform soll außerdem deutlich werden, warum die deutsche Verlaufsform ein idealer Aspektkandidat ist.
Im Russischen, der Aspektsprache par excellence, ist der Verbalsaspekt, wie bereits oben erwähnt, eine grammatische Kategorisierung, die das ganze Verbsystem durchdringt. Russische Verben sind nach den beiden Kategorien ‚perfektiv’ und ‚imperfektiv’ klassifiziert. Unter den Autoren, die ihre Aspektdefinition auf den formalen Gegebenheites des Russischen basieren, gibt es solche, die prinzipiell allen nicht-slawischen Sprachen den Status als Aspektsprache absprechen. Nespital z.B. ist der Ansicht, dass
keine Nicht-Aspektsprache, also zum Beispiel das Deutsche, Englische, Französische oder das Türkische, die spezifischen, genuin aspektuellen Bedeutungen der slawischen und neuindischen Aspektformen wiedergeben, weder durch Verbformen allein, noch durch die Hinzuziehung von Mitteln des Kontextes.[45]
Die extreme Ansicht, Aspekt sei allein den slawischen (und neuindischen) Sprachen vorbehalten, vertreten wir hier nicht, sondern wir gehen davon aus, dass zumindest auch das Englische die aspektuelle Unterscheidung kennt. Bevor wir uns näher mit dem Englischen beschäftigen, wenden wir uns noch einmal den Verhältnissen in den slawischen Sprachen zu. Obwohl die Aspekttheorien auch innerhalb der Slawistik stark divergieren,[46] ist es doch möglich, prinzipielle Aussagen zum ‚slawischen Aspektsystem’ zu machen.
Die Verwendung einer perfektiven bzw. imperfektiven Verbform ist nicht fakultativ, sondern immer abhängig von der Sichtweise, aus der der Sprecher das Verbalgeschehen betrachtet.
Eine Handlung ohne aspektuelle Differenzierung ist nicht denkbar. Die Vor- stellung des Sprechers von der Handlung als solcher korreliert mit dieser aspektuellen Unterscheidung; hierbei ist zu beachten, dass diese gedankliche Differenzierung sich in der Regel aus dem realen Standpunkt des Sprechers ergibt, d.h. der Verbalaspekt ist in der Regel als eine ‚intersubjektiv erfahrbare’ Größe einzuschätzen, da dem Sprecher nicht die freie Wahl des perfektiven oder des imperfektiven Aspekts überlassen wird.[47]
Der Standpunkt des Sprechers ist bei der Kategorisierung ‚Aspekt’ somit von zentraler Bedeutung.[48] Leiss macht den Unterschied zwischen Tempus, der anderen Kategorisierung, die über den Standpunkt des Sprechers definiert wird, und Aspekt an der Art der Lokalisierung fest. Während beim Tempus das Geschehen in ein Vorher, Nachher und Jetzt lokalisiert wird, wird beim Aspekt der Sprecher lokalisiert.
Ein Verbalgeschehen kann grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Arten be- trachtet werden: einmal als unteilbares Ganzes, zum anderen ohne diesen Totalitätsbezug. Im ersten Fall ist impliziert, dass der Sprecher sich außerhalb des Geschehens befindet; nur so kann er ein Geschehen als Ganzes wahr- nehmen; im zweiten Fall ist er Teil des Verbalgeschehens. Dieses kann so nicht mehr vollständig wahrgenommen werden. Es ist kein Ganzes mehr; … das Geschehen wird als nicht begrenzt und damit als potentiell unabgeschlossen erfahren.[49]
Der Sprecher kann sich, Leiss zufolge, also entweder innerhalb oder außerhalb des Verbalgeschehens befinden, und Aspekt ist eine Kategorisierung, die die Betrachtung eines Geschehens von Innen oder Außen erlaubt. Mit der Innenperspektive ist die Wahl der imperfektiven Verbform verbunden, mit der Außenperspektive die Wahl der perfektiven Form.
Bei unserer Definition gehen wir davon aus, dass Aspektsprachen sich dadurch auszeichnen, dass sie ein Verbsystem besitzen, das zusätzlich zu den inhärenten Kategorisierungen ‚Tempus’ und ‚Modus’ eine zweigliedrige Kategorisierung ‚Aspekt’ mit den Kategorien ‚perfektiv’ und ‚imperfektiv’ aufweist, die semantisch so festzulegen sind, dass mit der Wahl der jeweiligen Verbform bzw. des jeweiligen Verbs immer eine Innen- oder Außenperspektivierung verbunden ist.
Dieser Definition zufolge muss auch das Englische als eine Aspektsprache angesehen werden, da es zwei Kategorien besitzt, die das gesamte Verbsystem durchziehen, und zwar die sog. ‚simple form’ bzw. ‚einfache Form’, die in Opposition zur sog. ‚expanded’ oder ‚progressive’ bzw. ‚Verlaufsform’ oder ‚progressiven’ Form steht, z.B.
(8) to play – to be playing
Erstere dient zur Herstellung von Außenperspektive, letztere zur Herstellung von Innenperspektive. Nun sind trotz des Vorhandenseins dieser formalen Opporition nicht alle Autoren der Ansicht, dass das englische Verbsystem mit dem des russischen vergleichbar sei und dass es sich bei der englischen Opposition um Aspekt handele. So hält z.B. Klein die Bezeichnung Aspektkategorie in Bezug auf die englische Verlaufsform für „terminologischen Unfug“, und Comrie gibt zu bedenken:
Of the five languages [English, Russian, French, Spanish, Italian] cited here, all
but English have perfective aspect (…). In English the relation between the progressive (e.g. was reading) and non-progressive (e.g. entered) is rather more
complex, but provided we restrict ourselves to nonstative verbs and exclude
habituell meaning, then the difference between the two forms is one of imper-
fectivity versus perfectivity.[50]
Comries Unbehagen, dem Englischen Aspektstatus zuzusprechen, begründet er primär mit den komplexeren Verhältnissen betreffs des Gebrauchs der perfektiven und imperfektiven Formen. Es sind genau diese komplexen Verhältnisse, die zu einer Vielzahl von Arbeiten zur einfachen und progressiven Form im Englischen führten, auf deren Besprechung hier verzichtet werden kann, da sie die zentale Fragestellung dieser Arbeit kaum berühren.[51]
Was den Großteil dieser Arbeiten kennzeichnet, ist der Versuch, eine möglichst alle „Bedeutungen“ umfassende Liste der beiden Formen zu erstellen, was u.a. dazu führt, dass sich die russischen Aspektkategorien tatsächlich stark von den englischen unterscheiden. So kommt z.B. Pihler in Bezug auf die englische Verlaufsform allein schon auf mindestens fünf verschiedene Bedeutungen. Die erste Bedeutung sei „Dauerhaftigkeit“, z.B.
(9) Her heart was beating hard.
Eine Ausnahme zu dieser ersten Bedeutung beträfe die sog. statischen Verben wie feel, love, deren „Bedeutung an sich ein Element der Dauer enthält, [die] die progressive Form im Englischen überflüssig“ mache.[52] Weitere Bedeutungen der Verlaufsform seien Iterativität, z.B.
(10) He is tripping over the doormat.
Imperfektivität wie in
(11) I’ve just been looking.
oder auch Gleichzeitigkeit,[53] z.B.
(12) I was sitting on a bench … when John remarked that …
In Arbeiten wie Pihlers wird meines Erachtens etwas ganz Entscheidendes übersehen. Bei den sog. „Bedeutungen“ handelt es sich nicht um die Bedeutungen der Verlaufsform, denn für diese gibt es nur eine Funktion, und zwar die Herstellung von Innenperspektive. Was zu der irrtümlichen Annahme führt, die Verlaufsform weise viele Bedeutungen auf, ist vielmehr die Tatsache, dass nicht berücksichtigt wird, dass die Verlaufsform nicht isoliert auftritt, sondern mit jeder realisierten Verbform immer eine Kombination der Verlaufsform (bzw. einfachen Form) mit anderen Verbalkategorien stattfindet. Die Verlaufsform tritt in unterschiedlichen syntaktischen Umgebungen auf und wird darüber hinaus beeinflusst durch die Kriterien Aspektualität und Aktionalität (vgl. 1.6 und 1.7). So ist z.B. die Bedeutung der Verlaufsform in (10) nicht Iterativität, sondern die Herstellung von Innenperspektive bei einem punktuellen Verb. Und die „Imperfektivität“ in (11) wird nicht durch die Progressivierung hergestellt, sondern durch die Realisierung der Kategorie Perfekt in Verbindung mit der Verlaufsform.
Jede formale Aspektopposition tritt als Teil der Kategorisierung ‚Aspekt’ immer parallel mit allen anderen Kategorisierungen des verbalen Systems einer Aspektsprache auf. Abhängig davon, mit welchen anderen Kategorien die Verlaufsform oder die einfache Form in Verbindung tritt, kann die Bedeutung der Verlaufsform z.B. semantisch überlagert oder auch formal restringiert werden. So zeigt z.B. ein Blick in die englische Sprachgeschichte, dass die Verbindung der Verlaufsform mit der Kategorie Passiv jahrhundertelang unzulässig war (vgl. Kapitel 2). Und es sind nicht nur die anderen Kategorien, die die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform einschränken können. Auch die Aspektualität der mit der Verlaufsform auftretenden Verben und die Aktionalität der Verbalsituationen üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihre Bildungsmöglichkeiten aus. Das Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren hat in den Einzelsprachen, die die Kategorisierung ‚Aspekt’ besitzen, zur Folge, dass die Restriktionen hinsichtlich der perfektiven und imperfektiven Formen von unterschiedlicher Art sind, wodurch auch die Aspektpartner unterschiedlicher Art zu sein scheinen, es aber nicht wirklich sind. Ebenso wie im Russischen gibt es im Englischen eine formal gekennzeichnete obligatorische Opposition innerhalb des Verbparadigmas, deren Glieder sich nur in Bezug auf Außen- bzw. Innenperspektive unterscheiden. Das Englische ist somit ebenso wie das Russische als Aspektsprache anzusehen.
Wenn man die Verhältnisse im Deutschen untersucht, so wird schnell deutlich, dass hier die Kategorisierung ‚Aspekt’ nur bedingt existiert. Von allen in der Literatur auftretenden ‚Aspektfällen’ gibt es aber eine Konstruktion, die Eigenschaften aufweist, die zur Herausbildung eines deutschen Aspektsystems führen könnten, und die mit der englischen progressiven Form vergleichbar ist. Gemeint ist die deutsche Verlaufsform bzw. progressive Form vom Typ sein + am + Infinitiv, die der ‚einfachen Form’ gegenübergestellt wird, vgl.
(13) ertrinken – am Ertrinken sein
Beispiel (13) steht aus dem Grund im Infinitiv, damit, soweit das möglich ist, der Einfluss anderer Kategorien auf ein Minimum reduziert wird. Ich gehe von der Idee aus, dass die deutsche Verlaufsform ebenso wie ihr englisches Gegenstück ein formal gekennzeichneter Oppositionspartner innerhalb des deutschen Verbsystems ist, der der Herstellung von Innenperspektive dient. Das Einzige, was momentan gegen die Betrachtung der Verlaufsform als imperfektive Aspektform spricht, ist ihre (noch) nicht vollständige „Grammatikalisierung“. Was hierbei unter Grammatikalisierung verstanden wird, sei im Folgenden charakterisiert:
Hopper/Traugott zufolge hat sich die Forschung dem Problem der Grammatikalisierung von zwei Seiten her genähert. Zum einen liegen sprachgeschichtliche Untersuchungen vor, bei denen der Ursprung und die Entwicklung einer grammatischen Form im Zentrum stehen. Aus dieser Sichtweise ist Grammatikalisierung „usually thought of as that subset of linguistic changes through which a lexical item in certain uses becomes a grammatical item, or through which a grammatical item becomes more grammatical“.[54] Dieser diachrone Ansatz liegt dem zweiten Kapitel dieser Arbeit zugrunde, in welchem die Entwicklungsstadien der englischen Verlaufsform bis hin zu ihrer Grammatikalisierung im Frühneuenglischen aufgezeigt werden.
Auf der anderen Seite stehen synchrone Arbeiten, in denen Grammatikalisierung primär als ein „syntactic, discourse pragmatic phenomenon“ angesehen wird, „to be studied from the point of view of fluid patterns of language use“.[55] Um den Grammatikalisierungsgrad der deutschen Verlaufsform bestimmen zu können, werden beide Sichtweisen miteinander kombiniert. Auf eine ausführliche Darstellung der neueren Ansätze zur Grammatikalisierung muss hier verzichtet werden,[56] da lediglich die für die Beschreibung der Verlaufsform relevanten Kriterien interessieren.
Der Begriff ‚Grammatikalisierung’ geht auf Kurylowicz 1965 zurück und wird dort so festgelegt: Grammaticalisation consists of the increase of the range of a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status, e.g. from a derivative formant to an inflectional one.[57]
Andere Termini, die zur Beschreibung desselben Phänomens dienen, sind z.B. „semantic fading“,[58] „condensation“[59] oder auch „syntactization“.[60]
Man ist sich im Allgemeinen darüber einig, dass sich ein Wort mit lexikalischem Inhalt nicht abrupt in ein Wort mit grammatischem Inhalt verwandelt, sondern dass Grammatikalisierung als ein Kontinuum vorzustellen ist, dessen eines Ende mit der Bezeichnung „lexikalisch“ und dessen anderes Ende mit der Bezeichnung „grammatisch“ versehen werden könnte.[61] Auf diesem Kontinuum gibt es verschiedene identifizierbare Punkte, die darauf hinweisen, dass sich das in Frage kommende sprachliche Element der grammatischen Seite nähert. Es entstehen sog. „grammaticalization chains“,[62] die abhängig vom jeweiligen Ansatz eine unterschiedliche Anzahl von Stufen besitzen. So geht z.B. Bybee von einer dreistufigen Kette mit den Stufen „lexical“, „derivational“ und „inflectional“ aus,[63] während z.B. Hopper/Traugott ein Kontinuum mit vier Phasen ansetzen, bestehend aus content item > grammatical word > clitic > inflectional.[64]
Es gilt nun ein Kontinuum zu finden, auf dem die deutsche Verlaufsform angesiedelt werden kann. Eine Möglichkeit, das eine Ende dieses Kontinuums festzulegen, besteht darin, der Ansicht der Linguisten zu folgen, die grammatikalisierte Aspektformen auf Lokativkonstruktionen zurückzuführen. Eine solche Vorgehensweise ist u.a. durch das Vorhandensein der ehemals lokalen und inzwischen semantisch leeren Präposition am in der Verlaufsform zu rechtfertigen. Anderson z.B. ist der Meinung, dass „underlying grammatical functions are in general organized basically in terms of oppositions involving location and direction“,[65] und auch Lyons sieht die Quelle der grammatischen Kategorisierung ‘Aspekt’ in “locative constructions”. Die lokale Stufe ist eine bzw. die erste der Stufen auf dem Kontinuum, die von der Konstruktion sein + am + Infinitiv bereits überschritten ist. Heine/Reh haben eine chronologisch geordnete Liste der Stufen erstellt, die beim Prozess der Grammatikalisierung eines sprachlichen Elements im Allgemeinen zu beobachten sind:
a) the more it loses in semantic complexity, functional significance, and/or expressive value;
b) the more it loses in pragmatic and gains in syntactic significance;
c) the more reduced is the number of members belonging to the same morphosyntactic paradigm;
d) the more syntactic variability decreases, that is, the more its position within the clause becomes fixed;
e) the more its use becomes obligatory in certain contexts and ungrammatical in others;
f) the more it coalesces semantically, morphosyntactically, and phonetically with other units;
g) the more it loses phonetic substance.[66]
Alle obigen Kriterien werden von der englischen Verlaufsform bereits erfüllt, so dass diese als vollgrammatikalisierte Fügung angesehen werden kann (vgl. Kapitel 2). Die deutsche Verlaufsform hingegen hat ihr „Endziel“ noch nicht erreicht, sondern erfüllt nur die ersten vier oben genannten Punkte. Sie hat ihre semantische Komplexität verloren, an syntaktischer (und damit grammatischer) Bedeutung gewonnen, indem sie zur Innenperspektivierung herangezogen wird: sie besitzt einen größeren Verwendungsspielraum als z.B. die Konstruktion mit beim (vgl. Kapitel 3), und die Präpositionalphrase verhält sich bezüglich der Stellung im Satz ähnlich wie nicht-finite Verbteile, die Teil einer periphrastischen Verbform bilden. Punkt e) und daraus folgend die Punkte f) und g) treffen auf die Verlaufsform (noch) nicht zu. Es gibt nur wenige sprachliche Kontexte, von denen man behaupten könnte, dass der Gebrauch der Verlaufsform obligatorisch sei. Dass es solche Kontexte aber gibt, sei anhand des folgenden Beispiels nur angedeutet, da eine ausführliche Besprechung dieses Problems dem fünften Kapitel vorbehalten ist. Man kann z.B. argumentieren, dass mit einem „nonadditiven“, intransitiven Verb wie verdursten nur dann Gegenwartsbezug hergestellt werden kann, wenn es die Kategorien Präsens „Progressiv“ aufweist, wobei „Progressiv“ im Rahmen dieser Arbeit synonym zur Bezeichnung der Kategorie ‚Verlaufsform’ verwendet wird (vgl. (14)). Das Präsens nicht-progressiver Art jedoch hat immer Zukunftsbezug (vgl. (15)). Auch die in den Wörterbüchern oft vorgeschlagene Umschreibung der nicht-progressiven Form + gerade ist ausgeschlossen (vgl. (16)). Nur Adverbiale wie gleich oder bald sind einsetzbar (vgl. (17)), wobei dadurch aber wieder Zukunftsbezug hergestellt wird. Darüber hinaus verbietet sich in diesem Kontext auch die Verwendung der sog. „Ersatzformen“, denn weder beim + sein + Infinitiv noch dabei sein, etwas zu tun sind mit verdursten verbindbar (vgl. (18), (19)).
(14) Ich bin am Verdursten.
(15) Ich verdurste.
(16) *Ich verdurste gerade.
(17) Ich verdurste gleich/bald.
(18) *Ich bin beim Verdursten.
(19) * Ich bin dabei, zu verdursten.
Das Verdursten -Beispiel zeigt, dass in einigen Bereichen des deutschen Verbsystems obligatorische Aspektmarkierung bereits vorhanden ist.
Was die Grammatikalisierung der deutschen Verlaufsform betrifft, kann zusammenfassend festgestellt werden, dass sie sich momentan auf dem Kontinuum, als dessen Ende die völlige Grammatikalisierung eines sprachlichen Elements angesehen wird, auf halbem Weg befindet und an dem Punkt angelangt ist, der den Grenzpunkt zwischen obligatorischem und fakultativem Gebrauch bildet.
Nach Lyons gibt es „many languages in which the aspectual notions of progressivity or stativity (…) are expressed by means of constructions that are patently locative in origin“.[67] Und dass die deutsche Verlaufsform bei weitem nicht die einzige “prepositional periphrasis”[68] ist, die als Aspektpartner fungiert, zeigt auch Dahl, der die Kategorie ‚Progressiv’ in mindestens 28 verschiedenen Sprachen nachweisen kann,[69] wobei der Großteil der von ihm untersuchten Sprachen die Verlaufsform periphrastisch bildet und in fünf Fällen Präpositionalphrasen an der Bildung dieser Form beteiligt sind. Diese seien im Folgenden lediglich kurz aufgeführt. Eine ausführliche Besprechung der Aspekt- und Tempussysteme der einzelnen Sprachen findet sich auch in Thieroff 1995.
1. Deutsch sein + am + Infinitiv
2. Finnisch on + 3. Infinitiv im Inessiv
3. Französisch être en train de + Infinitiv
4. Limosinisch eitre en tren de + Infinitiv
5. Schwedisch hålla på att + Infinitiv
Ebert hat darüber hinaus vergleichbare Konstruktionen auch im Niederländischen, im Fering, im Dänischen, im Norwegischen, im Jiddischen und Isländischen entdeckt:[70]
6. Niederländisch aan het + Infinitiv + zijn
7. Fering uun’t + Infinitiv + weez
8. Dänisch vaere ved at + Infinitiv
9. Norwegisch holde på at + Infinitiv
10. Jiddisch halt in + Infinitiv
11. Isländisch veraað + Infinitiv
Bei der obigen Liste fällt auf, dass es vor allem die germanischen Sprachen sind, die ihre progressiven Formen mit Präpositionalphrasen bilden.[71] Nach Ebert sind die am weitesten verbreiteten formalen Merkmale dieser periphrastischen Konstruktionen:
- ‚be’ + preposition
- postural verbs
- stative verbs like ‚live, exist, stay’[72]
Die Progressivform, die innerhalb der jeweiligen Sprache am weitesten ausgebaut ist, ist die englische Verlaufsform,[73] wobei die deutsche Verlaufsform „seems to be going in the same direction. Inspite of thousands of school teachers fighting against it, it is presently spreading both into new regions, and into syntactic and semantic frames in which it was not used previously“.[74]
Aufgrund der Ausführungen zu den Themen Aspekt und Grammatikalisierung und dem Vergleich der deutschen Verlaufsform mit der Englischen und ähnlichen Konstruktionen anderer Sprachen sehe ich es als gerechtfertigt, der progressiven Form im Deutschen den Status einer fakultativen Kategorie innerhalb des deutschen Verbsystems zuzusprechen. Die Verlaufsform ist zwar weder in Eisenbergs noch in Thieroffs System der Kategorien und Kategorisierungen vorgesehen, da bei diesen Autoren Aspekt als eine dem Deutschen fremde Kategorisierung angesehen wird. Thieroff nimmt aber in einem späteren Kapitel kurz Stellung zur Verlaufsform, indem er darauf hinweist, dass „die Frequenz der ’rheinischen Verlaufsform’ im heutigen gesprochenen Deutsch so hoch [ist], dass die Frage gestellt werden muss, ob dieses Syntagma nicht auf dem Wege ist, eine grammatikalisierte Form der gesprochenen Sprache zu werden“.[75] Er versäumt jedoch, die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen und die Verlaufsform als eine zusätzliche Einheitenkategorie mit der entsprechenden Kategorisierung im Verbsystem zu verankern. Das möchte ich nachholen und Eisenbergs Schema folgendermaßen umformen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Mit der Frage, wie sich die Verlaufsform im Rahmen dieses Systems verhält, welcher Status ihr zukommt und welche Restriktionen sie in Verbindung mit anderen Einheitenkategorien aufweist, beschäftigt sich das fünfte Kapitel dieser Arbeit. Dort werden auch die einzelnen Kategorisierungen wie Tempus, Modus und Genus verbi semantisch bestimmt. Es wird sich u.a. zeigen, dass die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform innerhalb des Verbsystems in großem Maße davon abhängen, welche anderen Kategorien realisiert werden und wie diese definiert sind. So sperrt z.B. die relationale Kategorie ‚Passiv’, die hier Leiss folgend über Ergativität und Theta-Rollen definiert wird (vgl. Kapitel 5), die Realisierung der Kategorie ‚Verlaufsform’, vgl.
(14) *Das Baby ist am Getragenwerden.
Eine vergleichbare Wirkung hat die inhärente Kategorie ‚Imperativ’:
(15) *Sei am Essen.
Gründe für die restriktive Wirkung einzelner Kategorien auf die Verlaufsform finden sich ebenfalls in Kapitel 5.
In den folgenden Unterpunkten werden all die sprachlichen Elemente aufgeführt, die zusätzlich zu den Einheitenkategorien Einfluss auf die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform nehmen können. Elemente, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, sind die Paradigmenkategorien ‚Vollverb’, ‚Modalverb’, ‚Kopulaverb’ und ‚Hilfsverb’, die Paradigmenkategorien ‚transitiv’ und ‚intransitiv’ und damit verbunden verschiedene Arten von Objekten und schließlich die Klassifizierung der Verben nach semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten. Da die hier erwähnten Subklassen in der Literatur oft unterschiedlich definiert werden, wird zunächst dargestellt, welche Subklassifizierungen in einigen ausgewählten Grammatiken zu finden sind, und anschließend, wie diese Subklassen im Rahmen dieser Arbeit festzulegen sind.
1.4 Die Klasse der Vollverben und andere Klassen
Untersucht man verschiedene Grammatiken hinsichtlich ihrer Vorgehensweisen bei der Einteilung von Verben nach syntaktischen Gesichtspunkten, so zeigt sich, dass die Anzahl der Verbklassen von Grammatik zu Grammatik erheblich schwankt.
Diese Schwankungen sind auf die jeweils unterschiedlichen theoretischen Ansätze zurückführbar. Im Folgenden sollen einige dieser Ansätze kurz charakterisiert werden. Engel z.B. geht auf recht ungewöhnliche Weise vor:
Nach dem Kriterium der Kombinierbarkeit sind Hauptverben, Nebenverben und Funktionsverben zu unterscheiden. Nebenverben sind alle Verben, die immer in Verbindung mit anderen Verben auftreten. Sie zerfallen in Auxiliarverben, Modalverben und Modalitätsverben sowie einige weitere.[76]
Diese weiteren werden bezeichnet als ‚Nebensatz-, Infinitiv- und Partizipalverben’,[77] wobei fraglich ist, ob und inwiefern man bei diesen Subklassen von eigenen syntaktischen Verbklassen sprechen kann, da z.B. bei den sog. ‚Nebensatzverben’[78] eine bestimmte Einzelbedeutung der jeweiligen Verben Voraussetzung dafür ist, sie überhaupt in diese Verbgruppe einordnen zu können.
Ähnliches gilt für die sog. ‚Modalitätsverben’. Sie werden rein syntaktisch definiert und unterscheiden sich nach Engel dadurch von den Voll- bzw. „Hauptverben“,[79] dass sie in Verbindung mit zu plus Infinitiv auftreten, ein Kriterium, welches dann hinfällig wird, wenn man diesen Infinitiv mit zu durch ein Pronomen ersetzt. Engel führt sich (ge)trauen als Beispiel für ein Modalitätsverb an. Was aber, so muss man sich fragen, geschieht mit diesem durch den obligatorischen Infinitivanschluss definierten Modalitätsverb in folgendem Beispiel:
(16) „Hans hätte von Anfang an die Wahrheit sagen sollen.“
- „Das hätte er sich ja doch nicht getraut.“
Hat hier eine Verwandlung zum ‚Hauptverb’ stattgefunden? Das Problem, das sich bei einer so eng gefassten Klassifizierung ergibt, ist darin zu sehen, dass es sich nicht um ‚echte’ Klassen handelt, sondern um Subklassen, die vom jeweiligen sprachlichen Kontext abhängen. Im Gegensatz zu Engel unterscheiden Helbig/Buscha je nach dem „Verhältnis im Prädikat“ zwischen Voll- und Hilfsverben,[80] wobei Vollverben sich dadurch auszeichnen, dass sie „allein das Prädikat des Satzes“ bilden, während Hilfsverben andere Glieder als Ergänzung benötigen,[81] um als Prädikat fungieren zu können. Diese Definition hat zur Folge, dass die Klasse der Hilfsverben in weitere acht Subklassen eingeteilt wird, wobei jede dieser acht Subklassen wiederum einer von zwei Hauptgruppen der Hilfsverben zugehörig ist. So gehören nach Helbig/Busch z.B. die Hilfsverben, die der Tempusbildung dienen, und diejenigen, die eine Modalität ausdrücken (in anderen Grammatiken auch ‚Modalverben’ genannt) zu den Hilfsverben,[82] während z.B. die Kopulaverben in die Gruppe der den „Hilfsverben nahestehenden Verben“ fallen.[83] Wie es zu diesen Unterscheidungen im Einzelnen kommt, wird nicht erörtert. Es wäre z.B. interessant zu erfahren, aufgrund welcher Gemeinsamkeiten die Hilfs- und Modalverben eine gemeinsame Subklasse bilden. Hier herrscht eine relativ willkürliche Einteilung. Die Problematik der vorliegenden Klassifikation soll anhand des folgenden Beispiels verdeutlicht werden:
Das Verb „verstehen“ zählt nach Helbig/Buscha zu den Verben, die den Hilfsverben sehr nahestehen, was aber nicht auf einer syntaktischen Annahme beruht, wie sie noch auf S. 50 angestrebt wurde, sondern auf einer semantischen: Es werden Verben aufgelistet, deren „Bedeutungen denen der Modalverben ähnlich ist“.[84] „Verstehen“ gehöre insofern zu den Hilfsverben, als der Satz „Er versteht sich zu benehmen“ synonym sei mit dem Satz „Er kann sich benehmen“.[85] Es werden hier offensichtlich syntaktische und semantische Kriterien miteinander vermengt. Selbst wenn man sich dem obigen Verb von syntaktischer Seite her nähert, wäre nicht einzusehen, warum es sich hierbei um ein Hilfsverb handeln soll. Es gibt genügend syntaktische Umgebungen, die eindeutig den Vollverbstatus von „verstehen“ demonstrieren, wie z.B. „Er versteht sich auf charmante Frauen“.
Die Darstellungen von Engel und Helbig/Buscha zeigen einige Probleme, die auftreten, wenn eine rein syntaktische Klassifikation zwar angestrebt, aber keine klare Trennungslinie zur Semantik gezogen wird.
Eine vertretbare Lösung hat meines Erachtens Eisenberg gefunden. Ausgehend von der Idee der Verbvalenz werden hier die Verben in vier Paradigmenkategorien gegliedert, und zwar in
1. Vollverben
2. Kopulaverben (sein, werden, bleiben)
3. Modalverben (wollen, können, müssen, dürfen, mögen, möchten, sollen)
4. Hilfsverben (sein, haben, werden)[86]
Vollverben zeichnen sich nach Eisenberg dadurch aus, dass sie eine bestimmte Art von Ergänzung verlangen. Es könne sich bei diesen Ergänzungen sowohl um Nominalgruppen („reine Kasus“) als auch um eingeleitete Nominalgruppen („Präpositional-Kasus“) handeln, um Nebensätze oder auch Infinitive mit zu und ohne zu.[87] Im Unterschied zu den oben genannten Gliederungen hat diese den Vorteil, sich auf rein syntaktische Gegebenheiten beschränken zu können. Verben, die z.B. mit einer Ergänzung der Form ‚Infinitiv mit zu ’ kombinierbar sind, sind eindeutig als Vollverben kategorisiert und werden nicht, je nach Bedeutung, einmal in die Gruppe der Vollverben, ein anderes Mal in die Gruppe der Hilfsverben eingeordnet, wie das z.B. bei Helbig/Busch oder Engel der Fall ist. Neben den Vollverben finden sich drei andere Paradigmenkategorien, die jeweils eine relativ kleine, in sich geschlossene Klasse bilden. Die drei Kopulaverben sind durch ihr Vorkommen in Sätzen mit substantivischen und adjektivischem Prädikatsnomen gekennzeichnet,[88] Modalverben durch ein ganz bestimmtes morphologisch-syntaktisches Verhalten[89] und Hilfsverben dadurch, dass sie nur als Bestandteil zusammengesetzter Verbformen vorkommen.[90]
Die Einteilung in Vollverben, Kopulaverben, Hilfsverben und Modalverben ist die erste syntaktische Klassifizierung, die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommen wird. In Kapitel fünf wird gezeigt, wie sich die Verlaufsform in Verbindung mit diesen Klassen verhält.
1.5 Unterscheidung der Vollverben nach ihrer Valenz oder: Auf der Suche nach allgemeineren Kriterien
Es geht im Folgenden weder um eine Diskussion der Frage, welche Vor- bzw. Nachteile ein valenzgrammatischer Ansatz im Vergleich zu anderen syntaxtheoretischen Ansätzen hat, noch um eine Darstellung der verschiedenen Valenztheorien innerhalb der deutschen Linguistik. Ich werde mich vielmehr auf kurze Skizzen einiger weniger Ansätze konzentrieren, um zu zeigen, dass eine Klassifizierung der Verben nach ihrer Valenz, wie sie von einigen Grammatiken vorgenommen wird, für die Untersuchung der Verlaufsform nicht anzustreben ist und warum allgemeinere Kriterien gefunden werden müssen, um das syntaktische Verhalten der Verlaufsform näher bestimmen zu können.
In Valenzgrammatiken geht man davon aus, dass das Verb das strukturelle Zentrum des Satzes bildet. Das grammatische Grundgerüst eines Satzes ist somit abhängig von diesem Verb. Bei Eisenberg ist zu lesen, dass „die Verben … subkategorisiert werden nach der Stellenzahl sowie danach, mit welcher Art von Ausdrücken die einzelnen Stellen zu besetzen sind“.[91] Man strebt also eine quantitative und qualitative Subklassifizierung an. Bezüglich der Frage, wie die Valenz bzw. „Wertigkeit“[92] festzulegen ist, existieren sehr unterschiedliche Meinungen. Je nachdem, ob man von einem syntaktischen oder semantischen Valenzkonzept ausgeht, kann man hinsichtlich der Stellenzahl, d.h. hinsichtlich der Anzahl an Ergänzungen, die ein Verb nimmt, zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das Hauptproblem im Rahmen der Valenztheorien ist das Problem der Differenzierung zwischen obligatorischen Ergänzungen, fakultativen Ergänzungen und Angaben. Dies soll anhand eines Beispiels veranschaulicht werden.
Nehmen wir an, wir wollten das Verhalten der Verlaufsform in Verbindung mit einstelligen, zweistelligen und dreistelligen Verben untersuchen. Dann müsste zuerst geklärt sein, was ein Verb zu einem ein-, zwei- oder dreistelligen Verb macht. Die Fragen, die sich z.B. in Bezug auf das Verb ‚frieren’ unmittelbar aufdrängten, wären der folgenden Art:
(a) Unter welchen Bedingungen dürfte ‚frieren’ als einstellig betrachtet werden?
(b) Legte man fest, dass ‚frieren’ einstellig ist, müsste man sich mit dem Problem auseinandersetzen, wie Sätze wie
(17) Ich friere mir die Zehen ab.
(18) Ich friere an der Nase.
(19) Ich friere schrecklich.
zu interpretieren sind. Handelt es sich noch um dasselbe „einstellige“ Verb oder hat sich die Wertigkeit dieses Verbs in den Sätzen (17) bis (19) gewandelt, d.h. müsste nun das Verb in einer Subklassifizierung ‚einstellig mit fakultativer Ergänzung’ oder gar in der Subklassifizierung ‚zweistellig’ auftreten?
Auf den ersten Blick scheinen valenzgrammatische Klassifikationen eine Klassifikationsmethode zu sein, die sich für die Untersuchung der Verlaufsform anbietet. Wie einfach wäre es zu behaupten, dass alle einstelligen Verben die Verlaufsform bilden können und als Beispiel das Verb frieren anzugeben:
(20) Ich bin schrecklich am Frieren.
Da aber nach wie vor nicht geklärt ist, welche Verben ein-, zwei- oder mehrstellig sind, müssen offensichtlich allgemeinere Kriterien zur syntaktischen Einteilung der Verben gefunden werden.
Die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform hängen nicht von der Stellenzahl des jeweiligen Verbs ab bzw. davon, ob dieses Verb obligatorisch oder fakultativ zweistellig ist, sondern vielmehr von der Art des Objekts, das in Verbindung mit einem Verb in einem bestimmten sprachlichen Kontext realisiert wird. Für die Verlaufsform sind folgende syntaktische Informationen von primärer Bedeutung:
(a) die Stellung des Akkusativobjekts
(b) das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Artikels
(c) die Art des Artikels (+/- definit)
So kann z.B. das Verb malen die Verlaufsform bilden, wenn es ohne Akkusativobjekt (vgl. (21)) oder mit inkorporiertem Akkusativobjekt (vgl. (22)) auftritt. Unklar ist zu diesem Zeitpunkt noch, ob es auch mit einem direkten Objekt mit definitem Artikel realisierbar ist (vgl. (23)):
(21) Er ist am Malen.
(22) Er ist am Bildermalen.
(23) ?Er ist das Bild am Malen.
In Kapitel 5 wird mittels eines Fragebogens dargestellt, welche syntaktischen Kombinationen in Verbindung mit der Verlaufsform möglich sind, wobei sowohl verschiedene Arten von Objekten als auch verschiedene Subjekte berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 4).
1.6 Aspektualität
Nach der Bestimmung der syntaktischen Kriterien zur Verbklassifizierung erfolgt nun eine Festlegung der semantischen Kriterien.
Verschiedenen Grammatiken zufolge können die Verben unter unterschiedlichen Gesichtspunkten bestimmten Bedeutungsgruppen zugeordnet werden. Was jedoch oft nicht deutlich wird, sind die Kriterien, nach denen diese Gruppen quantitativ und qualitativ definiert werden. So geht z.B. Engel von vier Gruppen aus, wobei er die Handlungsverben als Subklasse der Tätigkeitsverben betrachtet und darüber hinaus auf eine Erwähnung der Witterungs- und Ereignisverben verzichtet.[93] Helbig/Buscha hingegen nähern sich dem Problem der semantischen Klassifizierung, indem sie zuerst eine Grobklassifizierung der Verben in Tätigkeits-, Vorgangs- und Zustandsverben vornehmen und anschließend verschiedene Subklassen anführen.[94] Dass solche und ähnliche Klassifikationen der Verben für unsere Zwecke nur wenig hilfreich sind, sei im Folgenden kurz dargestellt:
Die Einteilung in drei semantische Gruppen wird zum einen über die Art des Subjekts definiert, zum anderen darüber, ob das Verb eine Handlung, einen Prozess oder einen Zustand bezeichnet.[95] Als Tätigkeitsverben gelten u.a. arbeiten, töten, zerbrechen, als Vorgangsverben sterben, einschlafen, erfrieren und als Zustandsverben liegen, stehen.[96] Wenn man eine Auswahl dieser Verben hinsichtlich der Kombinierbarkeit mit der Verlaufsform austestet, so ergibt sich folgendes Bild:
(24) Ich bin am Arbeiten.
(25) Ich bin am Erfrieren.
(26) ?Ich bin am Liegen.
Lässt sich aus den Sätzen (24) bis (26) nun schließen, dass die Verlaufsform mit allen Tätigkeits- und Vorgangsverben und evtl. auch mit Zustandsverben verbindbar ist? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage das Verb erobern. Folgt man der Klassifizierung Helbig/Buschas, so ist dieses Verb dadurch gekennzeichnet, „dass ein tätiges Subjekt (…) in aktiver Weise (…) eine Handlung ausführt“.[97] Es müsste somit in die Klasse der Tätigkeitsverben integriert werden und als solches die Verlaufsform zulassen. Beispiel (27) zeigt jedoch, dass dies äußerst fraglich ist:
(27) ?Die Truppen sind (die Stadt) am Erobern.
Darüber hinaus ist nicht immer eindeutig, welche Verben welcher Gruppe angehören. Das Verb finden z.B. hat zwar ein ‚tätiges’ Subjekt, aber dieses Subjekt führt nicht in ‚aktiver’ Weise die Handlung des Findens durch, sondern vielmehr die des Suchens. Diese Ungenauigkeiten betreffen nicht nur die Tätigkeitsverben. Das Verb schlafen muss im Rahmen der Theorie Helbig/Buscha als Zustandsverb angesehen werden. Während es bei Satz (26) noch fraglich ist, ob die Verlaufsform möglich ist, dürfte es bei Satz (28) keine Zweifel geben:
(28) Er kann nicht ans Telefon kommen, er ist gerade am Schlafen.
Die oben dargestellten Gegebenheiten bedeuten nun aber keineswegs, dass nur manche Tätigkeitsverben und manche Zustandsverben mit der Verlaufsform verbindbar sind. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass eine andere semantische Einteilung der Verben gefunden werden muss.
Thieroff zufolge werden in vielen Grammatiken zum Deutschen die Verben in zwei semantische Hauptklassen unterteilt:
Für die eine Verbklasse werden Begriffe wie „durativ“, „imperfektiv“, „kursiv“
verwendet, die andere Klasse wird, noch uneinheitlicher, als „punktuell“, „nicht-
durativ“,[98] „perfektiv“, „terminativ“,[99] „mutativ“ (neben „punktuell“ und
„perfektiv)[100] oder „limitativ“ (neben „terminativ“ und
„perfektiv“)[101] bezeichnet.[102]
Nun sind im Rahmen dieser Arbeit die Begriffe ‚perfektiv’ und ‚imperfektiv’ den beiden Aspektkategorien vorbehalten, und Termini wie ‚punktuell’, ‚durativ’ oder ‚terminativ’ dienen zur Bezeichnung der Aktionalität von Situationen (vgl. 1.7). Sie können somit nicht zur Benennung von semantischen Klassen von Verben herangezogen werden. Was aber beibehalten werden soll, ist die Einteilung der Verben in zwei semantische Klassen, die jeweils unterschiedliche morpho-syntaktische Eigenschaften aufweisen.
In ihrer Arbeit zu den Verbalkategorien im Deutschen, die auf natürlichkeitstheoretischen Ansätzen basiert, schlägt Leiss eine Klassifizierung der Verben vor, die ich im Folgenden kurz skizzieren und als Grundlage meiner Untersuchung zur Verlaufsform verwenden werde. Leiss geht von der Idee aus, dass jedes Verbalsystem auf „Aspektualität“ basiert.
Mit Aspektualität wird keine Kategorie benannt, sondern eine grammatische Funktion, die auf der lexikalischen Ebene (Verbalcharakter), auf der lexikalisch- grammatischen Ebene (Aktionsarten) und schließlich auf der Ebene der grammatischen Kategorie zum Ausdruck kommt.[103]
Es sei betont, dass der Begriff ‚Aspektualität’ als funktional-grammatischer Terminus verstanden werden muss und nicht mit der Verbalkategorisierung ‚Aspekt’ verwechselt werden darf. Nach Leiss ist es diese Aspektualität, die nicht nur Einfluss auf die Semantik von Verben ausübt, sondern auf das gesamte Verbsystem. Aspektualität ist gleichzusetzen mit der Bedeutungsseite von Aspekt. Es geht also um die Basisopposition der Innen- und Außenperspektivierung (vgl. 1.3). Leiss hat festgestellt, dass die Außenperspektivierung mit den Kriterien „Nonadditivität“ bzw. „Nichtteilbarkeit“ in Verbindung steht und die Innenperspektivierung mit den Kriterien „Additivität“ bzw. „Teilbarkeit“.[104] Dadurch wird es möglich, zwei semantische Hauptklassen von Verben festzulegen, und zwar additive und nonadditive Verben. Additive Verben sind innenperspektivierende, nicht-grenzbezogene und teilbare Verben, z.B. lieben, suchen, nonadditive Verben sind außenperspektivierende, grenzbezogene, nichtteilbare Verben, z.B. finden, erblicken.[105] Additive Verben sind also Verben,
… die mit sich selbst identisch bleiben. Zerteilt man die vom Verb realisierte Verbalsituation in beliebig viele Phasen, so bleibt das Resultat immer gleich: die jeweiligen Phasen können mit dem gleichen Verb benannt werden. Man nehme als Beispiel das Verb lieben; die geliebten Kinder sind Kinder, die jetzt und jetzt und jetzt etc. geliebt werden.[106]
Nonadditive Verben hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mit sich selbst identisch bleiben. Die Verbalsituation lässt sich nicht in miteinander identische Phasen aufteilen. Verben wie finden, erobern, abbrechen und erblicken geben ganzheitliche Verbalsituationen wieder, die nicht weiter unterteilt werden können. So wird beispielsweise ein Schlüssel nicht jetzt und jetzt und jetzt gefunden.[107]
Die Unterschiede zwischen diesen beiden Verbgruppen schlagen sich auch in ihrem grammatischen Verhalten nieder. Wenn man das Partizip von additiven und nonadditiven Verben bildet, zeigen sich ganz unterschiedliche Implikationen:[108]
(29) das schlafende Kind
(30) *das geschlafene Kind
(31a) das geliebte Kind
(32a) der gefundene Schlüssel
(33) *der findende Schlüssel
(34a) das eingeschlafene Kind
In den Konstruktionen (29) bis (31a) liegen additive Verben vor, in (32a) bis (34a) nonadditive. Innerhalb der additiven Verben lassen sich solche unterscheiden, die intransitiv sind und daher kein Partizip Perfekt (vgl. Satz (30)), sondern nur ein Partizip Präsens zulassen wie in (29), und solche, die transitiv sind und deren Partizip Perfekt sich auf einen Passivsatz im Präsens zurückführen lässt:
(31b) Ein geliebtes Kind ist ein Kind, das geliebt wird.
Genau umgekehrt verhalten sich die nonadditiven Verben. Die transitiven Verben können in diesen Konstruktionen kein Partizip Präsens bilden (vgl.Satz (33)). (32a) ist im Gegensatz zu (31a) auf einen Passivsatz im Perfekt oder Präteritum zurückführbar:
(32b) Ein gefundener Schlüssel ist ein Schlüssel, der gefunden worden ist/wurde.
Das Partizip Perfekt der transitiven nonadditiven Verben impliziert einen Aktivsatz im Perfekt:
(34b) Ein eingeschlafenes Kind ist ein Kind, das eingeschlafen ist.
Es liegen also zwei semantische Verbklassen vor, nämlich additive und nonadditive Verben, wobei beide sowohl transitiv als auch intransitiv sein können. Gegen eine solche Einteilung wehrt sich Thieroff, indem er zu bedenken gibt, dass bestimmte additive intransitive Verben, und zwar die „Verben der Ortsveränderung“, mit gewissen adverbialen Angaben sehr wohl eine Attributierung des Partizips II zuließen.[109] Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf folgende Beispiele:
(35) der aus dem Zimmer gelaufene Junge
(36) * der gelaufene Junge
(37) die auf den Berg gestiegenen Touristen
(38) *die gestiegenen Touristen
Anhand der Beispiele zeige sich, dass auch „imperfekte“ (hier „intransitive, additive“) Verben perfektiviert werden können,[110] womit Thieroff impliziert, dass die Attributierung des Partizips kein oder ein nur unzureichendes Kriterium zur semantischen Klassifizierung sei. Dem ist entgegenzuhalten, was Thieroff selbst auch indirekt andeutet, dass nämlich „Verben der Ortsveränderung imperfektiv und perfektiv gebraucht (Hervorheb. d. A.) werden“.[111] An der Semantik dieser Verben ändert sich prinzipiell nichts. Alle in (35) bis (38) realisierten Verben sind und bleiben additiv. Was sich ändert, ist allein die Verbalsituation, in der sie auftreten. Mit „Verbalsituation“ wird ein pragmatisches Kriterium eingeführt, das wiederum Einfluss auf die bislang besprochenen Verbklassen nehmen kann. Ebenso wie z.B. ein Passiv die Bildung der Verlaufsform blockieren kann, kann ein bestimmter sprachlicher Kontext auch eine Attributierung von additiven, intransitiven Verben ermöglichen. Wichtig ist, dass strikt getrennt wird zwischen den einzelnen sprachlichen Ebenen, dass morpho-syntaktische, semantische und pragmatische Faktoren nicht miteinander vermengt werden und dass verschiedene sprachliche Elemente auf andere sprachliche Elemente einwirken können. Mit Leiss’ semantischer Klassifikation der Verben in zwei Hauptgruppen ist eine semantische Grundlage geschaffen, die es ermöglicht, Aussagen hinsichtlich des Verhaltens der Verlaufsform in bestimmten grammatisch-syntaktischen Umgebungen zu treffen. Als nächstes wird untersucht, welche pragmatischen Faktoren Auswirkungen auf die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform haben können.
1.7 Aktionalität
Dass zusätzlich zu der semantischen Einteilung der Verben, wie sie in 1.6 vorgenommen wurde, auch eine pragmatische Klassifizierung notwendig ist, um die Bildungsmöglichkeiten der Verlaufsform zu beschreiben, zeigt sich anhand der folgenden Beispiele:
(39) *Er ist am Gehenwollen.
(40) *Er ist am Kranksein.
Um erklären zu können, warum das Modal- bzw. Kopulaverb in (39) bzw. (40) nicht progressivierbar ist, reicht die Klassifizierung ‚additiv’ versus ‚nonadditiv’ nicht mehr aus. Sowohl sein als auch können, wollen etc. sind insofern additive Verben, als sie teilbar sind und jedes Teilmoment mit dem anderen identisch ist. Die jeweiligen Phasen des Krankseins oder Gehenwollens können immer mit dem gleichen Verb benannt werden. Dass diese Verben trotzdem nicht progressivierbar sind (vgl. Kapitel 5), führt zu dem Schluss, dass eine weitere Klassifizierung ansteht, die ich vorläufig als ‚Einteilung der Verben in statische und dynamische Verben’ bezeichnen möchte. Beide Begriffe werfen Probleme auf. Nach Comrie, der nicht zwischen statischen und dynamischen ‚Verben’, sondern zwischen statischen und dynamischen ‚Situationen’ unterscheidet, besteht der Unterschied zwischen beiden darin, dass bei einer statischen Situation jede Phase der entsprechenden Situation mit jeder anderen Phase dieser Situation identisch ist[112] und dies bei durativen, dynamischen Situationen nicht der Fall sei. Als Beispiele hierfür verwendet er die Verben wissen und rennen. Der Satz John is running sei dadurch gekennzeichnet, dass
different phases of the situation will be very different: at one moment John will have one foot on the ground, at another moment neither foot will be on the ground, and so on.[113]
Diese Definition von statischen Situationen ist insofern problematisch, als zwar außersprachliches Wissen mit einbezogen ist, aber dieses nur auf die physischen Prozesse von run angewendet wird und nicht auf die Prozesse, die im menschlichen Gehirn ablaufen. Wenn man Comries Argument folgt, könnte man auch behaupten, dass bei wissen eine Veränderung stattfindet. In Comries Beispiel I know where John lives könnte der Sprecher zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht nur wissen, in welcher Stadt John wohnt, zu einem späteren Zeitpunkt eventuell auch den Namen der Straße und zu einem noch späteren zusätzlich auch die Hausnummer. Das würde implizieren, dass sich statische ebenso wie dynamische Situationen verändern können. Die Ungenauigkeit seiner Definition hat auch Comrie erkannt. Er schränkt aus diesem Grund seine erste Definition folgendermaßen ein:
(…) dynamic situations involve necessarily change, whereas states are situations that may or may not involve change, (…). With a state, unless something happens to that state, then the state will continue: this applies equally to standing and knowing. With a dynamic situation, on the other hand, the situation will only continue if it is continually subject to a new input of energy.[114]
Selbst mit den vorgenommenen Einschränkungen sind die Klassifizierungsprobleme nicht gelöst. Dass nun auch Zustände Veränderungen aufweisen können, erschwert erstens die Unterscheidung zwischen statisch und dynamisch und ändert zweitens nichts daran, dass wir eine Situation wie ‚Stehen’ trotz ihrer möglichen Veränderung als statisch empfinden können. Das Kriterium ‚Anwesenheit bzw. Abwesenheit von Veränderung’ kann also nicht allein ausschlaggebend sein. Auch Comries zweite Einschränkung wirft neue Fragen auf. Offenkundig benötigen auch das Stehen und Sitzen einen bestimmten Aufwand an Energie. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich bei ihnen um dynamische Situationen handelt. Um die auftretenden Probleme bei der Definition von ‚statisch’ und ‚dynamisch’ zu vermeiden, ist es als erstes notwendig, sich darüber klar zu werden, dass es sich nicht um eine semantische Opposition handelt, wie das bei der Opposition ‚additiv’/’nonadditiv’ der Fall ist. Die Additivität bzw. Nonadditivität von Verben ist im Bereich der Lexik eines jeden Verbs festgelegt. Es ist kein Zufall, dass Comrie die Begriffe ‚statisch’ und ‚dynamisch’ anhand von Situationen und nicht anhand von Verben festlegt und sich damit in den Bereich der Pragmatik begibt. Im Englischen ist es z.B. möglich, das Verb be statisch und auch nicht-statisch zu verwenden. Während be in (41) statisch interpretiert wird, liegt in (42) eine nicht-statische Verwendungsweise vor.
(41) You are naughty.
(42) You are being naughty.
Das Verb in Satz (42) kann durch das dynamische Verb sich benehmen ersetzt werden. Die Gegebenheiten in (41) und (42) bedeuten nicht, dass das Verb in (41) statisch und das in (42) dynamisch ist, sondern lediglich, dass das Verb be statisch und dynamisch gebraucht werden kann. Wenn eine Definition angestrebt wird, muss dieser Unterschied unbedingt beachtet werden.
Ich möchte im Folgenden kurz darstellen, welche Konsequenzen es hat, bestimmte Verben und nicht bestimmte Situationen als ‚statisch’ festzulegen.
Die Gruppe der sog. ‚Zustandsverben’ ist alles andere als einheitlich. Bei Bache findet sich eine Liste von Verben, die gewöhnlich als Zustandsverben beschrieben werden.[115] Dazu gehören u.a.:
1. relationale Verben, z.B. kosten, wiegen,
2. Verben, die die Existenz des Subjekts betreffen, z.B. sein, leben, existieren,[116]
3. Verben des Wahrnehmens, z.B. sehen, hören, des Wissens, z.B. kennen, wissen, und allgemeiner Relationen, z.B. lieben, hassen,[117]
4. Kopulaverben + Adjektive, z.B. groß sein.
Diese Liste von Untergruppen ist bei Weitem nicht vollständig, aber sie zeigt deutlich, dass stative Verben keine homogene Gruppe bilden. Zustandsverben sind vielmehr von so unterschiedlicher Natur, dass sie sich gegen eine gemeinsame Klassifizierung geradezu zu wehren scheinen. Helbig/Buscha charakterisieren sie mit den Merkmalen [+statisch], [-Agens], (s. 3.2.4), was dazu führt, dass sie z.B. bei Gruppe drei der Zustandsverben den Begriff „Demi-Agens“ einführen müssen und bei den Verben „allgemeiner Relationen“ die Einschränkung machen müssen, dass diese „sich teilweise wie Tätigkeitsverben verhalten (…), teilweise aber in der Bedeutung den Zustandsverben entsprechen“.[118] Darüber hinaus ist es für das Verständnis der stativen Verben nicht förderlich, diese mit dem Merkmal [+statisch] zu erklären. Statische Verben festlegen zu wollen, scheint ein erfolgloses Unterfangen zu sein. Es muss eine Klassifizierung gefunden werden, die sich von der starren Einteilung in statische und dynamische Verben löst, die nicht nur auf Verben, sondern auch auf Situationen anwendbar ist und die es erlaubt, dass bestimmte Verben wie z.B. be einmal statisch und einmal dynamisch interpretiert werden können.
Eine Möglichkeit, die angesprochenen Probleme zu lösen, zeigt Bache auf, der nur von Situationen spricht und statische Situationen negativ definiert.
(…) most, if not all dynamic situations share a positive characteristic which
allows a systematic sub-classification in terms of interrelated oppositions whereas the so-called states or stative situations do not. This, then, is my reason for treating stativity in terms of – ACTIONALITY: stative situations are too disparate in nature to share any positive characteristics.[119]
Bache legt statische Situationen durch das Merkmal [-Aktionalität] fest. Der Begriff ‚Aktionalität’ steht in engem Zusammenhang mit den Aktionsarten, die Bache rein semantisch definiert. Im Rahmen dieser Arbeit werden Aktionsarten jedoch rein morphologisch definiert (vgl. 1.8). Wenn ich auch nicht mit Baches Aktionsartenkonzept übereinstimme, ist doch sein semantisch-pragmatisches Konzept der Aktionalität für die Untersuchung der Verlaufsform ebenso wertvoll wie Leiss’ Konzept der Aspektualität. Wie beide zusammenhängen, wird sich im Laufe der folgenden Ausführungen zeigen.
Bache betrachtet ‚Aktionalität’ als eine Kategorie, die er als „the procedural characteristics of a situation referred to“ definiert.[120] Die verfahrenstechnischen Charakteristika einer Situation betreffen die einzelnen Phasen, aus denen sich eine Situation zusammensetzt. ‚Phasen’ bezeichnen einen Zeitpunkt oder einen Zeitraum innerhalb einer Situation. Die einzelnen Phasen von Situationen beinhalten vier aufeinander bezogene binäre Oppositionen, die folgendermaßen dargestellt werden können:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die obige Grafik entstand in Anlehnung an Baches Grafik[121] und wurde nur an den Stellen verändert, an denen eine direkte Übersetzung der Termini für Verwirrung gesorgt hätte. Die in dem System primäre Opposition ist die Opposition +/-AKTIONALITÄT. Eine verbale Konstruktion ist dann [+aktional], wenn ihr Referenzpunkt situativ festlegbar ist, also auf einen bestimmten Zeitpunkt und Ort bezogen werden kann. Ist das nicht der Fall, ist die verbale Konstruktion [-aktional]. Diese Einteilung hat den Vorteil, dass die Opposition ‚statisch’ versus ‚dynamisch’ überflüssig wird. Sobald eine Situation mit [-aktional] markiert ist, hat das im Bereich ‚Aspekt’ zur Folge, dass nur eine Variante des jeweiligen Verbs gewählt werden kann, und zwar die nicht-progressive. Progressivität und Nicht-Aktionalität schließen einander aus. So erklärt sich auch, dass alle vier oben genannten Verbgruppen von der Bildung der Verlaufsform im Englischen und auch im Deutschen ausgeschlossen sind. Und selbst die Verben, die bei manchen Autoren einmal als statisch und ein anderes Mal als dynamisch gelten, sind mittels Baches Definition durch das Merkmal ‚-aktional’ eindeutig bestimmbar. In Satz (43) ist lie in einem Kontext realisiert, der als [+aktional] gekennzeichnet ist, in Satz (44) in einem Kontext mit dem Merkmal [-aktional], das Verb in (44) in einem Kontext mit dem Merkmal [-aktional]. Das Verb (44) ist also nicht progressivierbar:[122]
(43) He is lying in bed.
(44) Würzburg lies in a beautiful valley.
Die bisherigen Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Auf semantischer Ebene können die Verben in additive und nonadditive Verben eingeteilt werden. Beide Verbgruppen verhalten sich in bestimmten Verbalkategorien unterschiedlich. Additive Verben sind im Allgemeinen eher mit der Verlaufsform kompatibel als nonadditive Verben (vgl. Kapitel 5).
2. Verbale Situationen sind primär durch die Opposition [+/-aktional] gekennzeichnet. Nur additive Verben können in die Situation [-aktional] eintreten.
3. Ist eine Situation durch [-aktional] gekennzeichnet, ist die Verbindung von additivem Verb mit der Verlaufsform ausgeschlossen.
Abschließend möchte ich die anderen, in der Grafik auftretenden Oppositionen im Bereich ‚Aktionalität’ kurz definieren, um bei der späteren Untersuchung der Kombinierbarkeit der Verlaufsform mit anderen Elementen auf sie zurückgreifen zu können.
Bei der Opposition ‚einfach’ versus ‚komplex’ ist ‚komplex’ der Endpunkt der Verzweigung. Unter komplexen Situationen sind solche zu verstehen, bei denen eine Handlung oder ein Geschehen mehr als nur einmal stattfindet. Zu den vier Untergruppen von komplexen Situationen gehören z.B. Iteration (vgl. (45)) und zeitgebundene Habitualität (vgl. (46)):
(45) Sie hüstelt.
(46) Er telefoniert jeden Tag.
Eine Situation, die als ‚einfach’ gekennzeichnet ist, drückt eine einmalige Handlung oder ein einmaliges Geschehen aus. Eine solche Situation kann entweder durativ oder punktuell sein. Punktuelle Situationen werden so wahrgenommen, als ob sie keine zeitliche Extension hätten,[123] z.B.:
(47) Der Ballon platzte.
Punktuelle Situationen besitzen alle Merkmale der nonadditiven Verben. Sie sind holistisch und nicht teilbar. Zu Recht bemerkt aber Leiss, dass punktuelle Verbalsituationen nur eine Untergruppe der holistischen Situationen bilden und nicht mit ihnen gleichgesetzt werden dürfen: „Alle punktuellen Verbalsituationen sind ganzheitlich. Die Umkehrung dieser Aussage ist nicht möglich.“[124]
Im Gegensatz hierzu wird bei den durativen Verbalsituationen eine zeitliche Ausdehnung empfunden. Durative Verbalsituationen können entweder telisch oder atelisch sein. Bei telischen liegt die Betonung auf der Endphase der Handlung,[125] z.B.:
(48) Er sang ein Lied.
Bei atelischen steht der Prozess bzw. die Handlung selbst im Vordergrund. Hier kann zwar theoretisch ein Endpunkt vorhanden sein, aber er bleibt unbetont. Atelische Verbalsituationen bilden den letzten Zweig der grafischen Darstellung mit den Endpunkten ‚gerichtet’ und ‚unabhängig’.
[...]
[1] vgl. z.B. Eisenberg 1989; Helbig/Buscha 1986
[2] vgl. z.B. Bache 1985
[3] HAMMER’S 1991: 278
[4] vgl. Lass 1987: 170
[5] Lass 1987: 164
[6] vgl. z.B. Smith 1991; Tenny 1987
[7] vgl. z.B. Comrie 1976; Eisenberg 1989; Tenny 1987
[8] vgl. z.B. DUDEN 1995: 91
[9] vgl. z.B. Ballweg 1981: 222
[10] Hentschel/Weydt 1990: 37
[11] Flämig 1991: 377
[12] vgl. z.B. Bünting 1994: 110
[13] vgl. z.B. Admoni 1982: 176
[14] Smith 1991: xvii
[15] vgl. z.B. Dahl 1985
[16] vgl. Eisenberg 1989: 33ff; Thieroff 1992: 3ff; Thieroff 1994: 3ff
[17] Eisenberg 1989: 38
[18] Thieroff 1992: 5
[19] Eisenberg 1989: 108
[20] Thieroff 1994: 3
[21] Thieroff 1992: 11 ff
[22] Eisenberg 1989: 74
[23] ebd. 41
[24] vgl. z.B. Bache 1985; Bybee 1985; Comrie 1976; Smith 1991
[25] Leiss 1992: 23
[26] Smith 1991: xvi
[27] Bache 1985: 5
[28] Gross 1974: 50
[29] Comrie 1976: 3
[30] ebd. 25
[31] ebd. 41
[32] vgl. Klein 1974: 76
[33] Pollak 1960: 33
[34] Isaçenko 1982: 349
[35] vgl. Binnick 1991: 136
[36] vgl. Bache 1985: 34
[37] vgl. Gross 1974: 56
[38] ebd.
[39] Clément in Glück 1993: 202
[40] Leiss 1992: 255
[41] ebd. 258ff
[42] ebd. 262
[43] ebd. 264
[44] ebd.
[45] Nespital 1983: 375
[46] vgl. hierzu Schwall 1991: 10ff.
[47] Schwall 1991: 92
[48] vgl. Leiss 1992: 34
[49] ebd. 33
[50] Comie 1976: 3,4, Anm. 3
[51] vgl. hierzu z.B. Bache 1985, Brinton 1988, Dietrich 1955, Ljung 1980, Kirsten 1994,Pihler 1982
[52] Pihler 1982: 61
[53] ebd. 81
[54] Hopper/Traugott 1993: 2
[55] ebd.
[56] vgl hierzu z.B. Bybee 1985; Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Heine/Reh 1984; Lehmann 1982; Traugott/Heine 1991
[57] Kuryłowicz 1975: 52
[58] Anttila 1972: 149
[59] Lehmann 1982: 10, 11
[60] Givón 1979: 208
[61] Hopper/Traugott 1993: 7
[62] Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991: 222
[63] Bybee 1985
[64] ebd. 7
[65] Anderson 1973: 10
[66] Heine/Reh 1984: 67
[67] Lyons 1977: 719
[68] Heine/Reh 1984
[69] vgl. Dahl 1985: 90, 91
[70] vgl. Ebert 1996
[71] vgl. Dahl 1985: 91
[72] Ebert 1996
[73] vgl. Dahl 1985: 90
[74] Ebert 1996
[75] Thieroff 1992: 70
[76] Engel 1988: 406
[77] ebd. 407
[78] vgl. Engel 1988: 407
[79] Engel 1988: 477
[80] Helbig/Buscha 1991: 50
[81] vgl. Helbig/Buscha 1991: 50
[82] ebd. 50
[83] ebd.
[84] Helbig/Buscha 1991: 126
[85] Helbig/Buscha 1991: 127
[86] vgl. Eisenberg 1989: 74
[87] vgl. Eisenberg 1989: 78f.
[88] ebd. 94
[89] vgl. Eisenberg 1989: 99ff.
[90] vgl. Eisenberg 1989: 74
[91] Eisenberg 1989: 74
[92] Erben 1972: 246
[93] vgl. Engel 1988: 410
[94] Helbig/Buscha 1991: 69ff.
[95] ebd. 68
[96] ebd.
[97] ebd.
[98] Jung 1984
[99] Admoni 1982
[100] Heidolph et al. 1981
[101] Erben 1989
[102] Thieroff 1992:22
[103] Leiss 1992: 45
[104] ebd. 47
[105] ebd. 50; 99
[106] ebd. 47-48
[107] ebd. 48
[108] ebd. 40
[109] vgl. Thieroff 1992: 24
[110] ebd.
[111] ebd.
[112] vgl. Comrie 1976: 49
[113] ebd.
[114] ebd.
[115] vgl. Bache 1985: 121
[116] ebd.
[117] vgl. Helbig/Buscha 1991: 71
[118] ebd. 71
[119] Bache 1985: 129
[120] ebd. 109
[121] vgl. Bache 1985: 110
[122] ebd. 122
[123] [123] ebd. 111
[124] Leiss 1992: 49
[125] vgl. Bache 1985: 112
- Quote paper
- Dr. Ariane Slater (Author), 1997, Grammatik im Wandel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189483
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