José Ortega y Gasset ist bis heute einer der einflussreichsten spanischen Denker, der außerhalb Spaniens besonders für sein Werk „Der Aufstand der Massen“ (La rebelión de las masas, 1930) bekannt wurde, innerhalb Spaniens und zu Lebzeiten aber auch bedeutenden Einfluss auf die Generación del 27 und die Avantgarde-Bewegungen hatte. Er wird charakterisiert als Zivilisationsmensch, als überzeugter Großstädter und Modernist, dessen Publikum ebenfalls großstädtisch geprägt war.
Zu seinen meistrezipierten und bahnbrechendsten Schriften wird der 1925 erstmals veröffentlichte Essay La deshumanización del arte gerechnet, der hier betrachtet und kommentiert werden soll. In diesem bezieht sich Ortega y Gasset explizit auf die „neuen Künste“ der aufkommenden Avantgarde-Bewegung(en) in Europa und Spanien, kommentiert diese und schreibt gleichzeitig quasi das Manifest einer neuen Ästhetik.
José Ortega y Gasset ist bis heute einer der einflussreichsten spanischen Denker, der außerhalb Spaniens besonders für sein Werk „Der Aufstand der Massen“ (La rebelión de las masas, 1930) bekannt wurde, innerhalb Spaniens und zu Lebzeiten aber auch bedeutenden Einfluss auf die Generación del 27 und die Avantgarde-Bewegungen hatte. Er wird charakterisiert als Zivilisationsmensch, als überzeugter Großstädter und Modernist, dessen Publikum ebenfalls großstädtisch geprägt war.
Zu seinen meistrezipierten und bahnbrechendsten Schriften wird der 1925 erstmals veröffentlichte Essay La deshumanización del arte gerechnet, der hier betrachtet und kommentiert werden soll. In diesem bezieht sich Ortega y Gasset explizit auf die „neuen Künste“ der aufkommenden Avantgarde-Bewegung(en) in Europa und Spanien, kommentiert diese und schreibt gleichzeitig quasi das Manifest einer neuen Ästhetik.
Ortega y Gasset möchte Kunst aus einer soziologischen Perspektive betrachten und so ihre sozialen Wirkungen untersuchen. Er hatte sich zuvor schon zur „impopularidad de la nueva música“ geäußert. Doch will er unterschieden wissen zwischen dem, was nicht populär ist, und dem, was unpopulär ist. Die Romantik war deshalb so populär, weil sie nicht nur „einfach zu verstehen“ war, sondern gerade populär sein wollte und sich daher nach dem Rezipienten richtete. Insofern war sie volkstümlich par excellence, auch weil sie sich gegen eine Richtung wandte, die als elitär angesehen und mit dem Ancien Régime assoziiert wurde.
Die neue Kunst, die Ortega y Gasset beschreibt, ist hingegen „volksfremd“ oder geradezu „volksfeindlich“ („antipopular“). Sie teilt die Zuschauer in diejenigen, denen sie gefällt (Minderheit) und diejenigen, die sie ablehnen (Mehrheit); er spricht gar von „dos clases de hombres“. Das schien daran zu liegen, dass das Publikum die neuen Künste nicht verstand. Doch gerade das war charakteristisch: sie wollte nicht gefallen, sondern verstanden werden. Er erkannte, dass die Mehrheit der Bürger sich in ihrem Habitus der kulturellen Vorherrschaft verletzt fühlen musste: „El arte joven, con sólo presentarse, obliga al buen burgués a sentirse tal y como es: buen burgués, ente incapaz de sacramentos artísticos“. Er formuliert also die Mission der neuen Kunst als „ser pocos y tener que combatir contra los muchos“, weswegen er eine Zweiteilung der Gesellschaft in Auserlesene und Gewöhnliche prognostiziert, die zudem die Annahme von der Gleichheit aller Menschen widerlege.
Die neue Kunst sei also nur für eine besondere Gruppe von Menschen gedacht und gemacht, da „para la mayoría de la gente el goce estético no es una actitud espiritual diversa en esencia de la que habitualmente adopta en el resto de su vida“. Es soll klar unterschieden werden zwischen dem menschlichen Gehalt des Werkes und dem ästhetischen Genuss. Ortega y Gasset gibt an dieser Stelle allerdings zu bedenken, dass „el objeto artístico sólo es artístico en la medida en que no es real“. Auch hier zieht er einen Vergleich zur Romantik. Diese war deshalb so populär, weil sie nicht „Kunst“ war, sondern ein Auszug aus dem Leben, eine Vortäuschung menschlicher Realitäten.
La deshumanización del arte, also die Vertreibung des Menschen aus der Kunst (oder seine Verfremdung), muss demnach gelingen, um die Kunst vom Menschlichen zu trennen. Dies sei die Formel der neuen Produktion, in welcher der Künstler sich gegen die Wirklichkeit wendet. Der Autor beschreibt sieben Leitsätze dieses neuen Stils: Zunächst müsste die Kunst von menschlichen Inhalten befreit werden, auch müssten lebende Formen vermieden werden (1 und 2). Ein Kunstwerk sei Kunstwerk und die Kunst ein Spiel – sonst nichts (3 und 4). Ironie müsse zum durchgehenden Mittel werden, auch wenn restlose Ehrlichkeit und genaue Darstellung angestrebt werden sollen, da Kunst eine Angelegenheit ohne transzendentale Bedeutung sei (5, 6 und 7). All dies füge sich in eine „nueva sensibilidad estética“, die er gleichzeitig einfordert. Sowohl der Künstler, als auch der Betrachter müssten sich ändern, dies ist ihm ein zentraler Aspekt: „Toda obstinación en mantenernos dentro de nuestro horizonte habitual significa debilidad, decadencia de las energias vitales.“
Weitere Merkmale der neuen Kunst sind für ihn die Wendung vom Subjektiven zum Objektiven, außerdem eine neue Klarheit („pulcritud mental“), die Umkehrung von Werten, die Hinwendung zur Metapher als res poetica, um die Realität ganz auszuschließen, und der Versuch, nicht etwas anderes zu schaffen, sondern etwas, das möglichst wenig gleicht. Dies führt soweit, dass nicht mehr „wahre Dinge“ dargestellt werden, sondern nur noch Ideen (als Beispiel nennt er Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“). Insgesamt stellt er eine Umkehrung des ästhetischen Prozesses fest („la intención estética ha cambiado de signo“) und darüber hinaus sogar einen „verdadero asco hacia las formas vivas“.
Dieser Ekel speist sich nach Meinung des Autors aus dem (negativen) Einfluss der Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft. Die Kunst richte sich gegen alles Althergebrachte und besonders gegen die „interpretación tradicional de las realidades“. Aber er geht noch weiter und fragt, ob eine Absage an die vergangene Kunst eine Absage an die Kunst im Allgemeinen darstellt. Und ob Übersättigung und Hass gegen die Kunst nicht auch Hass gegen Wissenschaft, Staat und Kultur überhaupt impliziert. Er hält sich an dieser Stelle mit Ausführungen zurück, benennt aber gewiss ein weiteres Movens der Avantgarde-Bewegungen.
Doch kann gerade die Rückbesinnung auf die „reine Kunst“ beschrieben werden mit der Verbannung aller feierlich-pathetischen Gebärden (Rolle der Selbstironie) und ihrem Anspruch der Bedeutungslosigkeit, also als Versuch, den Mensch vor dem Ernst des Lebens zu retten und in ihm Kindlichkeit zu wecken: „No hay duda: entra Europa en una etapa de puerilidad.“
Die Zusammenfassung des Textes zeigt, dass Ortega y Gasset im Grunde sämtliche Gedanken benannte, die (mehr oder weniger) in allen Avantgarde-Bewegungen zutage traten. Dies tut er, ohne sämtliche „Ismen“ der Avantgarde oder deren Werke zu benennen und ohne, wie es üblich wäre, Kritik zu üben. Zwar hatten sich viele der künstlerischen Akteure schon vorher zu bestimmten Bewegungen zusammengeschlossen und von sich aus bestimmte neue Formen der Kunst entweder explizit in Manifesten ausgedrückt oder aber einfach eingeführt. Drei einende Aspekte sind hier zu nennen: Antitraditionalismus, Zukunftshoffnung und ihre Schnelllebigkeit durch einen ständig wachsenden Modernitäts-Druck. So ist es die Leistung Ortega y Gassets, einen allgemeingültigen Katalog an Formen, Ideen und Inhalten der neuen Kunst aufgezeichnet zu haben.
Er benennt im Wesentlichen allgemeine Modernitätsmerkmale: Erstens die Deformation des künstlerischen Gegenstands, um eine Identifikation des Rezipienten zu verhindern, zweitens die Durchbrechung der herkömmlichen Einstellung zum Gegenstand und drittens das neue (ironische) Verhältnis der Kunst zu sich selbst, eine Autoreflexivität, die durch Aufgabe des Anspruchs der Bedeutung zu Selbstzweckhaftigkeit führt. Außerdem hebt er das Schaffen von Kunst für eine ausgewählte Gruppe von Menschen hervor. Viele der Avantgarde-Bewegungen wollten gar nicht breit rezipiert werden, weil es ihnen darum ging, dass der Rezipient kein Gefallens-Urteil abgab, sondern verstand, worum es dem Künstler wirklich ging.
Eine conditio sine qua non für das Entstehen der Avantgarde-Bewegungen zu diesem Zeitpunkt waren die bestehenden Verhältnisse. Es fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein radikaler kultureller Wandel statt, der neue Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster beförderte. Im Falle des avantgardistischen Theaters betrafen diese einschneidenden Veränderungen besonders die drei Kategorien Wahrnehmung, Körper und Sprache, gleichzusetzen mit Zuschauer, Schauspieler und Dramentext. So zielten zum Beispiel die neue Sprache und veränderte Bewegungsmuster auf eine neue Wahrnehmung des Gezeigten beim Zuschauer.
Besonders hervorgehoben wird in der Literatur zur Historischen Avantgarde das Aufbegehren gegen die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkende Tendenz, die Form von Kunst gegenüber dem Inhalt überzubetonen. Bürger sieht in der Avantgarde eine „Selbstkritik der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft“ (so wie schon Marx zu seiner Zeit eine „Selbstkritik der Gegenwart“ erkannt hatte). Als bestes Beispiel für die Selbstkritik der Institution Kunst wird die Dada-Bewegung angeführt. Die Avantgarde richtete sich sowohl gegen den kunstproduzierenden und -distribuierenden Apparat als auch gegen die herrschenden Vorstellungen über Kunst im Allgemeinen.
Konkret hieß das, dass die Kunst sich abhob von der Lebenspraxis. Das bedeutete, dass der institutionelle Rahmen und der Gehalt der Werke zusammenfielen (ausgedrückt in dem berühmten Ausspruch L’art pour l’art). So wie Ortega y Gasset es auch beschrieb, konzentrierte sich der neue Ästhetizismus auf das Medium selbst. Das Wegfallen des Gehalts enthüllte die gesellschaftliche Funktionslosigkeit als Wesen der Kunst und forderte nach Bürger eine Selbstkritik geradezu heraus. Diese wurde seiner Meinung nach von der Avantgarde praktisch geleistet.
Manchem Autor gilt Ortega y Gasset als Vertreter eines „pre-posmodernismo“: In En torno a Galileo (1933) verortet er den Beginn der Moderne bei Galileo Galilei, seine Epoche sei aber schon ein anderes Zeitalter: „salimos de una Edad para entrar en otra“. Auch in La deshumanización del arte spricht er von einem Aufbruch in ein neues Zeitalter. Dieses neue Zeitalter wird heutzutage Historische Avantgarde genannt, also als vergangenes Vorreitertum klassifiziert. Ortega y Gasset hat mit seinem Essay diese Bewegung beschrieben, charakterisiert und ihr einen theoretischen Hintergrund gestiftet.
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- Arbeit zitieren
- Florian Kuhne (Autor:in), 2011, José Ortega y Gasset: La deshumanización del arte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189179
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