Bis heute gilt Euripides wohl als einer der beliebtesten antiken Tragiker. Das Stück „Medea“ zählt zu seinen größten Werken, das auch heute noch eine besondere Faszination auf den Zuschauer ausübt.
In dieser großen psychologischen Charakterstudie einer in ihrer Seele zutiefst getroffen Frau verhallen beim Zuschauer die Worte Medeas, die sie fast am Ende des Stückes zu Jason spricht, während sie die von ihr getöteten Kinder in den Armen hält und auf einem mit Drachen bespannten Wagen steht:
„Ich möchte sie mit meiner Hand begraben, sie tragen in das Heiligtum der Göttin Hera Akraia, daß kein Feind sie schände und ihr Grab aufwühle. Und dem Land des Sisyphos will ich ein Götterfest und Opfer stiften für die Zukunft, diesem frevelhaften Mord zur Sühne.“ (V. 1378-1383)
Für den Zuschauer klingt das ziemlich abstrakt: Er weiß nicht viel mit dem genannten Heiligtum anzufangen, weil er es nicht kennt, und auch unter den angekündigten Götterfesten und Kulten kann er sich in den meisten Fällen wahrscheinlich nichts Konkretes vorstellen.
In der Antike war das anders. Hier schilderten die Worte die Umgebung der Zuschauer, vertraute Riten, wohlbekannte Schicksale. Was sie tatsächlich über die Riten gewusst haben, kann heute natürlich nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden. Man kann jedoch mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Besucher des Stückes mit Geschichten, die etwas mit Medea zu tun hatten, nicht nur vertraut waren, sondern wohl auch die Riten kannten, die im Tempel von Hera Akraia zu Ehren der Kinder vollzogen wurden.
Folgend soll in diesen Ausführungen das oben genannte verständlich gemacht und untersucht werden, inwiefern ein schon bestehender Kult Euripides beeinflusst hat.
Versuchte Euripides, einen bestehenden Kult durch seine Erzählung zu erklären? Gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für die Riten der Hera Akraia? Warum erwähnte Euripides überhaupt die Hera Akraia? Was brachte Euripides Neues für den Kult?
Diesen und anderen Fragen soll nun im Folgenden nachgegangen werden.
Inhaltverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Mögliche Ursprünge und Gründe der Ätiologie
2.2 Die unterschiedlichen Versionen des Kindstodes
2.3 Die Bedeutung der Hera Akraia
2.4 Das Begräbnis der Kinder
2.5 Theorie von den zwei verbundenen Medea-Bildern
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bis heute gilt Euripides wohl als einer der beliebtesten antiken Tragiker. Das Stück „Medea“ zählt zu seinen größten Werken, das auch heute noch eine besondere Faszination auf den Zuschauer ausübt.
In dieser großen psychologischen Charakterstudie einer in ihrer Seele zutiefst getroffen Frau[1] verhallen beim Zuschauer die Worte Medeas, die sie fast am Ende des Stückes zu Jason spricht, während sie die von ihr getöteten Kinder in den Armen hält und auf einem mit Drachen bespannten Wagen steht:
„Ich möchte sie mit meiner Hand begraben, sie tragen in das Heiligtum der Göttin Hera Akraia, daß kein Feind sie schände und ihr Grab aufwühle. Und dem Land des Sisyphos will ich ein Götterfest und Opfer stiften für die Zukunft, diesem frevelhaften Mord zur Sühne.“[2] (V. 1378-1383)
Für den Zuschauer klingt das ziemlich abstrakt: Er weiß nicht viel mit dem genannten Heiligtum anzufangen, weil er es nicht kennt, und auch unter den angekündigten Götterfesten und Kulten kann er sich in den meisten Fällen wahrscheinlich nichts Konkretes vorstellen.
In der Antike war das anders. Hier schilderten die Worte die Umgebung der Zuschauer, vertraute Riten, wohlbekannte Schicksale. Was sie tatsächlich über die Riten gewusst haben, kann heute natürlich nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden. Man kann jedoch mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Besucher des Stückes mit Geschichten, die etwas mit Medea zu tun hatten, nicht nur vertraut waren, sondern wohl auch die Riten kannten, die im Tempel von Hera Akraia zu Ehren der Kinder vollzogen wurden.[3] Folgend soll in diesen Ausführungen das oben genannte verständlich gemacht und untersucht werden, inwiefern ein schon bestehender Kult Euripides beeinflusst hat.
Es gab nicht nur einen Tempel der Hera Akraia. Doch der Kult, um den es sich hier handelt, ist der des berühmtesten Hera-Akraia-Tempels. Dieser stand in Korinth und war, so war es überliefert, von Medea selbst gegründet worden. Sieben Mädchen und sieben Jungen aus vornehmen Familien versahen hier den Tempeldienst. Schwarz gekleidet sollten sie im Tempel der Hera Akraia ein Jahr lang leben um einen Kult, ähnlich einem Bußritus, auszuführen.[4] Ihre schwarze Kleidung symbolisierte, dass sie während ihrer Zeit des
Dienstes ,tot’ waren und der Hera Akraia ,geopfert’ wurden.[5] Die Aufgabe der Kinder bestand darin, die Totenklage für Medeas Kinder einmal im Jahr zu wiederholen und Opfer darzubringen.[6] Hierzu wurde alljährlich ein Trauerfest für Hera Akraia gefeiert.[7] Versuchte Euripides also, den bestehenden Kult durch seine Erzählung zu erklären? Gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für die Riten der Hera Akraia? Warum erwähnte Euripides überhaupt die Hera Akraia? Was brachte Euripides Neues für den Kult?
Diesen und anderen Fragen soll nun im Folgenden nachgegangen werden.
2. Hauptteil
2.1 Mögliche Ursprünge und Gründe der Ätiologie
Der Kult um Hera Akraia bestand schon lange vor Euripides und man kann deutlich erkennen, dass schon alte voreuripideische Überlieferungen die Beziehungen Medeas und ihrer Kinder zu Korinth und zur Hera Akraia darstellten.[8] Euripides kannte diese Darstellungen und den Kult und nennt in der oben zitierten Stelle Medea als Gründerin dieses Kultes. Damit ist er nicht alleine. Auch andere antiken Quellen bezeichnen Medea als Gründerin des Kults von Hera Akraia und seines jährlichen Festes, das sowohl der Gottheit als auch Medeas toten Kindern gewidmet war. Dieser Widmung lässt sich die Vermutung ableiten, dass Medea eine frühere Gottheit der Korinther war, die durch Hera verdängt worden ist.[9] Es ist nämlich auffällig, dass Medea in diesem Kult keine Rolle spielt, sondern nur ihre Kinder und Hera Akraia.[10] Durch die Ersetzung Medeas durch Hera kehrten sich dann Medeas Charakterzüge ins Gegenteil: Sie war nicht mehr die schützende Mutter, sondern brachte den Kindern Unheil, während Hera die Kinder schützte.
Es ist durchaus möglich, dass Medea nicht erst nachträglich durch die Ätiologie mit dem Kult in Verbindung gebracht worden ist, sondern dass diese Legende auf eine alte Kultverbindung beruhte.[11] Wenn Medea vorher tatsächlich eine Gottheit gewesen war, konnte der Kindesmord durch Medea ursprünglich ein Kinderopfer an die ehemalige Göttin Medea gewesen sein.[12]
Doch auch eine andere Ableitung ist möglich. Nilsson leitet aus der Tatsache, dass die Kinder Medeas als Verstorbene verehrt wurden, ab, dass auch sie für Götter gehalten worden sein könnten.[13] Hätte man sie nämlich nicht für unsterblich und damit für göttlich gehalten, wäre der Kult um die Kinder vielleicht nicht entstanden. Dass man dann aber danach suchte, ihnen eine Mutter zu geben, ist naheliegend und im Falle der Medea vielleicht geschehen.
[...]
[1] Vgl. KREFELD: Literatur, 160 (In den Fußnoten werden Kurztitel verwendet; zu den Abkürzungen s. Literaturverzeichnis).
[2] Übersetzt von D. Ebener in: EURIPIDES: Tragödien. Erster Teil. Medeia. Griechisch und Deutsch von D. Ebener, Berlin 1972 (Schriften und Quellen der alten Welt. 30.1).
[3] Vgl. DUNN: Euripides, 104f.
[4] Vgl. JOHNSTON: Medea, 50.
[5] Vgl. Ebd., 60.
[6] Vgl. NILSSON: Feste, 58.
[7] WENTZEL: Akraia, 1193.
[8] Vgl. LESKY: Medeia, 42.
[9] Vgl. JOHNSTON: Medea, 46.
[10] Vgl. NILSSON: Feste, 59.
[11] Vgl. Ebd.
[12] Vgl. Ebd., 60.
[13] Vgl. Ebd., 59.
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