Angesichts der Tatsache, dass das Volksmärchen heute, abgesehen von der einschlägigen Forschung, fast ausnahmslos im Zusammenhang mit dem Kind als seinem hauptsächlichen Rezipienten gesehen wird, muss gefragt werden, worauf diese Zuordnung beruhen mag und unter welchen Bedingungen sie stattfindet. Aus der Beantwortung dieser und damit zusammenhängenden Fragen dürfte schließlich ein Beitrag zum didaktischen Aspekt des Märchens in der Grundschule zu gewinnen sein.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Der Märchenbegriff
3. Die Entwicklung des Märchens
3.1. Märchen als Erwachsenen- oder Kinderliteratur?
4. Das Märchen in der Pädagogik
4.1. Gibt es ein Märchenalter?
4.2. Wirkung der Märchen auf Kinder
5. Bibliographie
Märchen als Kinderliteratur
1. Vorwort
Angesichts der Tatsache, dass das Volksmärchen heute, abgesehen von der einschlägigen Forschung, fast ausnahmslos im Zusammenhang mit dem Kind als seinem hauptsächlichen Rezipienten gesehen wird, muss gefragt werden, worauf diese Zuordnung beruhen mag und unter welchen Bedingungen sie stattfindet. Aus der Beantwortung dieser und damit zusammenhängenden Fragen dürfte schließlich ein Beitrag zum didaktischen Aspekt des Märchens in der Grundschule zu gewinnen sein.
2. Der Märchenbegriff
Der Begriff "Märchen" ist eine Verkleinerungsbildung des Substantivs maere. Maere bedeutet ursprünglich Nachricht, Kunde, Erzählung; die Verkleinerungsform Märle, die das oberdeutsche Märlein verdrängt hat, war bis ins 19. Jh. im Sinne von Nachricht, Gerücht, kleine (unglaubhafte) Erzählung gebräuchlich. Heute wird das Märchen definiert als phantastische Erzählung, in der die Grenzen zur Wirklichkeit und zu Wunderbarem aufgehoben sind; als Erzählung ohne Bindung an individuelle Personen oder an bestimmte Orte. Hier wird das Unglaubwürdige und Unwahrscheinliche im Gegensatz zu maere angesprochen.
Literaturwissenschaftlich wird zwischen Märchen, Mythen, Science Fiction, Comics und Abenteuererzählungen unterschieden, ohne allerdings eine exakte Grenze zwischen den einzelnen Bereichen zu ziehen. Eine mögliche wissenschaftliche Definition des Märchens lautet wie folgt:
„Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte, wunderbare Geschichte'. - Das Märchen 'folgt nicht den Gesetzen der Wirklichkeit'; es bietet 'phantastisch wunderbare Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie Naturgesetzen widerstreiten'. - 'Der Begriff Märchen' bezeichnet 'eine bunte Geschichte, die in einer phantastischen Welt spielt, in welcher der gewohnte Kausal- und Naturzusammenhang aufgehoben ist'. - 'Im Wesen des Märchens liegt geradezu der Gegensatz zur Realität'. Das Märchen ist 'erfabelte Dichtung', die nur der Phantasie angehört; es verlangt 'keinen Glauben'“ (RÖHRICH, S. 1).
Den Anspruch auf "Glaubwürdigkeit" spricht auch Ranke den Märchen ab (CRAMES, S. 5). Entgegen dieser Definition sind in Märchen allerdings häufig Auseinandersetzungen mit den gegebenen Realitäten zu finden. Lediglich die Form des Märchens und die Transformation der tatsächlichen Umstände ins Fiktive, erweckt den Anschein, dass Märchen vollkommen bezugslos im Raum stehen (MALLET, S.64). Treffend drückt das Crames aus: "Das Märchen [...] berichtet von einer 'Notlage'. Aus dieser heraus entspinnt sich dann ein Geschehen, das [...] in jene sonderbare Welt hineinführt. Wenn es [...] dort zu einem befriedigenden Ende gelangt ist, führt es [...] wieder an die nüchterne Realität heran" ( CRAMES S. 6). Ebenfalls läßt sich bei Schäfer ein Hinweis auf die Darstellung von Problemsituationen im Märchen finden, zugleich setzt sie dies in Bezug zu dem einheitlichen formalen Aufbau der Märchen:
Sie [Märchen] beginnen typischerweise mit einer mehr oder weniger krisenhaft erlebten Ablöse-Phase, in der der Held oder die Heldin entweder freiwillig zum Abenteuer aufbricht [...] oder gar ausgesetzt, vertrieben wird, [...]. Immer also steht eine gravierende Veränderung der bisherigen Lebenssituation am Anfang: Held oder Heldin sind nun auf sich allein gestellt. Es müssen bestimmte Aufgaben gelöst werden - das vorläufige Scheitern in der einen oder anderen Form ist unvermeidlich, bevor es zu einem Neuansatz oder zu einer 'letzten Aktion' kommt[...], die dann zum Happy-End führt. (SCHÄFER, S.142)
Dieser inhaltliche Aufbau führt zu der Annahme, dass den Märchen eine formale Struktur zugrunde liegt. Crames behauptet, dass der Ablauf sich "zwei- oder dreigliedrig steigert", so dass "der strenge Bau und eine Gliederung in Episoden [...] das eigentliche Märchen als kunstvolle Erzählung" ausweist (CRAMES, S. 6). Was, um das noch einmal zu betonen, in der Überlieferung der Volksmärchen eine automatische Entwicklung hin zu der heutigen Form war und keine Erfindung eines Dichters.
3. Die Entwicklung des Märchens
Die Gebrüder Grimm waren keineswegs die ersten, die das Volksmärchen in Deutschland einem kindlichen Publikum zudachten, wenn auch ihre Sammlung bis in die Gegenwart im allgemeinen Bewusstsein, wie die inzwischen kaum noch zu zählenden Ausgaben beweisen, als das Märchenbuch für Kinder schlechthin verstanden wird. Christa Federspiel zählte zum Beispiel bis 1940 über 600 Nachdrucke der großen und kleinen Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ (FEDERSPIEL, S.108). Die Entdeckung des kindlichen Märchenrezipienten ist bereits der Aufklärung zu verdanken. Johann Karl August Musäus sah sich schon in seinen „Volksmärchen der Deutschen“ (1782 – 1786) nicht mehr in der Lage, seinen erwachsenen Lesern den Stoff ohne ironischen Zungenschlag mitzuteilen. Diese aufgeklärte Distanz zu den Märchen beweist, dass sie schon als Texte für Kinder begriffen wurden, und die erste eigentliche Volksmärchensammlung aus dieser Zeit von Wilhelm Günther „Kindermärchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt“ (1787), verrät im Titel, welche Adressatengruppe gemeint ist.
Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung nachzuzeichnen, die zu solcher Einschätzung des Volksmärchens führte. Soviel jedoch lässt sich in Kürze feststellen: Dem rationalen Verständnis der Aufklärung, das sich – im Laufe eines sich stürmisch entfaltenden bürgerlichen Bildungsbewusstseins – von mythischen, wunderbaren und generell irrationalen Denk- und Erlebnisinhalten distanzierte, musste das Volksmärchen suspekt – da unglaubwürdig – werden.
So wird das Märchen dorthin verwiesen, wo es noch – wenigstens teilweise – für wahr gehalten werden kann, an das Kind. Da dieses Zeitalter aber zugleich auch ein eminent pädagogisch denkendes ist, gerät auch der Märchentext mehr und mehr zum Transporteur erzieherisch gemeinter Anregungen und Direktiven.
Die Sammlung der Brüder Grimm, obwohl aus ganz anderen, typisch romantischen Motiven entstanden, lässt den Einfluss der Aufklärung gerade durch diese Zuordnung des Märchens auf ein kindliches Publikum noch deutlich erkennen. Dabei schätzten die Brüder das Objekt zunächst nicht so eindeutig ein wie die späteren von Wilhelm betreuten, Ausgaben der „Kinder und Hausmärchen“, die den kindlichen Adressaten immer stärker berücksichtigen. Aber auch bi ihnen war von Anfang an von „Kindermärchen“ die Rede. Schon als es um die Veröffentlichung geht, schreibt JACOB im Mai 1812 an ACHIM von ARNIM nach Berlin: „Kannst du einmal dort einen Verleger zu den von uns gesammelten Kindermärchen bereden, so tu es doch...“ (STEIG, S.195). Dass es sich dabei nicht um einen mehr oder weniger zufällig unterlaufenen Begriff handelt, zeigt die ganze ausführliche Reflexion der Brüder zu dem Thema Märchen und Kind. Es hat eher den Anschein, als ob sie grundsätzlich das Märchen als eine dem Kind zugehörige Literaturform betrachtet hätten. Kaum anders ist Wilhelm zu verstehen, wenn er ihre Sammlung von den bisherigen Bearbeitungs-Usancen abheben will und schreibt: „ (...) man hat sie (die Märchen, Vf.) fast immer nur als Stoff benutzt, um größere Erzählungen daraus zu machen, die willkürlich erweitert, verändert (...) doch immer den Kindern das Ihrige aus den Händen rissen“ (GRIMM, Wilhelm, S. 327). im Gegensatz dazu war jedoch die erste Ausgabe des ersten Bandes nicht für Kinder bestimmt, als Frucht wissenschaftlicher Sammeltätigkeit wandte sie sich an die Fachwelt und den erwachsenen Leser. Entsprechend klingt eine gewisse Überraschung durch, wenn JACOB an ARNIM berichtet: „Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht, und das freut mich sehr“ (STEIG, S. 271). Das lässt darauf schließen, dass das Buch zunächst eine Sammlung von Kindermärchen hauptsächlich für erwachsene Leser gemeint war und erst im Zuge der weiteren Auflagen wieder mehr als Kinderbuch verstanden wurde. Darauf deutet auch die Herausnahme der Anmerkungen aus den eigentlichen Märchenbänden seit der zweiten, vermehrten Auflage von 1819 hin. Dass die Brüder die Märchentexte von Anfang an als Kindermärchen bezeichneten, kann nur aus dem während der Aufklärung begründeten Verständnis und den zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits üblichen Erzählgebräuchen erklärt werden. Das dokumentiert sich auch in der Ausdrucksweise zahlreicher Grimm-Korrespondenten, die sich ebenfalls des Begriffs „Kindermärchen“ bedienen ( SCHOOF, S.16): Märchen wurden eben vorwiegend Kindern erzählt.
Damit ist auch die Art und Weise ihrer schriftlichen Fixierung determiniert: sei es in dem Text, den die Brüder schon bei der ersten Aufzeichnung von ihren Gewährsleuten entgegennahmen, denn auch diese dürften, zum mindesten soweit sie bürgerlichen oder adeligen Schriften angehörten, Märchen schon als Kinderbücher verstanden haben, oder sei es in dem Erzähl-Produkt, das die Bearbeiter, Wilhelm vor allen Dingen, der Nachwelt überlieferten (SCHOOF, S. 53).
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- Arbeit zitieren
- Carina Hirschl (Autor:in), 2002, Märchen als Kinderliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18872
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