Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, unter welchen Bedingungen Se-nioren in der Lage sind, ihre Selbstständigkeit lange zu bewahren, und ob zwischen dem Erhalt der Selbstständigkeit und der (Bildungs-) Aktivität ein Zusammenhang besteht. Die Theorie der Selbstorganisation nach Prof. Dr. walter Dürr ist die Grundlage für die Bearbeitung dieser Fragestellung. Im diesem Sinne wird die These vertreten: Mit Hilfe der Theorie der Selbstorganisation ist es möglich, die individuellen Bedingungen für Aktivität und Selbstständigkeit von Menschen zu beleuchten.
Inhaltsverzeichnis
1 Ausgangsüberlegungen zur Lernfähigkeit im Alter
1.1 Fragestellung und Verlauf der Arbeit
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Lernen (im Alter) und selbstgesteuertes Lernen
2.2 Motivation und Lernmotivation
3 Lernen und Lernmotivation in der Theorie
3.1 Lernmotivation im Fokus intrinsischer und extrinsischer Motivationstheorien
3.1.1 Die Bedeutung der Ziele und Inhalte im Motivationsgeschehen
3.2 Lernen und Lernmotivation aus Sichtweise der Theorie der Selbstorganisation
3.2.1 Zentrale Aspekte der Theorie der Selbstorganisation
3.2.2 Lernen und Lernmotivation- Erstmaligkeit und Bestätigung
4 Phänomene der (Bildungs-) Aktivitäten und der Selbstständigkeit von Senioren in Gestaltanalysen
4.1 Forschungsvorgehen mittels der Theorie der Selbstorganisation
4.2 Ergebnisse der individuellen Gestaltanalysen
4.2.1 Auswertung des Interviews mit Frau A
4.2.2 Auswertung des Interviews mit Frau B
4.2.3 Auswertung des Interviews mit Frau C
4.2.4 Auswertung des Interviews mit Frau D
4.2.5 Auswertung des Interviews mit Frau E
4.3 Der Umgang mit stabilisierten und beeinträchtigenden Faktoren
4.4 Bildungsaktivitäten und Lernerfahrungen im Fokus von Erstmaligkeit und Bestätigung
4.5 Selbstständigkeit
4.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
5 Gestaltungsempfehlungen
5.1 Individuelle Gestaltungsempfehlungen
5.1.1 Gestaltungsempfehlung für Frau A
5.1.2 Gestaltungsempfehlung für Frau B
5.1.3 Gestaltungsempfehlung für Frau C
5.1.4 Gestaltungsempfehlung für Frau D
5.1.5 Gestaltungsempfehlung für Frau E
5.2 Gestaltungsempfehlungen an Institutionen
6 Schlussbemerkung
6.1 Zusammenfassung
6.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis:
Anhang
1 Ausgangsüberlegungen zur Lernfähigkeit im Alter
Noch bis in die 70 er Jahre war die Bildung von Älteren ein Randthema. Dies verhielt sich so, da man der Ansicht war, dass im Alter nur eine einge- schränkte Lernfähigkeit vorhanden ist. Man ging lange Zeit von einem Defi- zitmodell aus, welches besagt, dass eine Entwicklung im Alter nur in einer negativen Form, im Sinne von Abbauprozessen, geschehen kann. Diese Denkweise ist inzwischen weitestgehend überwunden. Erkenntnisse aus der lernpsychologischen Erwachsenenforschung postulieren, dass die Lernfähigkeit weniger vom kalendarischen Alter beeinflusst wird als viel- mehr von anderen Faktoren. Beispielsweise können Krankheiten, welche im Alter häufiger auftreten, die Lernleistung beeinflussen, nicht aber das Alter selbst. Des Weiteren beeinflusst eine auf Interessen beruhende Moti- vation den Lernprozess im Erwachsenenalter maßgeblich. Zudem ist die Lernfähigkeit vom persönlichen Selbstvertrauen und dem Anspruchsniveau abhängig. Dieses subjektive Selbstbild wird jedoch vom Fremdbild, von gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenzuschreibungen beeinflusst. Menschen bleiben jedoch in der Regel unter ihrem potentiellen Leistungs- niveau, wenn ihnen von außen nichts zugetraut wird. Dies bestätigt dann wiederum das gesellschaftliche Vorurteil.1
Zumindest in der Wissenschaft ist heute weitestgehend anerkannt, dass auch im Alter eine Lernfähigkeit vorhanden ist. Es wird angenommen, dass ältere Menschen nicht schlechter lernen, sondern lediglich anders. Bei- spielsweise lernen Ältere im Ganzen besser und Jüngere in Teilen.2 Untersuchungen zum Lernen im Alter sind ein relativ junges Forschungs- feld, dennoch entstanden in den letzten 30 Jahren zahlreiche Veröffentli- chungen und Studien. Diese zielen in der Regel darauf ab, Erklärungen und Voraussetzungen für „erfolgreiches Altern“ zu finden. Dies geschieht häufig, indem allgemeingültige Kausalitäten aufgestellt werden. Diese kön- nen durchaus gegensätzlich sein. Beispielsweise postuliert die Aktivitäts- theorie nach Tartler, dass nur, wer im Alter aktiv ist, erfolgreich und somit glücklich sein kann. Im Gegensatz dazu geht die Disengagement-Theorie davon aus, dass Menschen im Alter dann glücklich und zufrieden sind, wenn sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen können, da sie sich nur so mit dem eigenen Lebensende auseinandersetzen können.3 Diese theoretischen Konzeptionen sind nicht nur einseitig, sondern sie versuchen auch allgemeingültige Aussagen zu treffen.
In Anbetracht des demographischen Wandels wird eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alter immer notwendiger. Da es sich bei den Senioren bereits heute um eine äußerst heterogene Gruppe handelt, erscheint es nicht sinnvoll ausschließlich einseitige, allgemeingültige Forschungsergebnisse erzielen zu wollen.
Daher wird dieses Thema in der vorliegenden Arbeit aus einer anderen theoretischen Perspektive beleuchtet. Diese richtet ihr Augenmerk auf die individuellen Bedingungen der befragten Personen und betrachtet die beobachteten Phänomene in ihrer Gesamtheit.
1.1 Fragestellung und Verlauf der Arbeit
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, unter welchen Bedingungen Se- nioren4 in der Lage sind, ihre Selbstständigkeit lange zu bewahren, und ob zwischen dem Erhalt der Selbstständigkeit und der (Bildungs-) Aktivität ein Zusammenhang besteht. Die Theorie der Selbstorganisation ist die Grund- lage für die Bearbeitung dieser Fragestellung. Im diesem Sinne wird die These vertreten: Mit Hilfe der Theorie der Selbstorganisation ist es möglich, die individuellen Bedingungen für Aktivität und Selbstständigkeit der Senio- ren zu beleuchten.
Die Theorie der Selbstorganisation basiert auf Erkenntnissen aus der Quantentheorie. Die Quantentheorie hat nach Carl Friedrich von Weizsä- cker keine Gültigkeitsgrenzen und scheint alle anorganischen Vorgänge umfassen zu können.5 Da die synergetische Theorie der Selbstorganisation sich auf die Quantentheorie stützt, besitzt auch sie einen hohen Allgemein- heitsgrad und kann demzufolge sowohl soziale als auch anthropologische und kulturelle Forschungsbefunde erklären. Die Theorie ist so umfassend, dass es möglich ist, mit ihr auch die individuellen Bedingungen der Lebenssituation von Senioren zu beleuchten.6
Mit Hilfe der Theorie der Selbstorganisation kann man Schlüsse über die Kraft der Selbststabilisierung der beobachteten Gestalten ziehen. Durch offen geführte Interviews erhält man Auskünfte über die Phänomene der beobachteten Gestalt. Diese werden im Anschluss daraufhin untersucht, ob die erkennbaren Handlungsweisen, deren Sinn und die jeweilige Struktur in Einklang stehen und somit eine Kraft der Selbststabilisierung vorhanden ist. Zudem wird untersucht, welche Faktoren die Selbststabilisierung beein- trächtigen oder fördern können. Es ist jedoch zu beachten, dass zu Beginn des Forschungsprozesses keine Erfolgskriterien aufgestellt werden, da sich diese erst durch die Auswertung der Interviews zeigen können. Zudem ist es, im Sinne dieses Ansatzes, nur möglich, Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Ereignisse zu treffen. Gesicherte Prognosen sind nicht möglich. Diese beziehen sich in der Regel auf statistische Durchschnitts- werte, welche der konkreten Situation eines Menschen mit seinen komple- xen Phänomenen nicht gerecht werden können.
Ziel dieser Arbeit ist es daher, mittels des Forschungsvorgehens im Sinne der Theorie der Selbstorganisation, individuelle, praktische Gestaltungsempfehlungen an die interviewten Personen zu geben.
Die Ausgangsbasis für den Forschungsprozess stellen die Interviews dar. Daher interviewte ich fünf Seniorinnen, welche ich zum einen in einer Begegnungsstätte aufsuchte oder welche mir aus meinem Bekanntenkreis vermittelt wurden. Die Tatsache, dass alle Interviewten weiblichen Geschlechtes sind, ergab sich zufällig und wird in der Untersuchung und deren Auswertung nicht berücksichtigt.
Der verwendete Interviewleitfaden beinhaltet die Kategorie Bildungsaktivitä- ten, womit alle Aktivitäten gemeint sind, in denen dem Lernen die bedeu- tende Funktion zukommt und wo durch das Lernen ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, wie beispielsweise ein Englischkurs an der Volks- hochschule. Demgegenüber werden unter Aktivitäten alle Tätigkeiten ver- standen, bei denen kein zielgerichtetes Lernen im Vordergrund steht, wie kulturelle, sportliche oder kirchliche Tätigkeiten. Wobei trotzdem davon ausgegangen wird, dass auch bei derartigen Aktivitäten gelernt werden kann, da man nicht nicht lernen kann.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird zunächst auf Begriffsdefinitionen einge- gangen, welche für die vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind. Der Terminus‚Lernen’ wird kurz und allgemein dargestellt, es wird jedoch auch darauf eingegangen, weshalb das lebensbegleitende Lernen in der heuti- gen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen hat. Zudem wird der Begriff des ‚selbstgesteuerten Lernens’ beschrieben, da dieser in Bezug auf diese Ar- beit eine zentrale Rolle spielt. Der Begriff des Lernens wird in Kapitel 3 noch einmal intensiver, im Lichte der Theorie der Selbstorganisation, bear- beitet.
Eine weitere begriffliche Klärung wird zur Motivation vorgenommen. Nach anfänglichen grundsätzlichen Aussagen werden im Rahmen der Selbstbe- stimmungstheorie nach Deci und Ryan die intrinsische und extrinsische Motivation genauer beleuchtet. Zudem wird die motivationale Selbstbe- stimmungstheorie unter dem Aspekt der Selbststeuerung um eine Ziel- und Interessenvariable nach der Kritik Andreas Krapps ergänzt. Anhand dieses Modells sollen Beweggründe für eine erfolgreiche selbstgesteuerte Lern- motivation erklärt werden.
Im Anschluss werden die grundlegenden Aspekte der Theorie der Selbstorganisation vorgestellt. Die Theorie der Selbstorganisation wird lediglich in ihren zentralen, für diese Arbeit relevanten, Grundaussagen vorgestellt. Auf eine detaillierte Herleitung aus der Quantentheorie wird verzichtet, da dies den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.
Schließlich wird eine Übertragung der Theorie auf das Lernen und die Lernmotivation vorgenommen. Des Weiteren wird beschrieben, in welchem Zusammenhang ‚Erstmaligkeit’ ‚Bestätigung’ und Lernen stehen.
Im zweiten Teil stehen die Auswertungen und die Ergebnisse der Inter- views im Mittelpunkt. Zuerst werden das Forschungsvorgehen im Sinne der Theorie der Selbstorganisation und ein Beispiel für eine Gestaltanalyse vorgestellt. Anschließend werden die individuellen Gestaltanalysen im Fließtext dargestellt. Diese dienen als Grundlage für das weitere Vorgehen und lassen erkennen, ob sich die interviewte Person in einer stabilen oder unstabilen Phase befindet. In einem nächsten Schritt wird der Umgang der interviewten Personen mit stabilisierenden und beeinträchtigenden Fakto- ren beschrieben, um dadurch Schlüsse auf die individuelle Kraft der Selbst- stabilisierung und das Umgehen mit einer Krise ziehen zu können. Mit Hilfe der Analysen wird weiterhin gefolgert, wie die interviewten Personen, im Fokus von Erstmaligkeit und Bestätigung, mit ihren bisherigen Lernerfah- rungen und bei der Auswahl von (Bildungs-) Aktivitäten umgehen. Zudem ist es für die Fragestellung der Arbeit von Bedeutung, ob bei den Interview- partnern eine Selbstständigkeit erkennbar ist. Daher werden Indikatoren, welche für eine vorhandene Selbstständigkeit sprechen, beschrieben. Da die Auswertung bisher ausschließlich individuell erfolgte, wird in einem letz- ten Schritt auf die Gemeinsamkeiten und die Unterscheide der Interviewten eingegangen.
Anhand der erhaltenen Ergebnisse ist es nun möglich, praktische Gestal- tungsempfehlungen zu äußern. Diese erfolgen zuerst individuell, da anzu- nehmen ist, dass sowohl Praktiken und Funktionen als auch die Rahmen- bedingungen individuell sehr unterschiedlich ausfallen werden. Des Weite- ren werden praktische Gestaltungsempfehlungen an Institutionen gegeben. Dies soll geschehen, indem darauf geachtet wird, welche Bedürfnisse die Interviewten im Hinblick auf (Bildungs-) Veranstaltungen oder ihre allge- meine Lebensweise äußern.
Im Schlusskapitel werden die erhaltenen Ergebnisse noch einmal zusam- mengefasst. Zudem wird darauf eingegangen, ob Zusammenhänge zwi- schen dem Erhalt der Selbstständigkeit und der Bildungsaktivität festge- stellt werden konnten bzw. welche Faktoren hierfür noch eine Rolle spielen können.
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Lernen (im Alter) und selbstgesteuertes Lernen
Das Erwachsenenalter und damit verbunden das lebensbegleitende Lernen rückte in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund verschiede- ner wissenschaftlicher Disziplinen wie der Pädagogik, der Soziologie oder der Psychologie. Dieser veränderte und erweiterte Blickwinkel ist auf meh- rere Ursachen zurückzuführen. Nicht nur der demographische, auch der gesellschaftliche Wandel, der sogenannte Individualisierungsprozess, spiel- te hierfür eine entscheidende Rolle. Die Individuen werden innerhalb und außerhalb der Familie ihr gesamtes Leben lang zum Akteur ihrer Existenz- sicherung und ihrer Biographieplanung. Die Gesellschaft erwartet heute von Erwachsenen ein lebenslanges Lernen, Flexibilität, ständige Weiterbil- dung und Mobilität, um nur einige Anforderungen zu nennen.7 Auch der wahrnehmbare Trend einer Entwicklung zu einer Wissensgesell- schaft gibt dem lebenslangen Lernen seine Notwendigkeit. Im Vergleich zu früheren Gesellschaften hat Wissen an Bedeutung gewonnen, insbesonde- re durch den rapiden Wandel in Technik und Wissenschaft. Individuen sind inzwischen zu einem ständigen und kontinuierlichen Lernen gezwungen, um in der Arbeitswelt, aber auch in anderen Lebensbereichen bestehen zu können. Wissen wird nicht nur für die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch für die einzelnen Mitglieder immer bedeutsamer.
Die Bildung hat die Aufgabe dem Lernenden bei der Bewältigung der Anforderungen, welche die Wissensgesellschaft an das Individuum heranträgt, zu unterstützen.
Eine universelle Definition zum Lernen existiert nicht, da es sich um einen vieldeutigen Begriff handelt. Grundsätzlich kann man jedoch festhalten, dass Lernen auf „die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotenti- al eines Organismus in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Er- fahrungen des Organismus in dieser Situation zurückgeht…“8. In der Pädagogischen Psychologie wird zunehmend eine konstruktivisti- sche Lehr- und Lernphilosophie vertreten. Im Unterschied zu einer traditio- nellen Lernauffassung, welche davon ausgeht, dass Wissen wie ein Ge- genstand vom Lehrenden zum Lernenden transportiert werden kann, geht die konstruktivistische Sichtweise davon aus, dass Lernen ein selbstge- steuerter Prozess ist. Der Lernende muss aktiv sein Wissen konstruieren, welches in Abhängigkeit zu seinem Vorwissen, seiner Erfahrung und sei- nen Überzeugungen steht.9
Nach Mandl und Reinmann-Rothmeier ist Lernen ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer und sozialer Prozess.
Lernen als ein aktiver Prozess bedeutet, dass der Lernende selbst aktiv werden muss. Voraussetzung ist das Interesse am Lernprozess oder am Gegenstand bzw. eine vorhandene Lernmotivation.
Lernen erfordert ein Mindestmaß an Selbstbeteiligung. Wie ausgeprägt der Selbststeuerungsanteil explizit ist, hängt von der Lernsituation und -umgebung ab.
Lernen als konstruktiver Prozess setzt voraus, dass das neue Wissen in die vorhandene Wissensstruktur integriert und durch die vorhandenen Erfahrungen interpretiert werden kann.
Da die Wissenskonstruktion in bestimmten Kontexten stattfindet und auch nicht ohne weiteres auf andere Zusammenhänge übertragen werden kann, ist Lernen situativ.
Lernen ist ein individueller Konstruktionsprozess, welcher unter soziokultu- rellen Bedingungen stattfindet, daher ist Lernen auch ein sozialer Pro- zess.10
Lernen ist ein aktiver Prozess, welcher in Abhängigkeit zu Lernmotivation, Selbststeuerung und Vorwissen steht. Dieser Prozess ist nicht direkt beob- achtbar, es ist nur möglich über das veränderte Verhalten einer Person in einer bestimmten Situation Rückschlüsse auf den Lernprozess zu ziehen.
Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff selbstgesteuertes Lernen, dass der Lernende die essentiellen Entscheidungen über Ziele, Inhalte und Vorgehensweisen des Lernens selbst festlegen kann.11
Eine einheitliche Definition existiert nicht, vielmehr kursieren unterschiedli- che, mehr oder weniger synonyme, Bezeichnungen, für welche es eben- falls keine eindeutige begriffliche Klärung gibt. Neben selbstgesteuertem Lernen wird auch von selbstorganisiertem, selbstständigem, autonomem Lernen gesprochen.
In der Diskussion um den Begriff des selbstgesteuerten Lernens kommt auch oft der Begriff der Fremdsteuerung ins Spiel. Unter Fremdsteuerung versteht man in der Regel extrem von außen gestaltete Rahmenbedingun- gen der Lernprozesse. Viele Autoren, wie beispielsweise Stephan Dietrich, verstehen den Lernprozess als ein Kontinuum zwischen Selbst- und Fremdsteuerung. Wobei die Freiheitsgrade bezüglich der Selbststeuerung im individuellen Lernprozess stark variieren können, je nachdem, inwieweit der Lernende die Möglichkeit hat, seine Ziele, Lerninhalte, Lernmethoden oder Lernzeiten selbst festzulegen.12
Andere Autoren gehen davon aus, dass Lernen immer selbstgesteuert ist. Nach dem Konstruktivismus erfolgen Wahrnehmen, Denken und Lernen im Kontakt mit der Umwelt als autopoietischer, selbstreferenzieller Vorgang. Lernprozesse können daher von außen allenfalls angeregt werden, das Lernen an sich findet aber immer im Individuum selbst statt, indem es be- stimmte Informationen für wichtig erachtet und mit seiner biographischen Struktur verknüpft.13
Ähnlich versteht auch Walter Dürr selbstgesteuertes Lernen. Er postuliert, dass selbstgesteuertes Lernen ein komplexer, immer subjektiver Vorgang ist, welcher sich sowohl auf formelles als auch auf informelles Lernen be- zieht. Im Gegensatz zum Konstruktivismus, welcher bei der Beschreibung von Phänomenen des selbstgesteuerten Lernens stehen bleibt, geht Walter Dürr einen Schritt weiter, indem er die Phänomene mit Hilfe der Theorie der Selbstorganisation erklärt. Selbststeuerung wird in diesem Sinne durch Gesetzmäßigkeiten erklärt. Die wahrnehmbare Gestalt ist Ausdruck der Gesetzmäßigkeit, welche im Zusammenspiel von Kohärenz und Korres- pondenz zu finden ist. „Es ist die Kraft der Selbststabilisierung, die bei ge- eigneten Rahmenbedingungen (Korrespondenz) und wechselseitiger Ent- sprechung der Praktiken, Funktionen und der Struktur (Kohärenz) aus dem inneren Gefüge selbst entsteht.“14 Auf die Theorie der Selbstorganisation wird in Kapitel 3.2. näher eingegangen.
2.2 Motivation und Lernmotivation
Über den Terminus Motivation kann man vielfältige Definitionen und zahl- reiche theoretische Ansätze finden. Eine allgemeingültige Begriffsbestim- mung zur Motivation ist vermutlich nicht vorhanden, da die vielfachen Ver- ständnisweisen und Deutungsmuster in Abhängigkeit zu dem wissenschaft- lichen Ansatz stehen, welcher dem jeweiligen Motivationskonzept zu Grun- de liegt.15
Grundsätzlich kann man jedoch sagen, dass die Motivationsforschung nach dem Zweck, dem Ziel menschlichen Handelns einerseits und nach dem Ursprung aller Strebungen andererseits fragt. Das gemeinsame Anliegen der verschiedenen Motivationstheorien ist, nach dem Zweck und dem An- trieb menschlichen Verhaltens zu fragen, es zu verstehen und zu erklären. Demnach steht allgemein die Frage nach dem Warum des menschlichen
Handelns im Vordergrund. Menschliches Handeln ist in der Regel ein ziel- gerichtetes, daher ist es möglich, auf hinter den Handlungen stehende Mo- tive zu schließen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass der wissenschaftli- che Motivationsbegriff ein Kunstbegriff ist, ein hypothetisches Konstrukt: Motive sind nicht direkt beobachtbar, man kann jedoch aufgrund der beob- achtbaren Handlungen auf gewisse Motive des Akteurs schließen.16
Prinzipiell existieren zwei Möglichkeiten, die den Handlungen zugrunde liegenden Ursachen näher zu bestimmen. Entweder wird der Handlungsgrund im Individuum selbst gesucht und Motive ergeben sich aus Bedürfnissen, Wünschen oder Wertvorstellungen des Individuums, oder es werden Bezugspunkte aus der Umwelt herangezogen, von denen Handlungsanreize ausgehen die für den Handelnden so motivierend sind, dass er sich dem entsprechenden Objekt zuwendet.
Das Verhältnis eines bestimmten Person-Umwelt-Bezuges spielt in den verschiedenen Motivationstheorien eine Rolle, da anzunehmen ist, dass die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt das Entscheidende für den Handlungsverlauf, für den gewünschten Zielzustand darstellt. Die einzelnen Theorien unterscheiden sich jedoch darin, ob sie dem Inneren der Person oder der Umwelt einen stärkeren Einfluss auf das Verhalten zuschreiben.17 Einer der ersten und einflussreichsten Versuche Motivation zu verstehen, ist auf Sigmund Freud zurückzuführen. Nach seiner Triebkonzeption „ha- ben angeborene psychische Signale (Motive), die durch biologische Be- dürfnisse ausgelöst werden, die Funktion, das Überleben des Individuums zu sichern. Sie setzen Verhaltensweisen in Gang, die zur Verkleinerung oder zum Verschwinden des Motivs […] führen.“18 Freuds Konzept ist ein organismisches, bei ihm steht demnach das Individuum selbst mit seinen angeborenen Trieben im Mittelpunkt.
Demgegenüber betrachtet Heinz Heckhausen das Individuum in seinem gesamten Lebensraum. Er definiert Motivation als „Wirkungsgefüge vieler Faktoren eines gegebenen Person-Umwelt-Bezuges, die das Erleben und Verhalten auf Ziele richten und steuern“.19 Folglich ist Heckhausens Kon- zept systemtheoretisch bzw. dialektisch. Er geht von einer aktiven, sich verändernden Person in einer sich ständig wandelnden Umwelt aus.
Da es schwer, wenn nicht unmöglich ist, Motivation ohne theoretischen Rahmen eindeutig zu definieren, wird der Begriff Lernmotivation, insbeson- dere die intrinsische Motivation, im Folgenden spezifischer beleuchtet.
3 Lernen und Lernmotivation in der Theorie
3.1 Lernmotivation im Fokus intrinsischer und extrinsischer Motivationstheorien
Bei der Definitionsbeschreibung der intrinsischen Motivation kann man ebenfalls zahlreiche Auslegungen finden. Verschiedene Auffassungen sind ebenso bezüglich der Erklärung des Auftretens intrinsischer Motivation vor- handen.20
Die Motivation zum Lernen kann aus verschiedensten Gründen zustande kommen.
Bei manchen Lernenden kann man die Motivation auf Handlungskonse- quenzen zurückführen, wie zum Beispiel Anerkennung im Freundeskreis. Bei anderen kann man einen großen Lernaufwand erkennen, ohne äußere erkennbare Gründe zu sehen. Hier scheint der Lernprozess selbst die Mo- tivation auszulösen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die meisten Lernenden mehr als nur eine Form der Lernmotivation besitzen, oft ist ne- ben dem Interesse am Lernstoff auch eine Handlungskonsequenz von Be- deutung.
Grundsätzlich ist jede Art der Lernmotivation auf intrinsische und/oder extrinsische Faktoren zurückzuführen. Wird eine Lernhandlung um ihrer selbst willen, weil die Tätigkeit selbst als spannend oder interessant emp- funden wird, durchgeführt, spricht man von intrinsischer Motivation. Intrin- sisch motivierte Handlungen machen Spaß und der Prozess an sich ist das befriedigende Moment. Extrinsische Motivation liegt dann vor, wenn das Individuum handelt, um negative Konsequenzen zu vermeiden oder um positive Konsequenzen zu erreichen. In diesem Fall ist man bestrebt die Tätigkeit schnell zu Ende zu bringen, da erst im Ergebnis der Handlung, ihrem Produkt, die Befriedigung liegt, wie beispielsweise die Anerkennung der Freunde.21
Die intrinsische Motivation kann mit der Aktivität selbst oder mit dem Ge- genstand der Handlung in Verbindung gebracht werden. Folglich kann die intrinsische Motivation auf eine bestimmte Aktivität (z.B. Lesen) oder aber auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet sein (Buch über Künstler).
Demzufolge kann man zwischen einer tätigkeitszentrierten und einer ge- genstandszentrierten intrinsischen Motivation unterscheiden. Es ist jedoch zu beachten, dass intrinsische und extrinsische Motivation parallel vorhanden sein können. Man kann beispielsweise einen Englisch- kurs besuchen, da man Spaß an der Sprache hat (intrinsisch motiviert), diese aber auch auf Reisen anwenden möchte (extrinsisch motiviert).
Eine neuere Konzeption, die versucht intrinsisch motiviertes Handeln zu erklären, stellt die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan dar. Diese Theorie ist sowohl eine organismische als auch eine dialektische Theorie des menschlichen Handelns. Sie ist organismisch, da dem im Zent- rum stehenden Selbst angeborene psychologische Bedürfnisse, grundle- gende Fähigkeiten und Interessen zugeschrieben werden. Dialektisch ist die Selbstbestimmungstheorie, da davon ausgegangen wird, dass sich die Struktur des Selbst im Laufe seines Lebens, durch die Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt erweitern und verfeinern kann.22 Im Sinne die- ser Theorie gelten Menschen dann als motiviert, wenn sie durch ihr Verhal- ten ein bestimmtes Ziel erreichen möchten. Das motivierte Verhalten geht direkt von der Person aus und kann sich auf eine unmittelbar befriedigende Erfahrung oder auf ein längerfristiges Ziel richten.
Deci und Ryan versuchen eine umfassende Theorie zu entwickeln, indem sie verschiedene Ansätze in einer Theorie vereinen. Sie beziehen sich zum einen auf das Konzept der Wirksamkeitsmotivation von White. Dieses geht davon aus, dass das motivierende Gefühl der Wirksamkeit Kompetenzstei- gerungen nach sich zieht, aus welcher sich wiederum spezifische Motive entwickeln.23 Zum andern integrierten sie in ihrer Theorie den Ansatz von deCharms, welcher postuliert, dass die primäre Motivation von Individuen darin besteht, sich selbst als Verursacher von Änderungen in ihrer Umwelt zu erleben.24 Deci und Ryan gehen infolgedessen davon aus, dass in je- dem Individuum Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmung, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit existieren. Die Erfüllung dieser drei Grund- bedürfnisse spielt eine entscheidende Rolle für die Entstehung subjektiver Ziele, Interessen und Motive. Erst mittels dieser Grundbedürfnisse ist es nach den Autoren möglich zu erklären, weshalb Individuen ohne erkennba- ren äußeren Beweggrund sich in Situationen begeben, durch welche ihre Fähigkeiten gefordert werden. Demnach kann ein Individuum nur intrinsisch motiviert handeln, wenn es sich als kompetent und selbstbestimmt erlebt. Durch das Kompetenzbedürfnis suchen und bewältigen Individuen Hand- lungsanforderungen, die optimal auf ihre Fähigkeiten abgestimmt sind. Dies allein erklärt nach Deci und Ryan jedoch nicht intrinsisch motiviertes Han- deln, da solche Handlungen nicht zwangsläufig ihrer selbst willen durchge- führt werden. Das Bedürfnis selbstbestimmt handeln zu können, ist ebenso von zentraler Bedeutung. Um eine Handlung intrinsisch motiviert ausführen zu können, muss das Individuum frei von äußerem und innerem Druck sein und muss sich selbst als Motor seines Handelns erleben.25
Deci und Ryan nehmen an, „daß der Mensch die angeborene motivationale Tendenz hat, sich mit anderen Personen in einem sozialen Milieu verbun- den zu fühlen, in diesem Milieu effektiv zu wirken (zu funktionieren) und sich dabei persönlich autonom und initiativ zu erfahren“26. Nach der Theorie der Selbstbestimmung haben auch Umwelten Einfluss auf die Selbstbestimmung und das Kompetenzgefühl. Umwelten, welche informierend auf die Initiativen des Individuums eingehen, fördern intrinsi- sche Motivation, während kontrollierende Umwelten oder Handlungen, wel- che als aufgezwungen erlebt werden, extrinsisches motivationales Verhal- ten begünstigen.27 Umweltfaktoren, welche die Bedürfnisse nach Autono- mie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit befriedigen, können das Auftreten intrinsicher Motivation erleichtern.28
Anfänglich wurden intrinsische und extrinsische Motivation als Gegensatz- paar verstanden, die Autoren gingen von der Annahme aus, dass eine extrinsische Belohnung, wie Geld, intrinsische Motivation abnehmen lässt. Dies wurde jedoch durch zahlreiche Studien widerlegt, so dass inzwischen angenommen wird, dass durch extrinsische Mittel durchaus intrinsische Verhaltensweisen gefördert werden können. Zudem erkannte man, dass extrinsisches Verhalten auch selbstbestimmt sein kann, denn durch das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit können Individuen fremdgesetzte Verhaltensstandards übernehmen. Deci und Ryan unterscheiden vier Ebe- nen der extrinsischen Verhaltensregulation, welche von einer völligen Fremdbestimmung bis zu einem hohen Grad an Selbstbestimmung rei- chen.
Externale Regulation: Verhaltensweisen, die sich auf dieser Ebe- ne abspielen, sind von außen reguliert und das Individuum hat kei- nen direkten Einfluss darauf. Eine Handlung wird beispielsweise ausgeführt, um einer Bestrafung zu entgehen. Diese Verhaltens- weisen sind weder autonom noch freiwilligen Ursprungs. Introjizierte Regulation: Verhaltensweisen, die hierzu zählen, sind durch interne Anstöße oder durch inneren Druck verursacht. Es wird zwar kein äußerer Druck mehr benötigt, die Handlungen werden aber aufgrund eines schlechten Gewissens oder „weil es sich so gehört“ ausgeführt.
Identifizierte Regulation: Handlungen, welche dieser Ebene zuzu- ordnen sind, werden ausgeführt, da die ursprünglich äußeren Ziele oder Werte der Handlung als persönlich bedeutsam erachtet wer- den, in das Selbstbild integriert sind und sich die handelnde Person damit identifizieren kann. Beispielsweise lernt ein Schüler für das Abitur, weil er ein bestimmtes, selbst gewähltes Studium anstrebt.
Integrierte Regulation: Auf dieser Ebene hat das Individuum Ziele und Handlungsstrategien, mit welchen es sich identifiziert, in sein kohärentes Selbstkonzept integriert. Dies trifft zu, wenn beispiels- weise das Ziel sich beruflich weiterzubilden, mit den Zielen in ande- ren Lebensbereichen abgestimmt ist, wenn also das gesetzte Ziel mit den anderen Aspekten des Selbst harmoniert. Diese Form der extrinsischen Motivation ist jene mit dem höchsten Grad an Selbst- bestimmung und steht am Ende des Internalisierungsgeschehens.29 „Nach einem Anfangsstadium gänzlicher Fremdsteuerung (externale Regu-lation) sollen solche Standards gemäß eines übergeordneten Prinzips der Selbstintegration über die Stadien der ‚introjizierten’, der ‚identifizierten’ und schließlich der ‚integrierten Regulation’ so sehr in das eigene Selbst einge-baut werden, dass am Ende die ursprüngliche Fremdbestimmung kaum mehr von einer genuinen Selbstbestimmung unterscheidbar ist.“30 Dennoch wird diese Form der erlebten Selbstbestimmung als extrinsisch charakteri-siert. Auch dieser Prozess der Internalisierung extrinsischer Motivation kann durch die Umwelt beeinflusst werden. Es konnte nachgewiesen wer-den, dass autonomieunterstützende Maßnahmen Einfluss auf die Selbst-ständigkeit haben.31
Nach Deci und Ryan ist effektives Lernen nur durch ein vom individuellen Selbst ausgehendes Engagement möglich, das heißt effektives Lernen ist auf ein Mindestmaß an intrinsischer Motivation angewiesen. Durch Studien kamen sie zu dem Ergebnis, dass intrinsische Lernmotivation, im Sinne von Interesse am Lernobjekt, eine zentrale Bedingung für effektives Lernen darstellt.32 Ähnlich sieht das auch Horst Siebert, welcher annimmt, dass ein nachhaltiger Lernprozess nur dann möglich ist, wenn ein Minimum an in- trinsischer Motivation vorhanden ist.33
Allerdings ist zu diesem Konzept kritisch anzumerken, weshalb die Autoren gerade bzw. nur von den Grundbedürfnissen nach Selbstbestimmung, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit ausgehen, welche eine Hand- lung der Art reizvoll erscheinen lassen, dass man sie ohne Nutzen oder Zwang ausführt. Es erscheint fraglich, ob nicht noch weitere Bedürfnisse zur Klärung des Auftretens intrinsischer Motivation herangezogen werden sollten, wie beispielsweise das Bedürfnis nach emotionalem Wohlbefinden.
3.1.1 Die Bedeutung der Ziele und Inhalte im Motivations- geschehen
Die zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung ist nach dem Lernpsycho- logen Andreas Krapp, eine lebenslange Bereitschaft zur selbstständigen Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen zu fördern. Er postuliert, dass in unserer modernen Gesellschaft Lernmotivation im Sinne von lebenslan- ger Bildungsbereitschaft eine ‚Schlüsselqualifikation’ geworden ist.34 Bereits in der allgemeinen Definition zum selbstgesteuerten Lernen wurde sichtbar, dass Lernziele und -inhalte eine entscheidende Rolle für die Selbststeuerung des Lernverhaltens spielen. Die Ziele und die inhaltliche Ausrichtung haben bezüglich einer selbstgesteuerten Lernmotivation eine zentrale Bedeutung. Dies ist nach Andreas Krapp ein Aspekt, welcher in der Selbstbestimmungstheorie vernachlässigt wird.35 Um eine solche selbstgesteuerte Lernmotivation adäquat erklären zu können, muss man auch Forschungsansätze berücksichtigen, welche sich verstärkt mit Ziel- und Inhaltsaspekten der Lernmotivation befassen.
Zielorientierungstheorien
Verschiedene Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass Lernende sich an unterschiedlichen Zielkatalogen orientieren und dass diese motivationalen Orientierungen einen starken Einfluss auf die Lernergebnisse haben. Prinzipiell kann man zwischen Aufgaben- vs. Ego-Orientierung oder Lernziel- vs. Leistungszielorientierung unterscheiden.
Lernende mit einer Aufgaben- oder Lernzielorientierung verstehen die Lernsituation als Möglichkeit ihr Wissen zu verbessern und möchten den Lerngegenstand wirklich verstehen. Eine derart motivierte Person ist an der Sache selbst interessiert „und versucht durch eine ‚intrinsisch’ motivierte Bearbeitung der Lernaufgaben seine Kompetenzen zu steigern.“36 Im Gegensatz dazu sind Personen mit einer Ego- oder Leistungszielorientierung vor allem am Resultat ihrer Lernhandlung interessiert.
Werden die verschieden Orientierungen in Bezug auf Lernen und Leistung untersucht, kann man feststellen, dass die gewonnenen Ergebnisse von den Kriterien, unter denen Lernerfolg gemessen wird, abhängig sind. Bei- spielsweise hat sich gezeigt, dass unter dem Kriterium ‚Schulnote’ kaum ein erkennbarer Unterschied zu Tage kommt. Wurde jedoch der Lernerfolg unter Bewertungskriterien wie Tiefe der Informationsverarbeitung oder Lerntransfer auf andere Situationen geprüft, konnte man feststellen, dass diejenigen mit einer Lernzielorientierung größere Erfolge aufzuweisen hat- ten.37
Interessentheorie
Der Begriff ‚Interesse’ bezeichnet eine Kategorie, welche sich auf bestimmte Lerninhalte oder Lerngegenstände richtet. Charakteristisch ist für eine auf Interesse beruhenden Motivation, dass sie eine Gegenstandsspezifität aufweisen kann. Eine Person ist also an einem bestimmten Gegenstand interessiert, identifiziert sich damit vorübergehend oder dauerhaft und bewertet diesen Gegenstand daher als persönlich bedeutsam. Die Person möchte ihre Kenntnisse in diesem Bereich ausbauen und erlebt den Wissenszuwachs als persönlichen Gewinn. Interesse wird als Grundlage für das Auftreten intrinsischer Motivation verstanden.
„Das zentrale Kennzeichen von Interesse ist die geglückte Verbindung von emotionalen und wertbezogenen Merkmalskomponenten.“38 Wenn die Aus- führung mit einem Interessengegenstand positive Gefühle weckt, ist dies ein Anzeichen für eine emotionale Merkmalskomponente. Die Wertkomponente des Interesses drückt aus, dass der Lerngegenstand und die inhaltliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand eine besondere subjektive Bedeutung für die Person hat.
Zudem wird in der Literatur häufig zwischen situationalen und individuellen Interessen unterschieden. Interesse wird als situativ aufgefasst, wenn eine aktuelle Situation Interesse auslöst. Dagegen wird individuelles Interesse als situationsübergreifender motivationaler Zustand verstanden, welchem durch seine relative Zeitstabilität der Status eines Personenmerkmals zu- kommt.
Auf die Selbstbestimmungstheorie stützen sich einige theoretische Vermu- tungen, welche der Frage nach der Entstehung und Veränderung von Inte- ressen nachgehen. Insbesondere die Annahme, dass den sogenannten Grundbedürfnissen eine zentrale Steuerungsfunktion zukommt, wurde da- für häufig herangezogen. Dieser Gedanke wurde um zwei Steuerungsebe- nen erweitert, die Ebene der Handlungs- und die der Entwicklungssteue- rung. Die Ebene der Handlungssteuerung bezieht sich auf kognitiv- rationale Prozesse der bewusst gesteuerten Handlungskontrolle. Die ande- re Ebene, die der Entwicklungssteuerung, betrifft Prozesse, welche der bewusst-rationalen Kontrolle temporär oder dauerhaft entzogen sind. Hier- bei spielen in erster Linie Faktoren eine Rolle, die man als emotionale Erle- bensqualität erfährt.
Ein positiver Einfluss von Interesse auf das Lernen und die Leistung wird deutlich, „wenn man qualitative Kriterien des Lernverhaltens und des Lern- erfolgs heranzieht wie etwa die ‚Tiefgründigkeit’ des Textverstehens oder die Art der Verankerung des neu Gelernten in bereits vorhandene Wis- sensstrukturen.“39
Nach Andreas Krapp hat eine auf Interessen beruhende Lernmotivation eine vergleichsweise hohe Beständigkeit: Der Lernprozess ist in einem hohen Maß selbstgesteuert und bedarf kaum der Anregung von der Um- welt.
Zahlreiche Forschungsergebnisse belegen, „dass bestimmte Arten der Zielorientierung und eine auf Interesse und Selbstbestimmung beruhende Lernmotivation in mehrfacher Hinsicht positive und hochgradig erwünschte Auswirkungen auf das Lernverhalten und die Ergebnisse des Lernens hat. Personen mit einer günstigen motivationalen Struktur sind eher bereit, sich dauerhaft und freiwillig mit neuen Lerninhalten auseinander zu setzen.“40
3.2 Lernen und Lernmotivation aus der Sichtweise der Theorie der Selbstorganisation
3.2.1 Zentrale Aspekte der Theorie der Selbstorganisation
Für den Begriff der Selbstorganisation hat keine allgemeingültige Definition. Da dieser Begriff in unterschiedlichsten Disziplinen Einzug gefunden hat, existieren unterschiedliche Auffassungen. Grundsätzlich kann man jedoch festhalten: „Systeme können unter bestimmten Randbedingungen durch- aus aus sich heraus, ‚selbstorganisiert’, neue Strukturen entwickeln, sich verändern und nicht nur einmal gefundene Strukturen stabilisieren.“41
Die Theorie der Selbstorganisation stützt sich auf Erkenntnisse aus der Quantentheorie. Die Quantentheorie und damit auch die Theorie der Selbstorganisation weist einen hohen Allgemeinheitsgrad auf und kann somit auf unterschiedlichste Forschungsbereiche übertragen werden.42 Die Theorie der Selbstorganisation nach Prof. Dr. Walter Dürr ist eine ‚nichtklassische’ Interpretation der Quantentheorie. Als ‚nichtklassisch’ wird die Theorie verstanden, weil sie davon ausgeht, dass es allenfalls möglich ist, aus bereits bekannten Fakten Wahrscheinlichkeitsaussagen über zu- künftige Ereignisse zu treffen. Es sind jedoch keine eindeutigen Aussagen über Ereignisse in der Zukunft möglich. Zu beachten ist jedoch, dass sich Wahrscheinlichkeiten durch neue Informationen verändern können.43 „Die Quantentheorie ist eine Theorie menschlichen Wissens über Gegenstände in der Zeit.“44 Demnach ist Wissen immer ein zeitliches Wissen, da der Mensch als endliches Wesen auch nur über endliches Wissen verfügen kann.45 Die Fakten, welche man zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer Gestalt beobachtet, vermitteln nur endliches Wissen, denn das Wissen ändert sich durch künftige Beobachtungen und die dadurch erworbenen neuen Fakten.46
Eine weitere bedeutende Erkenntnis, welche auf die Quantentheorie zu- rückgeführt werden kann, ist das subjektiv-objektive Verständnis von Wis- sen. Alles Wissen wird als subjektiv angesehen, da es in Abhängigkeit zum Vorwissen steht. Wissen wird aber auch als etwas Objektives verstanden, da Individuen mit dem gleichen Vorwissen zu identischen Erkenntnisse gelangen werden.47
Im Forschungsprozess, im Sinne dieser Theorie, werden nicht isolierte Va- riablen betrachtet, sondern die Gestalt wird als Ganzes beobachtet. Eine Gestalt kann ein einzelnes Individuum sein, aber auch ein größeres System wie eine Organisation oder eine Institution. Da in dieser Arbeit das Indivi- duum im Zentrum steht, wird im Folgenden nicht ausführlicher auf größere Systeme eingegangen. Im Fokus der Betrachtung steht die gesamte wahr- nehmbare Gestalt mit ihren Merkmalen, also ihren Phänomenen. Die durch Interviews erfassten und in Protokollen festgehaltenen Phänomene werden nicht als isolierte Sinneswahrnehmungen verstanden, sondern die Situation wird als Ganzes betrachtet, da dadurch die einzelnen „Sinneseindrücke erst eine mittelbare Bedeutung bekommen“.48
Die Theorie der Selbstorganisation fragt „nach den Bedingungen für die Möglichkeiten der Selbststabilisierung von Gestalten in der Zeit“49. Die Theorie leistet einen Beitrag, um das Entstehen und Vergehen stabiler und sich selbst stabilisierender Gestalten zu erklären. Es wird im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker davon ausgegangen, dass Evolution vorwiegend nicht kontinuierlich verläuft, sondern in einem Wechsel von stabilen lang- anhaltenden Ebenen und Krisen, unter denen rasche Änderungen und Ful- gurationen50 zu verstehen sind. Weizsäcker beschreibt, dass dieses Phä- nomen nicht nur in der biologischen Evolution zu finden ist, sondern allge- meines Verhalten komplexer, sich mit der Zeit verändernder Systeme ist, und somit auch auf Individuen übertragen werden kann.51 Mit Hilfe des Forschungsvorgehens im Sinne der Theorie der Selbstorgani- sation kann man folglich Schlüsse über die Selbststabilisierung einer Ges- talt ziehen und erfassen, ob sich diese in einer Krise oder in einer stabilen Phase befindet. Wobei unter dem Terminus Krise nicht etwas grundsätzlich Negatives verstanden werden darf. Eine unstabile Phase wird prinzipiell als Chance verstanden und kann genutzt werden, um in eine neue differenzier- tere stabile Phase zu gelangen. Das Individuum hat die Möglichkeit mit veränderten Handlungsweisen, Funktionen oder veränderter Struktur sich erneut zu stabilisieren und erfolgreich zu sein.52
Abbildung 1: Modell der Theorie der Selbstorganisation (Dürr, Walter 1998, S. 19)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Theorie der Selbstorganisation vereinigt die Gedanken der Synergetik Hermann Hakens und die Gedanken von Weizsäcker. In Anlehnung an die Synergetik sieht die Theorie der Selbstorganisation nach Dürr eine Kraft der Selbststabilisierung, einen Ordner bzw. einen Ordnungsparameter dann, wenn sich eine Gestalt in einer stabilen Phase befindet und folglich eine Kohärenz zu erkennen ist. Nach von Weizsäcker ist für die Kraft der Selbststabilisierung eine Korrespondenz von Bedeutung. Denn: „Jedes stabile Ergebnis einer Fulguration muß eine ihm eigene Kraft der Selbststabilisierung haben, eine Korrespondenz seiner inneren Struktur zu den äußeren Bedingungen seiner Existenz“53.
Um erkennen zu können, ob sich eine Gestalt in einer stabilen oder unsta- bilen Phase befindet, sind jedoch einige Auswertungsschritte unerlässlich. Zu Beginn des Forschungsprozesses im Sinne der Theorie der Selbstorga- nisation stehen Interviews, durch welche Phänomene sichtbar werden. Da- durch ist die Möglichkeit gegeben, diese Phänomene in Protokollen diffe- renziert und in spontaner Sprache festzuhalten. Aus den dokumentierten Phänomenen lassen sich Praktiken erkennen, welche für die Selbststabili- sierung bedeutsam sind. Unter Praktiken werden alle Handlungsweisen verstanden, welche das Individuum über einen längeren Zeitraum bzw. gegenwärtig verwendet. Den wahrgenommenen Praktiken kann man Funk- tionen zuordnen, durch welche der Sinn der Handlung verdeutlicht wird. Im Anschluss wird die Struktur ermittelt, durch die dem Individuum die Prakti- ken und Funktionen ermöglicht werden. Stehen alle drei Aspekte (Prakti- ken, Funktion und Struktur eines Individuums) in Einklang, bedingen sie sich wechselseitig, und eine Kohärenz ist vorhanden.54
Zwischen den Aspekten Praktiken, Funktionen und Struktur wird keine Gewichtung vorgenommen, es besteht demnach keine Unter- oder Überordnung der Aspekte.55
Um Aussagen über eine vorhandene oder nicht-vorhande Korrespondenz machen zu können, müssen die Rahmenbedingungen des untersuchten Systems berücksichtigt werden. Besteht zwischen dem beobachteten Sys- tem und den Rahmenbedingungen eine wechselseitige Beziehung, die sich durch die Fähigkeit der Anpassung oder Beeinflussung zeigt und zur Selbststabilisierung beiträgt, ist eine Korrespondenz feststellbar.
Ist sowohl Kohärenz als auch Korrespondenz erkennbar, befindet sich das untersuchte System in einer stabilen Phase. Die Aufrechterhaltung bzw. die Wiederherstellung der Ordnungsparameter Kohärenz und Korrespondenz ist ständige Aufgabe des Individuums und kann als Erfolgskriterium ange- sehen werden. Im Fall einer fehlenden Kohärenz und/oder fehlenden Korrespondenz ist dies als Anzeichen einer Krise zu bewerten.56
Durch die im Sinne der Theorie der Selbstorganisation ermittelten Fakten ist es nun möglich, Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Ereignis- se anzugeben, welche wiederum als Grundlage für Gestaltungsempfehlun- gen dienen können.
3.2.2 Lernen und Lernmotivation - Erstmaligkeit und Bestätigung
Der Begriff der Erfahrung spielt beim Lernen eine bedeutende Rolle, denn beim Lernen geht es „um die Kennzeichnung von Änderungen (nicht wie beim Erziehungsbegriff um Verbesserungen) menschlicher Verhaltensdis- positionen, die durch Verarbeitung von Erfahrung erklärt werden können.“57 Erfahrung bedeutet für Carl Friedrich von Weizsäcker, aus der Vergangen- heit (Faktum) für die Zukunft (Möglichkeit) zu lernen. Wenn vergangene Fakten nicht vergehen, sondern in die gegenwärtigen Fakten integriert wer- den, vermehrt sich die Menge der Fakten und somit auch die Menge der gegenwärtigen Möglichkeiten.58 Für das Lernen heißt das, vergangene Er- fahrungen bzw. bereits Gelerntes für gegenwärtige oder künftige Lernpro- zesse zu nutzen und Neues in bereits Bekanntes zu integrieren.
„Für Lernvorgänge ist es geradezu kennzeichnend: sie setzten ja voraus, dass das Neue, welches einen Erkenntnis- oder Erfahrungsgewinn bedeutet, sich in schon vorhandenes Wissen, in vorhandene Erfahrung - wenigstens zu einem Teil - einfügt oder dies in Frage stellt, bzw. ersetzt, wenn es verstanden werden soll.“59
Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker beschreiben das Phänomen Lernen als eine optimale Mischung von Erstmaligkeit und Bestätigung. Rei- ne Erstmaligkeit steht für Chaos bzw. Unordnung und reine Bestätigung bedeutet Stagnation bzw. Ordnung. Erstmaligkeit liegt dann vor, wenn et- was zum ersten Mal zur Kenntnis genommen wurde, sobald aber bei- spielsweise bekannt ist, wer oder wo der Empfänger ist, enthält das schein- bar unbekannte Ereignis auch Bestätigung. Wenn Nachrichten vom Indivi- duum als sinnvoll erkannt werden, ist dies eine Bestätigung für vorhandene Verständnisstrukturen. Zudem können durch Wiederholungen inhaltliche Einzelheiten im Empfänger bestätigt werden.
Allerdings steckt auch in jeder Wiederholung eines Ereignisses zumindest ein bisschen Erstmaligkeit, da es sich um eine neue historische Situation handelt.60
Jede Information61 enthält sowohl Erstmaligkeit als auch Bestätigung, denn erst durch ein Mindestmaß an Bestätigung ist es dem Empfänger möglich, die hereinkommenden Eindrücke in sein Vorwissen zu integrieren und die darin enthaltene Erstmaligkeit zu lebender Information werden zu lassen. „Erst die Bestätigung gibt der Erstmaligkeit Realität.“62 Ebenso ist ein Mini- mum an Erstmaligkeit von Bedeutung, da reine Bestätigung nichts Neues enthält und somit kein Lernen stattfinden kann. Das heißt, in Informationen, Ereignissen oder Dingen darf weder Erstmaligkeit noch Bestätigung völlig fehlen oder alles umfassen. Um zu lernen, muss sich demzufolge etwas Neues bemerkbar machen, welches der Empfänger mit seinen Erfahrungen und seinem Vorwissen verbinden kann.63
Lernen bedeutet im Lichte der Theorie der Selbstorganisation, dass sich ein unbewusster Aufbau von Lerngestalten vollzieht, wobei bereits beste- hende Lerngestalten unterstützend wirken. Jedes Individuum hat sich mit- tels seiner Erfahrungen während seiner gesamten Biographie Lerngestal- ten aufgebaut, welche prägend für seine Fähigkeiten, Einstellungen und Denkweisen sind. Die Gestaltbildung erfolgt nach einer Gesetzmäßigkeit, welche sowohl in der organischen als auch der anorganischen Natur anzu- treffen ist. Diese Gesetzmäßigkeit ist im Zusammenspiel von Kohärenz und Korrespondenz zu finden.
Im Sinne Carl Friedrich von Weizsäcker versteht die Theorie der Selbstor- ganisation, wie bereits erwähnt, einen Wechsel von stabilen Ebenen und Krisen als einen allgemeinen Zug des Geschehens in der Zeit. Dies ist auch für Lernprozesse kennzeichnend. „Eine stabile Wissensgestalt kann dann geändert werden, wenn durch Hinzufügen neuen Wissens ihre Stabili- tät beeinflusst wird, wenn sie also erstmalig mit neuem Wissen konfrontiert wird.“64 Ob eine Lerngestalt, mit einer Information mit einem hohen Anteil an Erstmaligkeit oder einem hohen Anteil an Bestätigung konfrontiert ist, kann man daran erkennen, ob eine Kohärenz vorhanden ist oder nicht. Demnach hat eine Lerngestalt eine große Kraft der Selbststabilisierung, wenn die Information einen hohen Anteil an Bestätigung beinhaltet bzw. keine Kohärenz bedeutet, dass die Information viel Erstmaligkeit besitzt. Des Weiteren spielt auch die Korrespondenz zu den äußeren Bedingungen eine zentrale Rolle. Sie liefert Auskünfte über die Lernumwelt und ermög- licht erst die Selbststabilisierung des Individuums. Daraus kann man letzt- endlich didaktische Konsequenzen sowohl bei der Beurteilung als auch bei der Gestaltung von Lernprozessen ziehen.65
Die Theorie der Selbstorganisation richtet jedoch ihren Fokus auf die Selbststeuerung des Lernenden, denn „die Theorie besagt, dass die Steuerung, d. h. die Herausbildung von Kohärenz und Korrespondenz stets durch das System selbst erfolgt“,66 und Anweisungen, welche von außerhalb an die Struktur herangetragen werden, nicht möglich sind.
Auch die Rahmenbedingungen werden berücksichtigt, da das Umfeld ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Lernen und der Lernmotivation spielt. Das Umfeld entscheidet nach Deci und Ryan, ob man an einen Lerngegenstand eher intrinsisch oder extrinsisch motiviert herangeht. Um- weltfaktoren, welche die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit befriedigen, können das Auftreten intrinsicher Motivation erleichtern. Die intrinsische Motivation ist, gegenüber der extrin- sischen Motivation, nach den Autoren die effektvollere Motivation bezüglich des Lernens. Wobei zu beachten ist, dass nach der Theorie der Selbstor- ganisation eine reine extrinsische Lernmotivation, im Sinne von Deci und Ryan, nicht existieren kann, da, um nachhaltig und erfolgreich zu lernen der Wunsch dazu im Individuum selbst vorhanden sein muss. Es ist jedoch möglich die Rahmenbedingungen des Lernumfeldes so zugestalten, dass der Lernende seine Wünsche oder Interessen und damit seine Ziele entde- cken und setzen kann.
4 Phänomene der (Bildungs-) Aktivitäten und der Selb- stständigkeit von Senioren in Gestaltanalysen
4.1 Forschungsvorgehen mittels der Theorie der Selbstorganisation
Die Datenerhebung im Sinne der Theorie der Selbstorganisation erfolgt mittels teilstrukturierter Interviews. Die Interviews werden offen geführt, indem man nicht konkrete, vorformulierte Fragen stellt, sondern zu relevan- ten Themenbereichen Stichpunkte vorbereitet, so dass nichts Wichtiges vergessen werden kann. Diese Art des Interviews soll die Interviewpartner zum Erzählen animieren, da „eine kommunikative Interaktion, also ein Ge- spräch, notwendig erscheint, um als Wortgemälde dasjenige zu beschrei- ben, was an einer wahrgenommenen Gestalt an Information bei einer be- stimmten Beobachtung gewonnen wurde.“67
Der hier verwendete Interviewleitfaden68 beinhaltet folgende Themenberei- che:
- Persönliche Daten: Geburtsjahr und -ort, Familienstand und Antritt des Ruhestands und die damit verbundenen Emotionen Schulischer und beruflicher Werdegang: Die Art des Schulab- schlusses, Berufsausbildung und berufliche Weiterbildungen
- Bildungsmaßnahmen und Tätigkeiten während des Ruhestan- des: Die Art der besuchten Veranstaltungen sowie die Häufigkeit und Regelmäßigkeit einer Teilnahme, Interessen, Bildungsmaß- nahmen im privaten Kreis und sonstige Aktivitäten (Reisen, Konzer- te, Theater, Kirche etc.)
- Motivation: Hierzu zählen sowohl Beweggründe als auch Hindernisse für eine Bildungsaktivität
- Informationsverhalten: Wie informieren sich die Personen über (Bildungs-) Veranstaltungen, worauf wird Wert gelegt? Lernerfahrungen und Lernverhalten: Welche Lernerfahrungen wurden während der Biographie gesammelt, und wie wird damit umgegangen?
- Soziale Kontakte: Das Verhältnis zu Familie, Freunden, Nachbarn oder sonstigen Personen, zu denen regelmäßiger Kontakt besteht
- Lebenssituation: In diesem Themenbereich wird sowohl auf die Wohnverhältnisse, die Haushaltsführung als auch auf gesundheitliche Probleme und die finanzielle Situation eingegangen
- Abschließend wird die Gelegenheit gegeben Nichtgefragtes hinzuzufügen
Das Interview sollte nicht nur Themenbereiche beinhalten, welche sich auf das aktuelle Bildungsverhalten beziehen, sondern auch das Bildungsver- halten während der Berufstätigkeit mit einschließen. Dies ist von Bedeu- tung, da man aufgrund zahlreicher Studien davon ausgehen kann, dass diejenigen, welche ihr leben lang bildungsaktiv waren, dies auch im Alter fortsetzen.69 Zudem ist die erlebte Bildungserfahrung ein wichtiger Faktor, da nach der Theorie der Selbstorganisation vergangene Erfahrungen ge- genwärtige und zukünftige Lernprozesse beeinflussen können.
Die 20-45 Minuten langen Interviews fanden entweder bei den Interview- partnern zuhause statt oder in öffentlichen Räumen, wie z.B. in einer Be- gegnungsstätte. Unter Zuversicherung von Anonymität waren alle mit einer Tonbandaufnahme einverstanden. Anhand der Tonbandaufnahmen und eines Protokollleidfades70 wurden die Phänomene in Interviewprotokollen dokumentiert. Nach Fertigstellung der Protokolle fand mit jedem Interview- partner ein zweites Treffen statt, um die Protokolle auf Richtigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Die Protokolle stellen die Ausgangsbasis für eine Gestaltanalyse dar. In einem nächsten Schritt wurden die Praktiken, also die Handlungsweisen der Interviewpartner, herausgefiltert, um ihnen im Anschluss Funktionen, also den Sinn, welche die jeweilige Praktik hat, zuzuordnen. Im weiteren Vorgehen wurde für jeden Interviewten eine für ihn charakteristische Struk- tur ausgearbeitet, welche ihm seine Handlungsweisen und die zugeordne- ten Funktionen ermöglichen. Stimmen Praktiken, Funktionen und die jewei- lige Struktur wechselseitig überein, besteht eine Kohärenz und folglich eine Kraft der Selbststabilisierung. Wobei alle drei Aspekte von gleicher Bedeu- tung sind, demnach keine Über- oder Unterordnung besteht.
In einem nächsten Schritt wurden aus dem Interviewprotokoll die Rahmen- bedingungen, in Form von stabilisierenden und beeinträchtigenden Fakto- ren, ermittelt. Stimmen die Rahmenbedingungen, also die äußeren Gege- benheiten, mit der Struktur des Individuums überein, besteht eine Korrespondenz. Das Individuum befindet sich in einer stabilen Phase, also einer Phase, in der es ihm möglich ist, sich selbst zu stabilisieren, wenn sowohl Kohärenz als auch Korrespondenz feststellbar ist.
Im Folgenden wird ein Beispiel für eine Gestaltanalyse dargestellt:
Auswertung des Interviews mit Frau B
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 Siebert, Horst 1996, S.26f
2 Lehr, Ursula 1987, S.92f
3 Lehr, Ursula 1987. S. 218ff
4 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden stets die männliche Form verwendet, außer es handelt sich um eine Gruppe, welche ausschließlich aus Frauen besteht.
5 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1991, S. 96
6 Dürr, Walter 1998, S. 19
7 Faltermaier, Toni/Mayring, Philipp/Saup, Winfried 2002, S. 15ff
8 Bower, Gordon Howard /Hilgard, Ernest Ropiequet 1983, S. 31
9 Mandl, Heinz /Krause, Ulrike-Marie 2001, S. 5
10 Mandl, Heinz /Reinmann-Rothmeier, Gabi 1998, S. 193ff
11 Malwitz-Schütte, Magdalene 2003, ohne Seitenangabe /Dietrich, Stephan 1999, S. 14f
12 Dietrich, Stephan 1999, S. 15
13 Siebert, Horst 2004, ohne Seitenangabe
14 Dürr, Walter 2004, S. V
15 Böwer-Franke, Christa 1975, S. 23
16 Knörzer, Wolfgang 1976, S.14ff /Schlag, Bernhard 2004, S. 12
17 Heckhausen, Heinz 1980, S.24 /Knörzer, Wolfgang 1976, S. 27
18 Knörzer, Wolfgang 1976, S. 27f
19 Heckhausen, Heinz 1965, S. 603
20 Schiefele, Ulrich /Schreyer, Inge 1992, S. 2f
21 Schlag, Bernhard 2004, S. 21
22 Deci, Edward L. /Ryan, Richard M 1993, S. 223
23 Heckhausen, Heinz 1980, S. 608
24 Heckhausen, Heinz 1980, S. 609
25 Schiefele, Ulrich/ Schreyer, Inge 1992, S.5f /Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 225
26 Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 229
27 Prenzel, Manfred 1988, S. 60
28 Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 229f
29 Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 227f
30 Heckhausen, Jutta /Heckhausen, Heinz 2006, S. 334
31 Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 232
32 Deci, Edward/Ryan, Richard 1993, S. 233
33 Siebert, Horst 1996, S. 53
34 Krapp, Andreas 2003, S. 95
35 Krapp, Andreas /Ryan, Richard M. 2002, S. 65
36 Krapp, Andreas /Ryan, Richard M. 2002, S. 68
37 Krapp, Andreas 2003, S. 95
38 Krapp, Andreas /Ryan, Richard M. 2002, S. 69
39 Krapp, Andreas 2003, S. 96
40 Krapp, Andreas 2003, S. 98
41 Von Schlippe, Arist /Schweitzer, Jochen 2003, S. 51
42 Dürr, Walter 1998, S. 4 und S. 19
43 Dürr, Walter 1998, S. 17/ Dürr, Walter 2001, S. 2f
44 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1991, S. 133
45 Dürr, Walter 1995, S. 8
46 Dürr, Walter 1998, S. 4
47 Dürr, Walter 1998, S. 7 und S. 20
48 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1985, S. 508
49 Dürr, Walter 1995, S. 10
50 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1992, S. 393: „Fulgurationen ist ein Terminus von Konrad Lorenz. Er besagt, dass eine neue Ebene gleichsam blitzartig aus vorher so nicht verbundenen Teilen zusammenschließt“
51 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1977, S. 86ff
52 Dürr, Walter 1998, S.18
53 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1981, S. 35
54 Dürr, Walter 1998, S. 18
55 Dürr, Walter 2001, S. 7f
56 Dürr, Walter 2001, S. 8
57 Gudjons, Herbert 1995, S. 212
58 Von Weizsäcker, Carl Friedrich 1991, S. 35
59 Dürr, Walter 2001, S. 8
60 Von Weizsäcker, Ernst Ulrich 1986, S. 93f
61 Der Informationsbegriff wird von E. U. von Weizsäcker in seinem pragmatischen Sinn verstanden, d.h. die Information soll nicht nur sinnvoll, sondern auch wir- kungsvoll sein. Im Sinne von C.F. von Weizsäcker „Information ist, was Informa- tion erzeugt“.
62 Von Weizsäcker Ernst Ulrich 1986, S. 95
63 Von Weizsäcker, Ernst Ulrich 1986, S. 93ff /Von Weizsäcker, Christine /Von Weizsäcker, Ernst Ulrich 1984, S. 175ff
64 Dürr, Walter 2001, S. 7
65 Dürr, Walter 2001, S. 9
66 Dürr, Walter 2001, S. 6
67 Dürr, 2001, S.6
68 Siehe Anhang
69 Schröder, Helmut /Gilberg, Reiner 2005, S. 130
70 Siehe Anhang
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