Darstellung (Prüfung) und Beurteilung des EuGH Urteils vor dem Hintergrund der noch nicht erfolgten vollständigen Harmonisierung auf dem Gebiet Steuerrecht, Auswirkung auf und Vorschläge für die deutsche Organschaft, Folgen für Mitgliedstaaten (Rückwirkung, Verpflichtungen,...)
1
Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Budapest
Vergleichendes Staats- und Rechtswissenschaften
Magisterarbeit
Titel:
Das Urteil ,,Marks & Spencer", Rs. C-446/03
vom 13.12.2005-
Gemeinschaftsrechtskonforme Verrechnung
von Auslandsverlusten im Inland?
2
A.
Einleitung... 5
B.
Die Wirkung der Grundfreiheiten am Beispiel des Art. 43 i.V.m. 48 EGV ... 5
I. Das Steuerrecht außerhalb gemeinschaftsrechtlicher Kompetenz... 6
II. Art. 43 i.V.m. 48 EGV als umfassendes Beschränkungsverbot ... 7
1. Diskriminierungsverbote... 8
2. Beschränkungsverbote ... 8
3. Die Ausstrahlung der Grundfreiheiten auf mitgliedstaatliches Steuerrecht... 8
C.
Die Rechtssache Marks & Spencer ... 10
I. Sachverhaltsdarlegung ... 10
II. Vorlagefragen ... 11
III. Die Schlussanträge des Generalanwaltes Maduro vom 07.04.2005... 12
IV. Die Entscheidung des EuGH ... 13
1. Prüfung der Vereinbarkeit des ,,group relief" mit Art. 43 i.V.m. Art. 48 EGV ... 13
a) Eröffnung des Schutzbereiches ... 13
b) Eingriff in den Schutzbereich... 14
aa) Vertikaler Vergleich... 14
bb) kein horizontaler Vergleich ... 15
cc) Beschränkung der Grundfreiheit bei vertikaler Vergleichspaarbildung ... 16
c) Rechtfertigung des Eingriffes ... 17
aa) Anerkannte Rechtfertigungsgründe ... 17
(1) Ausdrücklich normierte Rechtfertigungsgründe ... 18
(2) Allgemeine Rechtfertigung von Beschränkungen ... 18
(3) Zwingende Gründe des Allgemeininteresses, insb. im Steuerrecht ... 18
- Haushaltsrisiken ... 19
- Wirksame steuerliche Kontrolle ... 19
- Territorialitätsgrundsatz ... 19
- Kohärenz des Steuersystems... 20
bb) Rechtfertigungserwägungen des Generalanwaltes ... 22
(1) Keine Rechtfertigung nach dem Territorialitätsprinzip ... 22
(2) Rechtfertigung nach dem Kohärenzgedanken... 23
cc) Die nicht weniger diskutablen Ausführungen des EuGH zur Rechtfertigung ... 26
(1) Vergleichbarkeit der Lage ... 26
(2) Zum Territorialitätsprinzip... 27
(3) Kohärenz des Steuersystems ... 28
(4) Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis ... 28
(5) Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung ... 30
(6) Verhinderung der Steuerflucht ... 30
(7) Die Summe aller Rechtfertigungsgründe ... 31
d) Verhältnismäßigkeitsprüfung... 31
e) Ergebnis ... 33
3
V. Gegenüberstellung der Anträge des Generalanwaltes und des Urteils des Gerichtshofs ... 33
D.
Würdigung der Entscheidung ... 35
I. Diskriminierung ... 35
II. Vergleichbarkeit der Lage ... 36
III. Rechtfertigungsgründe... 36
IV. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ... 38
E.
Bedeutung für die deutsche Organschaft und die Mitgliedstaaten ... 38
I. Bedeutung für die deutsche Organschaft ... 38
1. Ausschluss ausländischer Tochtergesellschaften als Organgesellschaft ... 39
2. Bildung von Vergleichspaaren... 39
3. Gewinnabführungsvertrag ... 39
a) Anwendungsvoraussetzung des Ergebnisabführungsvertrag für die Organschaft ... 40
b) Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht ... 40
4. Die Beschränkung ist nicht gerechtfertigt ... 40
a) Mangel an doppeltem Inlandsbezug ... 41
b) Mangel an einem Ergebnisabführungsvertrag... 41
5. Tochtergesellschaft mit statuarischem Sitz im EU-Ausland und Geschäftsleitung im Inland ... 42
6. Vorschläge zur Herstellung gemeinschaftskonformer Organschaftsregelungen... 42
a) Aufgabe der Organschaft an sich... 43
b) Schaffung einer Gruppenbesteuerung... 44
aa) Isolierte Verlustberücksichtigung nach österreichischem Vorbild ... 44
bb) Erfassung ausländischer Tochtergesellschaften nach dänischem Vorbild... 45
c) Wiedereinführung einer § 2 a Abs. 3 EStG a.F. vergleichbaren Nachversteuerungsregelung ... 45
II. Bedeutung für die Mitgliedstaaten... 46
1. Keine Begrenzung der Rückwirkung ... 46
2. Verpflichtung welches Mitgliedstaates ... 47
III. Fazit ... 48
1. Verlustberücksichtigung aus dem Blickwinkel der EU-Kommission ... 48
2. Die gegenwärtige Lage ... 49
F.
Zusammenstellung der wichtigsten Thesen ... 50
I. Die Grundfreiheiten strahlen aus in das nationale Steuerrecht... 50
II. Absage an den horizontalen Vergleich und damit Ablehnung des Gleichbehandlungsgebotes...47
III. Grundfreiheiten werden zu Zuständigkeitsregeln... 51
IV.Harmonisierungsvorbehalt trotz mangelnder Erforderlichkeit ... 51
V. Konsequenzen und Forderungen nicht nur für Deutschland ... 51
VI. Recht statt Politik? Der Integrationsmotor läuft langsamer... 52
4
Anhang... 50
5
Das Urteil ,,Marks & Spencer" Rs. C-446/03 vom 13.12.2005-
gemeinschaftsrechtskonforme Verrechnung von Auslandsverlusten im Inland?
A.
Einleitung
Selten zog ein steuerrechtlicher Vorlagefall solch großes internationales Interesse auf sich.
Insbesondere von den Finanzministern der EU-Staaten war das Urteil bereits im Vorfeld mit
sorgenvoller Spannung erwartet worden.
1
Streitgegenstand war die grenzüberschreitende Verlustanrechnung in der Rechtssache Marks &
Spencer.
2
Nach dem Urteil der EuGH-Richter, welches im Ergebnis, aber nicht zwingend mit den
genauen Schlussanträgen des Generalanwaltes Maduro übereinstimmt, müssen ausländische Verluste
der Tochtergesellschaften grundsätzlich nicht bei der in Großbritannien sitzenden inländischen
Muttergesellschaft angerechnet werden. Weist das Mutterunternehmen jedoch nach, dass für das
Tochterunternehmen im Ausland keine, auch keine zukünftige Verlustverrechnung möglich ist, so
muss eine Anrechnung gestattet werden.
Nach dem Überblick in Kapitel B über die mitgliedstaatliche Steuerrechtssouveränität, schließt sich ein
Systematisierungsversuch der grundfreiheitlichen Prüfung des Generalanwaltes sowie des
Gerichtshofs an.
Dem Verfahren war unter anderem auch Deutschland beigetreten war, da vergleichbare Regelungen
zum ,,group relief" im Rahmen der körperschaftsteuerlichen Organschaft existieren und deshalb zu
recht Auswirkungen auf das deutsche Rechtssystem befürchtet wurden. Die Konsequenzen dieser
Entscheidung auf die Organschaft werden daher in Kapitel E beleuchtet, weitere organschaftliche
Lösungsmöglichkeiten werden anschließend dem deutschen Gesetzgeber anhand gegeben. Die Arbeit
schließt unter F. mit der Zusammenschau ausgewählter Thesen ab.
B.
Die Wirkung der Grundfreiheiten am Beispiel des Art. 43 i.V.m. 48 EGV
1 (o.V.): EuGH kippt pauschales Verbot von Verlustanrechnung: in: Süddeutsche Zeitung, Wirtschaft, Steuerteil vom 13.12.2005
2
EuGH vom 13.12.2005, Rs. C-446/03, Marks & Spencer, BB 2006, 23, Heft 1
6
I.
Das Steuerrecht außerhalb gemeinschaftsrechtlicher Kompetenz
Das Scheitern der Europäischen Verfassung offenbart die Skepsis gegenüber dem europäischen
Integrationsvorgang. Das Problem der mangelnden Einigungsfähigkeit zeigt sich besonders auf dem
Gebiet des Steuerrechts. Direkte Besteuerung ist nach wie vor noch nationales Recht. Eine
Harmonisierung der direkten Besteuerung steht noch am Anfang.
3
Die Mitgliedstaaten haben sich
bislang nicht für die Aufgabe ihrer Steuerrechtssouveränität
im Wege der begrenzten
Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1, 7 Ab. 1 S. 2 EGV zugunsten der Gemeinschaft entschieden.
Da es an einer primärrechtlichen Kompetenzzuweisung fehlt, verbleibt es im Sinne des
Subsidiaritätsgedanken
4
im Grunde auch bei der Zuständigkeit des nationalen Steuergesetzgebers.
5
Bestätigt wird dies durch die primärrechtlichen Art. 90 ff. EGV, aus denen sich kein
Harmonisierungsauftrag für eine direkte Besteuerung ableiten lässt.
6
Nach wie vor gilt das Territorialitätsprinzip, wonach dem einzelnen Staat gestattet wird, die auf
seinem Territorium verwirklichten Tatbestände zu besteuern. Daher konnten auch die wesentlichen
systematischen und strukturellen Unterschiede zwischen den Steuersystemen der Mitgliedstaaten
nicht beseitigt werden.
7
Die grenzüberschreitende Verlustrechnung, um die es vorliegend geht, ist Ausgangspunkt für einige
Harmonisierungsüberlegungen
in der EU-Kommission bezüglich der Annäherung der
Bemessungsgrundlage oder der Gewinnermittlung von internationalen Konzernen.
8
Auch wegen der
wirtschaftlichen Bedeutung, namentlich der typischerweise in der Gründungsphase entstehenden
Anlaufverluste, hatte die Kommission bereits 1990 eine Richtlinie des Rates für Unternehmen zur
grenzüberschreitenden Berücksichtigung der Verluste ausländischer Betriebsstätten bzw.
Tochtergesellschaften präsentiert, die jedoch 2002 wieder zurückgezogen wurde und damit fruchtlos
blieb.
9
Außergemeinschaftliche Abkommen bestehen jedoch zuhauf, insbesondere in Form bilateraler
Abkommen, die auch zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern wirken.
Nichtsdestotrotz unterliegt die nationale Steuerrechtsordnung europarechtlichen Einflüssen.
Beispielsweise sollen zur Vermeidung innergemeinschaftlicher Doppelbesteuerungen die EU-Staaten
gemäß Art. 294 EGV untereinander Verhandlungen einleiten, sowie Diskriminierungen von
Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Beteiligung am Kapital von
Gesellschaften unterlassen, vgl. Art. 294 EGV.
3
EuGH vom 15.05.1997, Rs. C-250/95, Futura Participations SA und Singer, EUGHE 1997 I, 2471 (2502 f)
4
Art. 5 Abs. 2 EGV
5
sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 S. 2 EGV
6
im Gegensatz dazu aber Art. 94 EGV, der eine Harmonisierungsmöglichkeit zum Zwecke der Verwirklichung des
Binnenmarktes im Bereich indirekter Steuern vorsieht
7
Grellet-Weber, Europäisches Steuerrecht, S. 139
8
Mitteilung der EU-Kommission vom 24.11.2003 KOM (2003)726 endg.
9
Vorschlag der Eu-Kommission vom 06.12.1990, KOM (1990) 595 end.,
zurückgezogen durch KOM (2001) 763 endg./2. vom 21.12.2002, S. 20 ff; Saß, Der Betrieb 2006, 123 ff (123)
7
Trotz Art. 95 Abs. 2 EGV, der eine Rechtsangleichung für das Gebiet der Steuern ausdrücklich
ausschließt, sind doch kleinere Harmonisierungserfolge auf dem Gebiet der direkten Besteuerung im
Rahmen der Gewinnbesteuerung bei verbundenen Kapitalgesellschaften zu verzeichnen. Ferner
wurden zahlreiche Richtlinien, wie die Fusionsrichtlinie
10
oder die Mutter-Tochter-Richtlinie
11
erlassen,
die auf die Vermeidung von Doppelbesteuerungen und Gewinnrealisierung im Rahmen
grenzüberschreitender Tätigkeit abzielen. Hierzu sind zahlreiche Auslegungsentscheidungen des
Gerichtshofes ergangen.
12
In Zukunft kann ein weiteres Harmonisierungsvorhaben nur in begrenztem Maße auf Art. 94 EGV als
allgemeine Harmonisierungsvorschrift gestützt werden. Hierfür ist aber politische Konsultation und die
Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten Voraussetzung.
Die fehlende Einigungsbereitschaft der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer steuerrechtlichen Souveränität
ist zwar politisch bedauerlich, bedeutet jedoch tatsächlich und juristisch nicht den Stillstand auf dem
Weg zum Ziel eines steuerrechtlichen Binnenmarktes.
Eine weitere Annäherung wird über die sog. ,,stille" Harmonisierung des nationalen Steuerrechts
vorangetrieben. Die nationalen Regelungen müssen trotz mitgliedstaatlicher Souveränität mit dem
vorrangigen Gemeinschaftsrecht, speziell den Grundfreiheiten vereinbar sein. Ob dies der Fall ist,
obliegt der alleinigen Überprüfungskompetenz des EuGH. Indem er binnenmarkthindernde
Regelungen aufgreift und für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt, kann er über diesen Umweg eine
verbindliche Annäherung der mitgliedstaatlichen Steuersysteme erreichen.
II.
Art. 43 i.V.m. 48 EGV als umfassendes Beschränkungsverbot
Die Gemeinschaftsaufgabe ist der gemeinsame Markt, ein einheitlicher Wirtschaftsraum, innerhalb
dessen die Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr
beseitigt sind.
13
Freiheit, Demokratie, Menschrechte und die Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit
sind die Pfeiler, auf denen die EU steht. Den Grundfreiheiten kommt insoweit eine ganz spezielle
Bedeutung für die Schaffung des Gemeinsamen Marktes zu. Sie dienen der sog. negativen
Integration.
14
Diese bewirkt im Gegenteil zur positiven Integration mittels Rechtsharmonisierung,
dass gemeinschaftsrechtswidrige nationale Regeln ihre Geltung verlieren können.
Die Grundfreiheiten entfalten doppelte Wirkkraft, die sie nicht zuletzt der vorantreibenden
Rechtsprechung des EuGH zu verdanken haben.
15
Sie sind zum einen als Diskriminierungs- zum
anderen Beschränkungsverbote zu verstehen.
10
Fusionsrichtlinie 90/434/EWG vom 23.07.1990; Änderungsrichtlinie zur Fusionsrichtlinie vom 17.02.2005
11
Mutter-Tochter-Richtlinie 90/435/EWG vom 23.07.1990; Änderungsrichtlinie zur Mutter-Tochter-Richtlinie vom 22.12.2003
12
EuGH vom 28.01.1986, Rs. 270/83, Avoir fiscal, EuGHE 1986, 273;
EuGH vom 15.05.1997, Rs. C-250/95, Futura Participations and Singer, EuGHE 1997 I, 2471;
EuGH vom 18.09.2003, Rs. C-168/01, Bosal, EuGHE I 2003, 9409
13
Vgl. Art. 2 EGV
14
Grellet-Weber, Europäisches Steuerrecht, S. 43
15
Grellet-Weber, Europäisches Steuerrecht, S. 44
8
1.
Diskriminierungsverbote
Das Verbot der Diskriminierung bietet als Gleichbehandlungsgebot den Schutz vor
Ungleichbehandlung von In- und Ausländern innerhalb der EU. Auch mittelbare oder verdeckte
Diskriminierung ist verboten, die vorliegt, wenn der Grund für die Ungleichbehandlung zwar nicht
unmittelbar die Staatsangehörigkeit ist, sich jedoch auf Merkmale stützt, die sich nur auf eine
Staatsangehörigengruppe beziehen können.
16
Obwohl die steuerrechtlichen Regelungen stets einer
strikten Einzelfallprüfung unterzogen werden, liegen zumeist verdeckte mittelbare Diskriminierungen
in Form von staatlichen Gesetzen vor.
Daneben muss die Ungleichbehandlung nicht zwingend auf Ausländer abzielen. Auch Inländer können
diskriminiert werden, indem sie bspw. am Wegzug aus einem Mitgliedstaat behindert werden.
Liegt eine solche Zutrittsbehinderung zu einem nationalen Markt vor, so widerspricht die
mitgliedstaatliche Regelung dem Diskriminierungsverbot, sofern damit kein rechtmäßiges Ziel auf
verhältnismäßige Weise verfolgt wird.
17
Mit der Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen auf Verhältnismäßigkeit zeigt sich deutlich, wie
die Diskriminierungsverbote nationale (Steuer-)Vorschriften beschneiden können.
2.
Beschränkungsverbote
Als Beschränkungsverbote zielen die Grundfreiheiten auf die Verwirklichung des Gemeinsamen
Marktes als einheitliches Wirtschaftsgebiet ab. Als Freiheitsrecht gewährt das Beschränkungsverbot
den Schutz vor Eingriffen, die eine Behinderung bzw. Attraktivitätsminderung bei der Ausübung der
Grundfreiheiten bewirken.
18
Bereits 1988 hat der EuGH das Gleichbehandlungsgebot auch als Verbot
der Beschränkung ausgelegt.
19
Der Schutz bezieht sich auf die grenzüberschreitende Tätigkeit und die
damit verbundene ungehinderte Möglichkeit eines Ortswechsels zwischen den Mitgliedstaaten zwecks
wirtschaftlicher Betätigung.
20
3.
Die Ausstrahlung der Grundfreiheiten auf mitgliedstaatliches Steuerrecht
16
Grellet-Weber, Europäisches Steuerrecht, S. 45
17
Schön, DStJG 2000, 191 (209)
18
Grellet-Weber, Europäisches Steuerrecht, S. 45
19
EuGH vom 27.09.1988, Rs. 81/87, Daily mail, EuGHE 1988, 5483
20
EuGH vom 01.03.2005, C-152/03, Ritter-Coulais, IStR 2005, 237
9
Der EuGH hat ein sehr weites Verständnis der Grundfreiheiten. Sie sind unmittelbar geltendes Recht
und gehen den nationalen Vorschriften im Rang vor.
21
Die nationalen (Steuer-) Vorschriften müssen
daher denen des Gemeinschaftsrechts entsprechend. Dies gilt vornehmlich für die Grundfreiheiten, die
auf den Abbau faktischer und rechtlicher Grenzen des Binnenmarktes zum Zwecke seiner
Verwirklichung gerichtet sind.
22
Hier wirken die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und
Differenzierungsverbote. Sie sind der Maßstab für die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts.
23
Die
Diskriminierung kann offen, unmittelbar, formal oder rechtlich erfolgen, ebenso nur versteckt,
mittelbar, materiell oder faktisch wirken. Eine Ungleichbehandlung kann vorliegen, wenn ein sich auf
dem inländischen Markt bewegender EU-Ausländer schlechter behandelt wird als ein Inländer.
Ein Beispiel hierfür liefert der EuGH mit seiner Entscheidung Lankhorst-Hohorst aus dem Jahr 2002.
24
Dort bejahte der Gerichtshof die Ausländerdiskriminierung einer Tochtergesellschaft, da die erfolgten
Zinszahlungen an ihre Muttergesellschaft im EU-Ausland als verdeckte Gewinnausschüttung
behandelt, also nicht als steuerlich günstige Betriebsausgaben anerkannt wurden.
Sobald ein Bürger eines EU-Mitgliedsstaates an seinem Freizügigkeitsrecht behindert wird, indem er
davon abgehalten bzw. daran gehindert wird selbiges auszuüben, liegt eine Freiheitsbeschränkung
vor.
25
Seit jeher hat der EuGH die Auffassung vertreten, dass die EU-Grundfreiheiten, die ihrem
Wortlaut nach für die Behandlung im Gastland (Tätigkeits-/Quellenstaat) gelten
26
, sinn- und
zweckentsprechend auch dem eigenen Mitgliedstaat das Verbot auferlegt, seine Steuerpflichtigen bei
ihren Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten zu diskriminieren.
27
Damit sind spiegelbildlich zum
Schutz der Wirtschaftssubjekte innerhalb der EU alle Mitgliedstaaten zur Einhaltung der
Grundfreiheiten verpflichtet.
28
Indem der Gerichtshof nationales Recht am Maßstab der Grundfreiheiten auf Vereinbarkeit überprüft,
verfügt damit auch über die Reichweite der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung, den Grad der
Vereinheitlichung des Rechtsraumes und übt letztendlich Handlungsdruck auf die mitgliedstaatlichen
Parlamente aus.
Auswirkungen dieser Rechtsprechung finden sich in allen Rechtsgebieten. Aber besonders
einschneidend empfinden es die Mitgliedstaaten zweifelsohne, dass der EuGH sein
Grundfreiheitenverständnis auch im Steuerrecht anwendet. Denn die Vorstellung von einem
einheitlichen Wirtschafts- und Steuergebiet verträgt sich nur sehr schwer mit den mitgliedstaatlichen
Interessen an der Sicherung ihrer nationalen Besteuerungsansprüche auf ihrem Hoheitsgebiet.
29
Auf
dem Gebiet der direkten Besteuerung besteht kein Harmonisierungsauftrag. Obwohl die
Mitgliedstaaten auf ihre Steuerrechtssouveränität beharren und Richtlinien zur Angleichung der (auch
nur indirekten) Steuerrechtsvorschriften nur mit dem Einstimmigkeitsprinzip gemäß Art. 93 EGV
21
Herzig/Englisch/Wagner, Der Konzern 5/2005, S. 298 (300)
22
Art. 3 Abs. 1 lit. C, 14 Abs. 2 EGV
23
Englisch, StuW 2003, S. 88 (91)
24
EuGH vom 12.12.2002, C-324/00, Lankhorst-Hohorst GmbH, DB 2002, 2690
25
EuGH vom 12.12.2002, C-385/00,de Groot, DStR 2003, 150, Rz. 78
26
EuGH vom 28.01.1986, 270/83, Avoir fiscal, EuGHE 1986, 273
27
seit EuGH vom 27.09.1988, Rs. 81/87, Daily mail, EuGHE 1988, 5483
28
Herzig/Englisch/Wagner, Der Konzern 5/2005, S. 298 ff. (300)
29
Prof. Dr. Johanna Hey, S. 47 f
10
erlassen werden können, beschneidet der EuGH über sein Überprüfungsrecht, welches ihm jedoch
ursprünglich durch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 220 bzw. 234 EGV erteilt wurde, die Tragweite
nationaler Kompetenzen und stört damit nationale Interessen teilweise empfindlich.
Indem der Gerichtshof zunehmend die Grundfreiheiten des EG-Vertrages heranzieht, um von
nationalen Steuerregelungen ausgehende Beschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs
aufzuheben
30
, geht er den Weg der sog. negativen Integration. Während ,,positive Integration" vom
Erlass entsprechender Sekundärrechtsvorschriften im Gesetzgebungsverfahren und einer damit
verbundenen oftmals schwierigen Suche nach Mehrheiten bzw. vorliegend sogar nach einem Konsens
abhängig ist, ergibt sich die ,,negative Integration" unmittelbar aus der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes. Trotz vieler Stimmen kann ein Demokratiedefizit diesem Integrationsweg
letztendlich nicht vorgehalten werden. Haben doch alle Mitgliedstaaten die Geltung der
Grundfreiheiten im EG-Vertrag sowie deren Wahrung mittels der Überprüfungskompetenz des EuGH
vereinbart. Eine Bereichsausnahme für direkte Steuern gibt es nicht. Die fehlende Kompetenz zur
Harmonisierung ändert daran nichts. Auch für den EG-Vertrag gilt der Grundsatz ,,pacta sunt
servanda". Eine Änderung des Vertrages ist nur noch über den Weg des Art. 48 EUV möglich, aber
aufgrund des Konsenserfordernisses von mittlerweile 25 Mitgliedstaaten (die jeweils wiederum nach
Zustimmung im Parlament oder Volk zu suchen hätten), doch eher unwahrscheinlich.
Trotz verstärkter Bemühungen der Kommission um Harmonisierung des Steuerrechts der
Mitgliedstaaten im Wege positiver Integration ist es nach wie vor der Gerichtshof, der den
Binnenmarkt bei der Besteuerung tatkräftig voranbringt.
Er versteht sich selbst als Motor der Integration
31
, bleibt aber, da er durch seine Rechtsprechung
primär Einzelfallgerechtigkeit schaffen kann, im Hinblick auf mitgliedstaatlich aufeinander
abgestimmte Konzernbesteuerung immer hinter einer Harmonisierung über Richtlinien zurück.
C.
Die Rechtssache Marks & Spencer
I.
Sachverhaltsdarlegung
Die britische Einzelhandelskette Marks & Spencer hatte unter anderem Tochterunternehmen in
Belgien, Frankreich und Deutschland. Ab Mitte der neunziger Jahre fuhren diese erhebliche Verluste,
in Höhe von etwa 150 Millionen Euro ein. Ende des Jahres 2001 wurde die französische
Tochtergesellschaft verkauft; in Belgien und Deutschland wurde die Handelstätigkeit eingestellt.
Daraufhin beantragte Marks & Spencer bei der britischen Finanzbehörde, die entstandenen Verluste
gemäß der britischen Gruppenbesteuerung (sog. ,,group relief") bei der obersten Konzerngesellschaft
Marks & Spencer plc zur Verrechnung zuzulassen.
30
Herzig/Englisch/Wagner, Der Konzern 5/2005, S. 298 ff. (300)
31
Dürrschmidt/ Schiller, NZG 2006, 103 (105)
11
Entsprechend dem britischen ,,group relief" können Verluste einer Konzerngesellschaft auf eine andere
Gesellschaft desselben Konzerns übertragen werden. Jedoch ist innerhalb des ,,group
relief"
eine
Verlustberücksichtigung ausländischer Tochtergesellschaften nicht vorgesehen.
32
Gemäß Section 413
(3) a) ICTA 1988 werden zwei oder mehr Kapitalgesellschaften als eine Gruppe betrachtet, wenn eine
Gesellschaft an der oder den anderen Gesellschaft(en) zu mindestens 75 Prozent beteiligt ist oder
wenn die Unternehmen 75-prozentige Tochtergesellschaften eines dritten Unternehmens sind.
Die Verluste übertragende Gesellschaft verliert dadurch den Anspruch auf spätere Nutzung der
übertragenen Verluste für eigene Zwecke, d.h. auch die Möglichkeit des Vortrages des Verlustes in
spätere Steuerjahre.
Aus diesem Grund lehnte die britische Finanzbehörde die von Marks & Spencer beantragte
Berücksichtigung der Verluste bei der obersten Konzerngesellschaft Marks & Spencer plc ab, da die
ausländischen Firmen weder in Großbritannien ansässig noch wirtschaftlich tätig gewesen seien.
Die behördliche Entscheidung wurde zunächst erstinstanzlich bestätigt.
Erst in der Rechtsmittelinstanz legte der High Court of Justice (England & Wales) dem EuGH die Frage
vor, ob die Bestimmungen über den ,,group relief" im britischen Steuerrecht mit dem europäischen
Gemeinschaftsrecht vereinbar seien.
Quelle: BDI e.V. & Pricewaterhouse Coopers AG WPG: ,,Verlustberücksichtigung über die Grenzen hinweg"
II.
Vorlagefragen
32
Vgl. Section 402, 403 (1) und 413 (5) des ICTA (Income and Corporation Tax Act) von 1988
12
Der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, ersuchte den Gerichtshof um die
Vorabentscheidung hinsichtlich der folgenden Fragen:
Die erste Frage zielte darauf ab, ob eine Beschränkung in Bezug auf Art. 43 i.V.m. Art. 48 EGV
vorliege, wenn nach den Steuervorschriften des Vereinigten Königreiches (,,group relief") eine
ortsansässige Muttergesellschaft die Verluste, die ihre Tochtergesellschaften im EU-Ausland
erwirtschaftet hatten, nicht verrechnen dürfe, wenngleich eine Verrechnung von Verlusten einer im
Staat der Mutter ansässigen Tochtergesellschaft möglich wäre. Wenn ja, ob diese Beschränkung
gemeinschaftsrechtlich dann gerechtfertigt wäre.
Kurzum wollte der High Court wissen, ob das englische Steuerrecht den ,,group relief" auf inländische
Töchter beschränken darf oder diesen auch auf Tochtergesellschaften im EU-Ausland auszudehnen
habe.
Als zweites wurde die Frage gestellt, ob es für die Beantwortung der zuvor gestellten Frage einen
Unterschied machen würde, wenn die ausländische Tochter nach dort geltendem Recht die
Möglichkeit hat, im Mitgliedstaat ihrer Ansässigkeit Verluste mit Gewinnen zu verrechnen bzw. ob sich
am Ergebnis etwas ändern würde, wenn der Nachweis erbracht werden würde, dass tatsächlich in
ihrem Sitzstaat Verluste abgezogen worden sind und ob es gegebenenfalls von Bedeutung wäre,
wenn dieser Verlustabzug von einem Konzern vorgenommen würde an den die Konzerntochter
verkauft wurde und der zuvor nicht mit ihr verbunden war.
Sinn und Zweck dieser Frage war die Problematik des doppelten Verlustabzuges in beiden Staaten,
der möglich ist, indem ein Verlustvortrag bzw. Verlustrücktrag bei der ausländischen Tochter und
zugleich eine Verlustberücksichtigung bei der inländischen Konzernmutter stattfindet.
III. Die Schlussanträge des Generalanwaltes Maduro vom 07.04.2005
Der Generalanwalt Miguel Poiare Maduro unterbreitete dem EuGH seinen Entscheidungsvorschlag und
teilte in diesem grundsätzlich die Ansicht von Marks & Spencer, dass die Regelungen eines
Konzernabzuges, die einer Muttergesellschaft in keinem Fall erlaubt, die Verluste ihrer
Tochtergesellschaften mit Sitz im Ausland abzuziehen, mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar
seien:
,,Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen, die einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem
Mitgliedstaat das Recht auf einen Konzernabzug mit der Begründung versagt, dass ihre
Tochtergesellschaften ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben, während dieser Abzug gewährt
würde, wenn diese Tochtergesellschaften ihren Sitz im selben Mitgliedstaat hätten.
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